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Ich verbrachte den restlichen Tag in meinem Büro, erledigte Papierkram (unzählige Unterschriften), empfing Bürger (unzählige Beschwichtigungen), tätigte Anrufe und nahm welche entgegen (unzählige Kopfschmerzen).

Joyce kam und ging so oft, dass ich den Überblick verlor, wann sie gerade da war und wann nicht. Ich fragte mich, wohin sie ging, wenn sie ging, bekam aber nie die Chance, mich danach zu erkundigen.

Ebenso wenig wie ich die Chance auf eine Mittagspause bekam. Als Grace gegen Abend auftauchte, begrüßte ich sie deshalb mit einem erleichterten Seufzen – bis sie zu sprechen anfing.

„Wie ich höre, hast du heute Morgen auf der Center Street ein wenig mit Malachi Nennen-Sie-mich-Mal Cartwright geplaudert.“

Ich ließ meinen Füller fallen. „Wer hat dir das gesagt?“

Sie hob verächtlich eine Braue. „Was glaubst du wohl?“

„Monahan.“ Er war mir zwar nicht aufgefallen, allerdings hatte man von der Zeitungsredaktion aus eine nette Aussicht auf die Hauptstraße.

Grace setzte sich. „Er ist ein Mistkerl, daran besteht kein Zweifel. Mir ist zudem zu Ohren gekommen, dass du gestern Abend mit beiden Männern ein Pläuschchen vor deinem Haus hattest.“

„Pscht! Ist hier denn gar nichts privat?“

Sie lachte. „Du machst Witze, oder?“

Das tat ich nicht, aber ich wusste, was sie meinte. Kleinstädte lebten von Gerüchten – einerseits ein Segen, weil die Menschen dadurch selten mit irgendeiner Untat davonkamen, andererseits ein Fluch für die, die es versuchten.

„Bist du hier, um mir die Hölle heißzumachen?“, fragte ich. „Falls ja, musst du dich hinten anstellen.“

„Harter Tag?“

„Nicht härter als jeder andere.“ Ich schob eine lockere Haarklammer zurück in meinen Knoten und japste, als sie in meine Kopfhaut stach.

„Ich wollte dich schon die ganze Zeit fragen, warum du den Job überhaupt angenommen hast.“

„Weil es mir zu dem Zeitpunkt richtig erschien.“

„Nicht gerade das überzeugendste Motiv für eine lebensverändernde Entscheidung.“

„Ich weiß.“

„Du musst nicht bleiben.“

Sie hatte recht, aber wohin sollte ich gehen? Zurück nach Atlanta?

Ich unterdrückte ein Frösteln. Niemals.

„Balthazar würde deinen Posten liebend gern übernehmen.“

„Nicht in diesem Leben.“

Der Saftsack hatte mein Konkurrenzdenken wachgekitzelt. Ich hatte das Amt nicht gewollt, als ich es annahm; Bürgermeisterin zu sein, hatte mich nie gereizt. Doch plötzlich wollte ich nicht, dass er es bekam, selbst wenn das zur Folge hatte, dass ich hier festsaß. Irgendwie kam es mir inzwischen gar nicht mehr so übel vor, hier festzusitzen.

„Das ist es, was ich von einer Bürgermeisterin hören will.“ Grace schlug sich mit den Händen auf die Knie und stand auf. „Und jetzt müssen wir an den See fahren.“

„Was haben sie nun wieder angestellt?“, fragte ich, der freudigen Erwartung, die mein Herz aus dem Takt brachte, zum Trotz.

„Ich sagte nicht, dass wir mit den Zigeunern reden werden. Diese hoffnungsvolle Schlussfolgerung ist allein auf deinem Mist gewachsen.“

„Weshalb fahren wir dann dorthin? Und warum muss ich mitkommen?“

„Ein Tourist ist gestern Abend bei Dämmerung über den Seeuferpfad gewandert und dabei einem Wolf begegnet.“

„Das ist unmöglich“, entfuhr es mir, obwohl ich im selben Moment wieder dieses lange, tiefe Heulen, das zum Mond hochstieg, zu hören glaubte.

