27

Ich zog in Betracht, das Klingeln einfach zu ignorieren, aber es war so früh, dass es etwas Wichtiges sein musste.

„Ich bin gleich wieder da.“ Ich zog meinen Morgenmantel über, während ich die Treppe hinunterhastete.

Oprah strich um den Treppenpfosten und schnurrte dabei so laut, dass der Fußboden zu vibrieren schien. Sie hatte sich schon nicht mehr so sehr gefreut, mich zu sehen, seit einer Ewigkeit.

Ich linste durch den Spion und erkannte den wahren Grund für Oprahs Euphorie. Grace stand auf der Veranda.

„Claire?“, rief sie. „Ich weiß, dass du da bist.“

Ich runzelte die Stirn. Wie konnte sie das wissen?

„Deine Treppe knarzt“, erklärte sie, „außerdem kann man deinen Schatten im Spion sehen. Übrigens solltest du dieses Fenster “ – sie klopfte gegen die von einer dünnen Gardine verhangene Scheibe neben der Tür – „… mattieren lassen.“

Ich machte auf.

Sie musterte mich von oben bis unten. „Habe ich dich geweckt?“

„Wie spät ist es?“

„Sechs Uhr morgens.“

Ich rieb mir die Stirn. „Was ist in dich gefahren?“

„Entschuldigung.“ Sie hob Oprah auf, die sich aufmerksamkeitheischend um ihre Knöchel wand. Die Katze rieb ihre Nase an der von Grace.

„Was läuft da zwischen dir und dieser Katze?“, fragte ich.

„Wir sind Seelenverwandte.“ Grace zwängte sich an mir vorbei ins Haus.

„Was gibt es so Wichtiges, dass du um diese gottlose Zeit an meiner Tür klingelst?“

„Balthazar wird immer noch vermisst.“

„Hoffentlich bleibt das auch so.“

Grace setzte Oprah ab. „Du musst aufpassen, was du sagst.“

„Das war ein Witz. Außerdem hast du gestern fast das Gleiche gesagt.“

„Ich weiß. Aber

„Aber was? Du bist die Königin des Haha-Sarkasmus, also kann ich es nicht auch sein?“

„Die Leute auf deiner Hassliste verschwinden einer nach dem anderen spurlos, Claire. Erst Josh und jetzt Balthazar.“

„Und du denkst, dass ich sie zum Verschwinden bringe?“

„Nein.“

„Was dann?“

„Hast du Cartwright gesehen.“

Ich gab mein Bestes, mich nicht zu verraten, indem ich nach oben sah. „Warum?“

Grace machte tief in ihrer Kehle ein frustriertes Geräusch. „Was glaubst du? Er hatte mit beiden Männern eine Auseinandersetzung, bevor sie verschwanden. Ich muss mit ihm sprechen. Ich bin zum See gefahren, aber er war nicht dort.“ Sie schaute missmutig drein. „Obwohl man sich bei diesen Leuten nie sicher sein kann. Sie könnten ihn decken. Die Polizei macht sie nervös.“

„Wahrscheinlich aus gutem Grund.“

„Das bestreite ich ja gar nicht, aber sie machen mir das Leben schwer. Womit sie nur erreichen, dass ich es ihnen mit gleicher Münze heimzahlen möchte.“

Die Treppe knarrte. Malachi stand vollständig bekleidet auf der obersten Stufe. Aber da sein Haar zerzaust und sein Hemd zerknittert war und er offensichtlich gerade aus meinem Schlafzimmer kam, fiel das nicht wirklich ins Gewicht.

Grace sah mich stoisch an. „Hättest du es mir gesagt?“

Ich zuckte die Achseln. „Keine Ahnung, was ich getan hätte.“

„Was haben Sie gehört?“, fragte sie barsch, als Malachi die Treppe hinunterkam.

„Alles.“

„Ich muss Sie bitten, mich aufs Revier zu begleiten.“

„Grace “, setzte ich an.

