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Sie fuhren auf dem Rücksitz eines Taxis von der
Klinik nach Hause, Haregewoin hielt Atetegeb in den Armen. Sie bat
den Fahrer, ihr dabei zu helfen, die Kranke in ihr Schlafzimmer zu
bringen. Er zog fragend die Augenbrauen hoch. Die Angst vor
ansteckenden Krankheiten ist in tropischen und subtropischen
Ländern weit verbreitet. Den Bewohnern gemäßigter Klimazonen ist
nicht bewusst, in welchem Maß ihre Kulturen aus Stahl und Glas auf
dem Fundament alljährlicher Winter errichtet sind, während jene in
tropischen Zonen von ansteckenden Parasiten, Viren, Insekten und
Bakterien heimgesucht werden, die niemals von Eis und Kälte
zurückgedrängt werden. Hatte die sterbende Frau Tuberkulose,
Malaria, Masern, Kinderlähmung, Hepatitis, die Schlafkrankheit,
Bilharziose (Flussblindheit), die grässliche neue Form von
Auszehrung, die die Leute aminmina (mager) nannten?
»Krebs«, erklärte Haregewoin ihm.
In dieser Nacht rief sie Ashiber an. »Sie stirbt.
Das ist das Ende.« Vielleicht hatte er Angst um seine eigene
Gesundheit, jedenfalls ließ er sich nicht blicken.
»Ich habe dich so lieb«, sagte Haregewoin zu
Atetegeb. Sie hatte sie warm eingepackt. Ihr Blick fiel auf das
leere Fensterbrett, auf das sie am nächsten Tag Blumentöpfe stellen
wollte. »Du bedeutest mir so viel.«
»Ich habe dich auch lieb«, murmelte Atetegeb.
In der Nacht wurde Haregewoin von dem Keuchen wach
gehalten, mit dem die junge Frau im Bett neben ihr um Atem rang.
Worku hat Glück gehabt, dachte sie. Atetegeb hatte fast
keine Haare mehr, ihr Gesicht war von Ausschlag entstellt, ihre
Lippen waren aufgesprungen, die Augen blind, aber für Haregewoin
war sie immer noch schön. »Mein armes Kind«, sagte sie leise und
zog Atetegeb, die nichts davon spürte, in der Dunkelheit an sich.
Das Leben ihrer Tochter war jetzt so zerbrechlich und schwach wie
das eines zu früh geborenen Kindes. In den letzten Stunden mit
Atetegeb hatte Haregewoin dieselben Empfindungen wie in den ersten
Stunden mit der neugeborenen Atetegeb: die durch Schlafmangel
hervorgerufene Verwirrtheit, das Glück intensiver Nähe, sich nachts
in ein Bett zu legen, wo ein warmer kleiner Körper auf sie
wartete.
»Lebe«, flüsterte die Mutter ihr ins Ohr, während
Atetegeb immer wieder das Bewusstsein verlor.
Haregewoin zog den abgemagerten, knochigen Körper
ihrer Tochter an sich, wickelte die Decke um sie und wiegte sie
sanft hin und her, summte unter Tränen ein Schlaflied. Es war, als
versuche man, auf einem windumtosten Berggipfel eine Flamme am
Brennen zu halten, wenn alle Kräfte der Natur sich gegen einen
verbündeten. »Atetegeb«, flüsterte sie. Aber die Gelenke gaben
nach, die Muskeln wurden schlaff, und die schwache Lebensflamme
erlosch.
Es war April 1998.
Ashiber kam.
»Ich werde meine Frau begraben«, bot er an.
»Nimm sie«, sagte Haregewoin schluchzend.
Ihre Trauer um Worku war im Vergleich zu dem, was
sie jetzt durchlebte, etwas völlig Normales gewesen.
Haregewoin lief mit steifen Schritten und irrem
Blick durch die Zimmer ihres kleinen Hauses, ungekämmt, nur halb
angezogen, einen schrecklichen Ausdruck im Gesicht. Bei der
Beerdigung schrie sie und grub sich die Fingernägel in die Wangen.
Suzie, die nach Hause geflogen war, fuhr Haregewoin zu ihrem
kleinen Haus und versuchte, sie ins Bett zu legen, aber ihre Mutter
war einige Tage lang nicht bei Sinnen. Die Tränen hatten ihren
Blick glasig gemacht, sie sah jeden, der mit ihr sprach,
verständnislos an. Sie war so lange nicht von der Seite ihrer
Tochter gewichen, die an der Grenze zum Tod gestanden hatte - es
war erstaunlich, dass Atetegeb eine Stelle zum Durchschlüpfen
gefunden und sie allein zurückgelassen hatte.
Suzie war vor Kummer ebenfalls wie gelähmt. »Sie
war meine Schwester, meine beste Freundin«, sagte sie zu den
Besuchern, sackte zusammen und schüttelte den Kopf, so dass ihr die
Haare ins Gesicht fielen; sie hatte sonst niemandem etwas zu sagen
außer ihrer Mutter.
Haregewoin saß am Fenster und starrte hinaus auf
die Büsche. Eine Krähe, ein Schmetterling, selbst eine Grille besaß
die geheime Rezeptur für das Elixier des Lebens, das sie ihrer
Tochter nicht hatte bereiten können. Sie brachte es kaum mehr über
sich, eine Ameise zu zertreten, weil sie wusste, dass der winzige
Organismus etwas war, was die besten Wissenschaftler nicht bauen,
die herausragendsten Ärzte nicht wieder heilen konnten. Sie war
erschöpft von der Anstrengung, für ihre Tochter etwas zu bewahren,
was sogar für einen Wurm selbstverständlich war: das Geschenk,
einen neuen Tag zu erleben.
Am schmerzlichsten war es, zu sehen, wie gesegnet
alle anderen Mütter waren. Sie hielten ihre Töchter am Leben,
während sie zu ihrer unendlichen Beschämung genau darin, dem
Allerwichtigsten, versagt hatte.
Alte Freunde, Kollegen, Nachbarn und die Familien
von Workus Schülern brachten ihr dampfende Eintöpfe, die nach
berbere (ein Gewürz aus rotem Chili und Pfeffer), grünem
Paprika und Zwiebeln dufteten. »Haregewoin!«, riefen sie, küssten
sie auf beide Wangen, wollten, dass sie ihnen in die Augen sah, ihr
Essen aß, ihnen sagte, was sie jetzt vorhatte.
»Meine Tochter«, klagte sie, zu beschämt, um sie
anzusehen.