„Ich weiß das, und du weißt das, aber erklär das dem Typen aus Topeka. Er glaubt mir nicht. Kann ich ihm in Anbetracht seiner blutigen Kehle auch nicht verdenken.“

Ich stieß mich so kraftvoll vom Tisch ab, dass mein Arbeitsstuhl weiterrollte und gegen die Wand prallte. „Er wurde attackiert?“

„Ein Wolf.“ Sie hielt einen Finger in die Luft. „Und ein Urlauber.“ Sie hielt einen zweiten hoch und legte beide aneinander. „Keine gute Kombination.“

„Wo ist er?“

„Im Krankenhaus. Wo sonst? Er wurde genäht, verbunden und mit Antibiotika vollgepumpt, aber wir müssen diesen Wolf aufspüren, denn sonst braucht er zusätzlich eine Tollwutimpfung.“

„Und wie bitte sollen wir in den Blue Ridge Mountains einen Wolf finden? Die Gegend ist nicht gerade überschaubar.“

Die Gebirgskette begann als schmaler Streifen in Pennsylvania, der sich dann quer durch Maryland, Virginia und die beiden Carolinas bis nach Georgia zog. Obwohl sie in den nördlichen Regionen eine Breite von nur ein paar Kilometern maß, erreichte sie, kaum dass sie an unsere Staatsgrenze stieß, in manchen Gebieten eine Ausdehnung von bis zu hundert Kilometern.

„Der Tourist war kein kompletter Trottel. Er hatte eine Schusswaffe dabei. Behauptet, das Tier getroffen zu haben. Ich sollte es also ohne allzu große Umstände aufspüren können.“

Ich bezweifelte nicht, dass ihr das gelingen würde. Grace hatte die Kunst des Fährtenlesens noch vor dem Kindergarten erlernt und war seither immer besser darin geworden.

„Ich verstehe trotzdem nicht, wozu du mich brauchst.“ Nicht, dass ich sie ohne mich hätte fahren lassen, aber ich war neugierig.

„Wir haben versäumt, über die erste Seite des Vertrags mit den Zigeunern hinauszulesen. Auf der zweiten Seite wird ihnen für die Dauer ihres Aufenthalts ein zeitlich befristetes Besitzrecht am See zugestanden.“

Meine Augen wurden schmal. „Joyce!“, bellte ich.

„Spar dir den Atem. Sie ist weg.“

Die Frau war nie da, wenn man sie brauchte. Ich musste herausfinden, woran das lag.

„Was zum Kuckuck bedeutet zeitlich befristetes Besitzrecht?“

„Sie genießen die Rechte von Eigentümern, solange sie hier gastieren. Mit anderen Worten machen wir uns wegen unerlaubten Betretens strafbar, wenn wir dort nach dem Wolf suchen. Ich habe weder Zeit noch Lust, mir einen Durchsuchungsbefehl zu besorgen. Nur leider haben sie extra darauf hingewiesen, dass sie Außenstehende bis zum Eröffnungsabend nirgendwo in der Nähe ‚ihres Landes‘ “ – sie zeichnete mit den Zeigefingern Anführungszeichen in die Luft – „… haben wollen.“

„Das stinkt zum Himmel.“

„Ganz genau.“

„Trotzdem verstehe ich noch immer nicht, wofür du mich brauchst.“

„Cartwright scheint sich für dich zu interessieren.“

„Du willst, dass ich ihn für dich um Erlaubnis bitte, dort suchen zu dürfen?“

Sie zuckte die Achseln. „Entweder das, oder du lenkst ihn ab, während ich es tue.“

Ich zwinkerte ihr zu. „Es ist immer gut, einen Plan zu haben.“

„Ich habe letzte Nacht etwas Komisches gehört“, begann ich, als Grace uns in einem nicht gekennzeichneten Streifenwagen an den See beförderte.

„Haha-komisch oder seltsam-komisch?“

„Definitiv nicht haha“, antwortete ich. „Ein Heulen. Aber es war kein Kojote, zumindest nicht beim ersten Mal. Die Kojoten kamen erst später.“

„Soll davon irgendetwas Sinn ergeben?“

Rasch erzählte ich ihr, was letzten Abend passiert war; dabei ließ ich nichts aus, abgesehen von der plötzlichen und überwältigenden Anziehungskraft, die Cartwright auf mich ausgeübt hatte. Dieses Detail war nicht relevant.

