23
„Als ich das Atlanta Police Department anrief“, fuhr Grace fort, „hatte sich seine Familie dort schon gemeldet. Logan ist gestern Abend nicht zu Hause angekommen.“ Sie kramte einen Notizblock hervor. „Ich muss dir ein paar Fragen stellen.“
Ich hatte aus dem Fenster geschaut und versucht, das, was sie gerade gesagt hatte, zu verarbeiten. Jetzt zuckte mein Blick zu ihrem Gesicht. „Ich habe dir bereits alles erzählt.“
„Und nun wirst du es zu Protokoll geben.“
„Du glaubst, dass ich gelogen habe? Du denkst, dass ich …“ Ich brach ab. „Was denkst du?“
„Persönlich denke ich, dass Logan ahnte, dass du ihn anzeigen würdest, also hat er die Flucht ergriffen.“
„Warum sollte er das tun? Es lässt ihn schuldig aussehen.“
„Er ist schuldig, Claire.“
„Josh findet das nicht. Er glaubt allen Ernstes, dass ich ihm den Sex schuldete.“
„Das tun sie alle“, entgegnete sie trocken. „Trotzdem erzwingen ihn die meisten nicht.“
„Ich glaube noch immer nicht, dass er geflohen ist. Nicht zu diesem Zeitpunkt.“
Grace zuckte die Achseln. „Es spielt nicht wirklich eine Rolle. Sobald wir ihn finden, werden wir ihn strafrechtlich verfolgen. Aber als Erstes muss ich ganz genau wissen, was von der Minute an, in der er bei dir aufgekreuzt ist, bis zu seinem plötzlichen Verschwinden bei dir zu Hause passierte.“
Ich berichtete alles, bis dahin, als ich ihr Büro betreten hatte.
„Cartwright hat behauptet, dass Logan in sein Auto gestiegen und weggefahren ist?“
„Ja, das hat er gesagt.“
„Du hast es nicht selbst gesehen?“
„Nein.“
„Hm.“
„Was heißt ‚hm‘?“
„Cartwright könnte etwas mit ihm angestellt haben.“
„Warum?“
„Logan hat dir wehgetan. Ich würde den Typen am liebsten eigenhändig umbringen.“
Meine Augen weiteten sich. „Du hast gerade eine Brücke von vermisst zu ermordet geschlagen.“
„Ja, darin bin ich gut.“
„Grace, du kannst nicht wirklich annehmen, dass Malachi Josh getötet hat.“
„Ich nehme alles Mögliche an, solange man mir nicht das Gegenteil beweist.“
„Er würde nie …“
„Du kennst ihn kaum, Claire.“ Grace schob ungeduldig ihre Papiere zusammen. „Du hast keine Ahnung, wozu er fähig wäre.“
Sie hatte recht, deshalb wechselte ich das Thema. „Was ist heute Morgen passiert?“
„Nichts.“
„Du bist auf die Jagd nach dem Wolf gegangen?“
„Ja.“
„Ich liebe es, wenn du einsilbige Antworten gibst. Darauf fahre ich echt ab.“
Sie guckte mich düster an, dann klatschte sie mein Protokoll in eine Aktenmappe. „Da gibt es nichts zu erzählen. Wir sind stundenlang durch den Wald gepirscht, ohne auch nur das Geringste zu entdecken. Keinen Wolf, keine Spuren, keinen vermissten Urlauber, keinen Hinweis auf seinen Unterschlupf.“
„Merkwürdig.“
„Nicht wirklich. Die Berge dehnen sich über Kilometer aus.“ Sie spreizte die Finger. „Falls sich jemand oder etwas wirklich dort verstecken wollte und weiß, wie …“
Sie ließ den Satz unvollendet, aber ich ahnte, was sie sagen wollte. Wir könnten jahrelang suchen und den Mann oder das Tier trotzdem nicht finden. Außer …
„Heute Morgen habe ich kurz vor Sonnenaufgang Wölfe gehört.“
„Plural?“, hakte sie nach.