Sie hob die Hand. „Ich weiß, was ich tue. Es wird weder ihm noch dir helfen, wenn du ihm in diesem Stadium Sonderprivilegien einräumst.“

„Ich? Hatten wir uns nicht darauf geeinigt, dass ich mit dieser Sache nichts zu tun habe?“

„Wir hatten uns darauf geeinigt, dass ich nicht glaube, dass du etwas mit der Sache zu tun hast. Aber das war, bevor ich wusste, dass du Versteck-die-Salami mit dem Hauptverdächtigen spielst.“

„Soll heißen?“

„Männer, die dir, körperlich wie beruflich, Schaden zugefügt haben, sind wie vom Erdboden verschluckt.“

Sie artikulierte das langsam, damit ich mitkam, aber es gelang mir nicht.

„Hast du ihn dazu angestiftet?“, fragte sie.

„Was, mit mir zu schlafen?“

„Diese Typen verschwinden zu lassen.“

„Was? Nein! Warum sollte ich so etwas tun?“

„Du wolltest nicht, dass Josh verschwindet?“

Ich öffnete den Mund, dann klappte ich ihn wieder zu. Hatte ich das irgendwann mal zu ihr gesagt? Ich erinnerte mich nicht.

Ich jedenfalls wollte es“, erklärte sie.

„Dann verdächtige dich doch selbst. Ich hatte die Dinge im Griff. Ich brauchte von niemandem Hilfe, und ganz sicher brauchte ich niemanden, damit er für mich tötet.“

Sie zog ihre perfekt geschwungenen Augenbrauen hoch. „Wer hat denn etwas von töten gesagt?“

Eine halbe Stunde später betraten wir zu dritt die Polizeiwache. Ich hatte darauf bestanden mitzukommen, und Grace hatte keine Einwände erhoben. Mein Bauchgefühl sagte mir, dass ich im Verhörzimmer landen würde, sobald sie mit Malachi fertig war.

Ich schaute auf die Armbanduhr. Falls sie je mit ihm fertig werden würde.

Ich hatte Joyce die Nachricht hinterlassen, dass ich auf der Polizeiwache sei und sie mich nur in Notfällen kontaktieren solle. Bisher war keiner eingetreten, allerdings hatte ich nicht viel Hoffnung, dass das den Tag über so bleiben würde.

Endlich ging die Tür des Verhörraums auf, und Grace kam heraus. Sie winkte einen ihrer Beamten zu sich, und er schlüpfte in das Zimmer. Anschließend richtete sie den Blick auf mich. Ich wusste sofort, dass etwas nicht stimmte.

„Was ist los?“

„Man hat eine Leiche gefunden.“

Ich hatte erwartet, dass sie sagen würde, Malachi habe gestanden. Aber weshalb hatte ich das erwartet? Schließlich glaubte ich nicht, dass er ein Mörder war.

Andererseits hatte ich mir die Wartezeit damit vertrieben, wieder und wieder Malachis Gesichtsausdruck zu rekapitulieren, bevor er Josh den Schlag auf die Nase versetzt hatte. Er hatte einen mörderischen Blick. Dann war er Josh gefolgt, und seither hatte niemand mehr den Mann gesehen.

Was Balthazar Monahan betraf, war auch der seit einem heftigen Streit mit Malachi verschollen. Zwar war Balthazar in den Wald gegangen, um Grace nachzuspionieren – wenigstens hatte sein Untergebener das behauptet –, aber die Jäger ihres Suchtrupps würden ihr ein Alibi geben. Falls Balthazar sie auf die Palme gebracht und sie ihm eins übergebraten hatte, würde es jemand mitbekommen haben.

Mein Gehirn spulte immer wieder die Worte ab, die Malachi zu den beiden Männern gesagt hatte – bedrohliche Worte, wenn man sie aus einem bestimmten Blickwinkel betrachtete. Ebenso gut erinnerte ich mich an Malachis Versprechen, dass mir nie wieder jemand wehtun würde. War das Wunschdenken, oder hatte er es mit Sicherheit gewusst?