„Könnte ein Hund gewesen sein“, murmelte sie. „Verdammt, wahrscheinlich steckt auch hinter unserem angeblichen Wolf ein Hund.“

„Wie kommst du darauf?“

„Lassen wir mal außer Betracht, dass in diesen Bergen schon seit Urzeiten keine Wölfe mehr leben, dann gibt es immer noch keinen einzigen dokumentierten Fall von einer Wolfsattacke auf einen Menschen, ohne dass das Tier am Verhungern, tollwütig oder ein Wolf-Hund-Mischling gewesen wäre.“

„Hast du dir unsere Trivial-Pursuit-Karten mal wieder vorgeknöpft?“

„Wozu die Mühe, schließlich warst du ja nicht hier, um dich von mir schlagen zu lassen.“

„Jetzt bin ich hier.“

„Du wirst nicht bleiben.“

Ich runzelte die Stirn. „Warum sagst du das ständig?“

„Du bist nicht dafür gemacht, in Lake Bluff zu versauern, Claire. Du gehörst in die Fifth Avenue.“

Ich schaute aus dem Fenster, wo hinter den Bergen die Sonne unterging und rote, orange- und pinkfarbene Streifen auf Gottes Große Blaue Berge malte.

„Ich mochte die Fifth Avenue nie.“

„Wirklich nie?“

„Na ja, vielleicht ganz am Anfang. Ich hab dort ein paar wirklich tolle Schuhe entdeckt.“

„Schuhe“, schnaubte Grace. „Du bist so ein Mädchen.“

„Du sagst das, als ob das etwas Schlechtes wäre.“

„Kann schon sein.“ Sie musterte mich mit einer Mischung aus Sympathie und Verständnis, die mich rätseln ließ, ob sie das Gedankenlesen wohl von ihrer Urgroßmutter geerbt hatte.

Ich verdrehte im Geist die Augen. Gedankenlesen war ebenso unrealistisch wie Hellseherei und glücklich endende Liebesgeschichten.

Sekunden später hielten wir vor dem Camp und stiegen aus dem Auto. Die Planwagen wirkten so verlassen wie das Land, das sie umgab. Die Feuerstellen waren mit frischen Kohlen abgedeckt, was auf eine baldige Rückkehr schließen ließ, doch im Moment schien weit und breit keine Menschenseele zu sein.

„Warte hier, für den Fall, dass jemand zurückkommt“, wies Grace mich an und machte ein paar Schritte auf den Waldrand zu.

„Und was dann?“

„Halte sie hin. Ich werde nicht lange brauchen.“

Bevor ich Einwände erheben konnte, trat sie zwischen zwei Kiefern und verschwand in der zunehmenden Dämmerung.

Ich war noch keine zwei Minuten allein, als mich die Unruhe packte. Wo waren all die Menschen hingegangen? Wann würden sie zurückkommen? Was würden sie denken, wenn sie mich hier vorfänden? Was würden sie tun?

Um mich abzulenken, wanderte ich durch das Camp und sah mir die Planwagen an. Mit ihren Darstellungen von Feuer, Mond und Sternen, die die meisten zierten, waren sie wahre Prachtexemplare der Schnitz- und Malkunst.

Ich erreichte den letzten der kreisförmig angeordneten Wagen. Jenseits davon befanden sich die Tierkäfige, deren Gitter in die andere Richtung zeigten. Vielleicht, damit ihre Insassen den Blick auf einen Wald genießen konnten, den sie nie würden durchstreifen dürfen.

Während meiner Erkundungstour war die Sonne untergegangen, und auf dem Land lagen nun spinnenbeinartige Schatten. Der westliche Horizont spendete noch genügend Licht, dass es auf der Lichtung nicht vollständig dunkel war, doch das würde sich bald ändern.

Gleichzeitig gespannt und ein wenig ängstlich, was ich vorfinden würde, hielt ich auf den ersten der Käfige zu.

„Womöglich Löwen, Tiger und Bären.“ Aber solche Tiere würden sie doch nicht mit auf Wanderschaft nehmen, oder?

Mit einem erwartungsvollen Kribbeln im Bauch lugte ich um die Ecke.

Der Käfig war leer.