„Ja.“
„Mist.“
„Mmm.“
„Konntest du die Richtung orten?“
Ich schüttelte den Kopf. „Als die Sonne über die Berge stieg, verstummte das Geheul schlagartig. Es war … ein bisschen gespenstisch.“
„Die Sache gefällt mir von Tag zu Tag weniger.“
Wir schwiegen mehrere Minuten, während wir darüber nachgrübelten, was uns mit mehr als einem Wolf bevorstehen mochte. Nichts davon war gut.
„Ist dir Balthazar Monahan im Wald begegnet?“
Grace runzelte die Stirn. „Nein. Wieso?“
„Dieser wieselgesichtige Typ bei der Gazette behauptet, dass er dir nachgefahren ist, um eine Story zu kriegen.“
„Ich habe ihn nicht gesehen. Vielleicht wurde er von wilden Tieren gefressen.“
„Grace!“
„Könnte doch sein.“
Der Rest des Tages verging wie im Flug; als die Abenddämmerung anbrach, machte ich mich wieder auf den Weg zum Lake Lunar.
Nur ein Aufpasser – der dunkelhaarige, gedrungene Mann – stand heute Abend neben dem Tickethäuschen. Da der Andrang heute noch größer zu sein schien als gestern, wunderte ich mich, warum die Truppe beschlossen hatte, dass weniger mehr war.
Als ich ein paar Münzen aus meiner Tasche kramte, fiel mir dabei das Rindenstück mit dem Hakenkreuz in die Finger. Ich legte den Talisman auf die Ablage und schob das Geld durch den schmalen Schlitz unter dem vergitterten Fenster.
„Woher haben Sie das?“
Ich sah auf und stellte fest, dass der Blick des Kartenverkäufers auf dem Rindenstück haftete. Er sprach Englisch mit einem irischen Akzent, der allerdings nicht halb so charmant war wie Malachis – was vermutlich an seinem unentwegt mürrischen Gesichtsausdruck lag.
„Es wurde hier in der Nähe gefunden.“
„Es beherbergt eine mächtige Roma-Magie.“ Er versuchte, mit seinen skelettartigen Fingern unter den Gittern hindurchzufassen und danach zu hangeln, aber ich kam ihm zuvor. „Ein gadje sollte so etwas niemals berühren!“
Der Aufpasser drehte sich zu mir um und ließ ein grollendes Knurren hören, sodass ich schnell auf Abstand ging.
„Wa-warum?“, stotterte ich.
„Sie sind marime“, erklärte der alte Mann. „Geben Sie es mir.“
„Äh, nein.“ Grace würde mir den Kopf abreißen. Es war ein Beweisstück. Eventuell.
„Hogarth“, rief er, woraufhin der andere Mann drohend auf mich zukam. Ich wollte eilig die Flucht antreten und prallte mit Malachi zusammen.
„Was ist hier los?“
Hogarth zog sich murrend zurück. Der alte Mann kam aus dem Häuschen. „Sie hat eine Rune.“
Malachi gab dem Ticketverkäufer mit einem scharfen Nicken zu verstehen, sich wieder hinter das Eisengitter zu verziehen, bevor er sich Hogarth zuwandte. „Musst du dich nicht um die Show kümmern?“
Der Rausschmeißer trollte sich, allerdings bedachte er mich zuerst noch mit einem vernichtenden Blick. Ich mochte seine Augen nicht. Sie waren klein, dunkel und ein bisschen wild.
„Darf ich die Rune sehen?“, fragte Malachi.
Ich gab ihm das Rindenstück. Er sah es sich kurz an, und sein Mund wurde ernst.
„Gehört es dir?“, platzte ich heraus.