Ich schüttelte den Kopf, um diese ungestümen, unproduktiven Gedanken zu verscheuchen.

„Wen haben sie gefunden?“, hakte ich nach.

„Das werden wir feststellen.“

„Wir?“

„Es stehen drei Personen auf meiner Vermisstenliste.“ Grace streckte einen Finger in die Luft. „Der wanderfreudige Urlauber.“ Sie hielt den zweiten hoch. „Josh Logan.“ Den dritten. „Balthazar Monahan.“

„Und?“

„Unser Notfalldienst würde Balthazar erkennen. Womit nur Josh und unser gebissener Tourist, Ryan Freestone, bleiben. Ich würde auf Letzteren tippen. Aber falls es doch Josh sein sollte, will ich, dass du ihn identifizierst.

„Spitzenidee“, murmelte ich, bevor ich ihr über den Parkplatz zum Bestattungsinstitut folgte.

Die Leichenhalle des Krankenhauses verfügte nicht über die entsprechenden Isolationsmöglichkeiten, die erforderlich waren, um Beweise zu sichern, weswegen das Bestattungsinstitut gleichzeitig als forensisches Labor fungierte.

„Hast du Bradleyville verständigt?“, erkundigte ich mich.

Lake Bluff teilte sich einen Gerichtsmediziner mit der nächstgelegenen Stadt. Keine benötigte für sich allein einen Vollzeitspezialisten dieses Kalibers.

„Jemand hat vom Tatort aus angerufen. Der Doktor war schon dort und ist jetzt auf dem Weg hierher.“

„Wo wurde die Leiche entdeckt?“

„In einer Schlucht nahe Brasstown Bald.“

Brasstown Bald war der höchste Gipfel in dieser Region. Zufall oder nicht, er gehörte zu einem größeren Gebirgszug namens Wolfspen Ridge.

„Wer hat sie gefunden?“

„Wanderer.“

Ein anderer von Grace’ Beamten hielt Wache an der Tür – eine Standardprozedur in einem Fall wie diesem. Wenngleich ich mich nicht entsinnen konnte, wann es in Lake Bluff zuletzt einen unerklärbaren Todesfall, geschweige denn einen Mord gegeben hatte.

„Hast du je zuvor mit einem zweifelhaften Todesfall zu tun gehabt?“, fragte ich.

Grace warf mir einen überheblichen Blick zu. „Ich bin mehr als qualifiziert für das hier, Ma’am.“

„Willst du damit andeuten, dass ich es nicht bin?“

„Du bist eine gottverdammte Verdächtige!“

„Du warst diejenige, die wollte, dass ich mitkomme. Falls ich den Mann ermordet oder jemanden dazu angestiftet hätte, dürfte ich vermutlich gar nicht hier sein.“

Grace blieb stehen. „Verdammt!“

„Oh ja.“ Ich stieß die Tür zu dem provisorischen Labor auf. „Wirklich mehr als qualifiziert.“

Bevor sie mich daran hindern konnte, trat ich schon zu dem von einer Plane verhüllten Leichnam in der Mitte des Raums und zog sie weg. Es war tatsächlich Josh. Obwohl ich keine Ahnung hatte, wie ich das bei all dem Blut überhaupt erkennen konnte.

Ich taumelte zurück. Grace war augenblicklich zur Stelle. Sie zog die Plane über den Körper, dann schob sie einen Stuhl zwischen meine Beine und meinen Kopf zwischen meine Knie.

„Weichei“, murmelte sie mit gerade genug Nachdruck, dass es eine Beleidigung war.

Selbst Weichei“, konterte ich lahm.

„Ich falle nicht in Ohnmacht, sobald ich Blut sehe.“

„Ich bin nicht in Ohnmacht gefallen.“

„Aber fast“, erwiderte sie, als hinter uns die Tür aufging.

„Doktor“, begrüßte Grace ihn. „Danke fürs Kommen!“

Ich richtete mich auf und blinzelte gegen die schwarzen Flecken vor meinen Augen an, die ineinanderzufließen und mir das Licht auszuknipsen drohten.

Der Gerichtsmediziner aus Bradleyville, Dr. William Cavet oder Doc Bill, für alle, die ihn kannten , praktizierte schon seit über fünfzig Jahren Medizin. Er hatte den Großteil davon als Hausarzt gearbeitet – in den guten, alten Zeiten, als man sie noch so nannte. Kurz nachdem aus Hausärzten Allgemeinärzte geworden waren und das Gesundheitswesen kollabiert war, hatte man ihn zum Gerichtsmediziner berufen.

„Geht es Ihnen gut?“ Er sah mich unter seinen buschigen Augenbrauen, die an wollige Raupen erinnerten, forschend an.

Mir war von dem grausigen Anblick und meiner emotionalen Zerrissenheit schwindlig. Ich hatte Joshs Tod gewollt, ihn herbeigesehnt, aber jetzt, da er eingetreten war, wusste ich nicht, was ich fühlte.

„Ja.“ Ich schluckte hörbar, als Doc Bill ohne weitere Umschweife zu der Plane marschierte und sie entfernte.

„Ich war am Tatort.“ Er verschwendete keine Zeit. Was einer der vielen Gründe war, warum ich ihn mochte. „Der Leichnam wurde an den Rand der Schlucht gezerrt und in die Tiefe gestürzt.“

„Ich werde deinen Freund festnehmen müssen“, raunte Grace mir zu.

„Das wird das Festival ruinieren.“

„Ich kann keinen Mörder frei herumlaufen lassen, nur damit die Show weitergeht.“

„Lake Bluff braucht das Geld.“

„Denken Sie je über etwas anderes nach, Bürgermeisterin?“

„Man hat mich extra dafür angeheuert, darüber nachzudenken, Sheriff.“

„Kinder, könnt ihr das nicht auf später verschieben?“

Grace und ich gaben keine Antwort, sondern starrten uns weiter finster an.

Doc Bill zog sich Einmalhandschuhe über, dann machte er sich daran, Joshs leblosen Körper abzutasten. Bald darauf waren die Handschuhe blutbefleckt, und ich musste den Kopf wegdrehen.

„Es besteht kein Anlass, irgendjemanden festzunehmen.“

„Was?“, entfuhr es Grace.

„Warum?“, kam es von mir.

„Sehen Sie das hier?“ Er deutete auf Joshs Hals, dann bog er ihn nach hinten, bis die Wunde ein widerlich schmatzendes Geräusch von sich gab. Ich biss mir auf die Lippe, als die tanzenden schwarzen Flecken zurückkehrten.

„Was ist damit?“ Grace beugte sich darüber.

„Schartig, eher zerrissen als sauber von einem Messer durchtrennt.“ Er streifte die Handschuhe ab und breitete die Plane wieder über Josh. „Dieser Mann wurde nicht von einem Menschen, sondern von einem Tier getötet. Vermutlich von einem Hund. Einem großen.“

Grace und ich wechselten einen Blick. Dieses Thema hatten wir schon mal.

„Nur dass Tiere ihre Opfer selten über eine Klippe stoßen“, fuhr der Doktor fort. „Sie würden sie höchstens verscharren, um sich zu einem späteren Zeitpunkt an ihnen gütlich zu tun.“

Ich gab ein würgendes Geräusch von mir, das beide ignorierten.

„Was für ein Tier würde sein Opfer in eine Schlucht werfen?“, fragte Grace.

„Ein menschliches.“

„Also wurde er von einem Hund getötet und anschließend von einem Menschen in dieser Schlucht entsorgt. Wozu?“

„Das ist eine ausgezeichnete Frage, Sheriff.“