Er zog überrascht die Brauen hoch. „Mir? Nein.“
„Der Mann hat gesagt, dass sie eine mächtige Roma-Magie beherbergen soll.“
„Dies ist eine isländische Rune.“
Isländisch – was Sinn machte, wenn man den Ursprung der Swastika bedachte. „Warum sollte eine isländische Rune für Roma-Magie verwendet werden?“
„Nicht Magie. Zumindest nicht so, wie du es dir vorstellst. Viele Leute führen zum Beispiel Glück auf Magie zurück.“
„Soll das heißen, dass das hier ein Glücksbringer ist?“
„Ja. Die Roma haben von den Ländern, durch die sie kamen, viele Symbole übernommen.“
„Wie fertigt man so etwas an?“
„Ganz einfach. Obstbäume werden als Lebensspender verehrt, denn sie bringen Früchte hervor. Ein Stück von ihrem Stamm, ein wenig rote Farbe …“
„Nicht Blut?“
Er stieß ein kurzes, scharfes Lachen aus. „Nein.“
„Das Hakenkreuz scheint mir eine seltsame Wahl zu sein.“
„Es ist ein uraltes Zeichen.“
„Schutz und Wiedergeburt.“ Auf seinen forschenden Blick hin zuckte ich die Achseln. „Internet. Trotzdem, nach allem, was du mir über die Nazis erzählt hast …“
„Mein Volk sieht die Welt mit anderen Augen, als ihr es tut. Wer auch immer das hier angefertigt hat, hatte dabei nur seine ursprüngliche Bedeutung, die die Quelle seiner Energie ist, im Sinn. Indem man dieses Symbol in seinem ursprünglichen Sinn verwendet, nimmt man der Vergangenheit etwas von ihrem Übel.“
Ich bezweifelte, dass das Übel des Hakenkreuzes je ausgelöscht werden konnte, aber man sollte die Hoffnung nie aufgeben.
„Das hier wurde im Wald nahe der Stelle gefunden, wo der Mann von einem Wolf angegriffen wurde“, erklärte ich. „Derselbe Mann, der weiterhin vermisst wird und dringend eine Tollwutimpfung braucht.“
„Ich verstehe nicht, was das eine mit dem anderen zu tun hat.“ Malachi neigte den Kopf zur Seite und lächelte. „Ich bezweifle, dass ein Wolf eine Rune bei sich tragen würde.“
Das bezweifelte ich auch.
„Jedenfalls gehört sie auch nicht dem Mann, der attackiert wurde, zumindest sagt das seine Familie.“ Ich hielt nachdenklich inne, dann wagte ich mich weiter vor. „Dein Kartenverkäufer meinte, dass ich die Rune nicht berühren solle, da ich marime sei. Ich dachte, das heißt ‚ausgestoßen‘?“
Malachis Lächeln erstarb; plötzlich wirkte er viel älter. „Marime bedeutet einerseits, wegen unreinen Benehmens ausgestoßen zu sein, bezeichnet aber auch den Status des Unreinen an sich.“
„Ich bin unrein?“, stieß ich aufgebracht hervor.
Malachi presste die Lippen zusammen. „Natürlich nicht, aber …“
„Du dürftest mich eigentlich nicht berühren.“
Seine Augen funkelten. „Was ich dürfte und was ich tue, hat nichts miteinander zu tun.“
„Was würde geschehen, wenn deine Leute herausfänden, dass du und ich …“ Ich sprach nicht weiter. Er wusste sehr gut, was er und ich getan hatten.
„Ich bin ihr Oberhaupt. Sie können mir nichts anhaben.“
Da hatte ich so meine Zweifel.
„Ist das der Grund, warum du heute Morgen in die Stadt gekommen bist und Balthazar bedroht hast?“
Sein Kopf ruckte nach oben. „Du weißt davon?“
„Es ist eine Kleinstadt, deren Oberhaupt ich bin. Was glaubst du wohl?“
Malachi stieß hörbar den Atem aus. „Ich habe dieses Foto gesehen und wollte …“ Er ballte die Fäuste.
„Ja, ich auch.“ Ich legte meine Hand auf seine. „Es tut mir leid, dass du in unseren kleinen Krieg reingezogen wurdest.“
„Krieg?“ Er runzelte verwirrt die Stirn.
„Monahan will meinen Job. Er glaubt, dass er seine Chancen erhöht, wenn er mich in Verruf bringt.“
„Also wird er uns weiterhin drangsalieren?“
„Höchstwahrscheinlich. Falls wir uns weiterhin sehen.“
Ich wartete darauf, dass er sagte, die vergangene Nacht sei eine einmalige Sache gewesen. Wie könnte sie in Anbetracht des Tabus, das über uns hing, mehr sein?
Malachi drehte seine Hand unter meiner, entspannte die Finger und verschränkte sie mit meinen, allerdings vollzog er dieses Manöver im Schutz seines Beines, damit niemand es bemerkte.
„Ich möchte wieder mit dir zusammen sein“, antwortete er leise. „Heute Nacht. Aber vielleicht sollte ich das Haus lieber durch die Hintertür betreten und auf demselben Weg wieder verlassen.“
„Nicht vielleicht.“ Ich lächelte. „Definitiv.“
„Dann bis später.“ Malachi ließ meine Hand los, denn die Kapelle begann zu spielen, was den Beginn der Vorstellung ankündigte.
„Trittst du heute auf?“
„Nein. Dieser Abend gehört Hogarth und Mary.“
Hogarth sah nicht aus wie ein Artist; er sah aus wie ein Auftragskiller.
„Was führt Hogarth denn vor?“
„Er ringt mit dem Grizzly.“
„Ist das nicht ein bisschen gefährlich?“
„Was würde an der Show reizvoll sein, wenn sie nicht gefährlich wäre? Denkst du, es ist sicher für Sabina, mit Schlangen zu tanzen?“
„Nein, ich schätze nicht.“ Ich konnte nur hoffen, dass Hogarth nicht als Schweizer Käse endete, während er in meiner Stadt gastierte.
„Und Mary …“ Ich legte den Kopf schräg. „Ich dachte, Mary sei ein Berglöwe.“
„Das ist sie.“
„Du lässt eine Berglöwin ihren eigenen Auftritt haben?“
„Nein, nein. Ich wollte sagen, dass der heutige Abend Jared gehört. Er ist Marys …“ Er hielt inne, als suchte er nach dem richtigen Wort. „Trainer.“
„Die Tiere laufen hoffentlich nicht frei herum, oder? Sie können nicht in die Menge springen und ein Massaker anrichten?“
„Wir ergreifen sämtliche Vorsichtsmaßnahmen.“
Die Antwort gefiel mir nicht. „Welche Art von Vorsichtsmaßnahmen?“
„Wir ziehen einen magischen Schutzkreis um die Manege. Die Tiere übertreten ihn nicht.“
Ich starrte ihn fassungslos an. „Sag mir, dass das ein Witz ist!“
„Ja und nein. Wir ziehen diesen Schutzkreis tatsächlich. Aber zusätzlich postieren wir ein paar bewaffnete Männer. Du musst dir um Einwohner und Urlauber keine Sorgen machen. Es ist noch nie etwas passiert. Wirklich noch nie.“
Ich entspannte mich ein wenig, trotzdem hätte ich Joyce am liebsten geschüttelt, weil sie eine derart seltsame und gefährliche Show gebucht hatte. Hätte ich nicht gewusst, wie sehr sie mich liebte, wäre ich möglicherweise auf den Gedanken verfallen, dass sie mich zu sabotieren versuchte – entweder in Zusammenarbeit mit Balthazar oder um selbst Bürgermeisterin zu werden.
Aber dafür kannte ich Joyce zu gut. Sie war Teil meiner Familie – besser gesagt, die einzige Familie, die ich neben Grace noch hatte.
Und wenn Joyce die Zigeuner nicht angeheuert hätte, hätte ich Malachi nicht kennengelernt. Er hatte die Gefängnismauern zum Einstürzen gebracht, die meine Angst um mich errichtet hatte; er bewirkte, dass ich zu mir selbst zurückfand, und das würde ich nicht eine Sekunde bedauern.
„Ich muss gehen und …“ Malachi winkte in Richtung Manege.
„Natürlich.“
Zögernd richtete er die Augen auf meinen Mund. Mir stockte der Atem, und ich leckte mit der Zunge über meine plötzlich trockene Unterlippe, als er sich unvermittelt abwandte und mich stehen ließ.
Allein sein Blick hatte genügt, um meine Begierde nach ihm neu zu entfachen. Wäre er nur eine Sekunde länger geblieben, hätte ich ihn geküsst, was vermutlich die Erklärung war, warum er so schnell das Weite gesucht hatte. Würden seine Leute ihn steinigen, wenn sie das mit uns herausfänden?
Dies war das einundzwanzigste Jahrhundert. Malachi konnte schlafen, mit wem er wollte, genau wie ich. Vielleicht sollten wir uns ein wenig bedeckt halten, was den Nervenkitzel nur steigern würde. Andererseits wusste ich nicht, wie wir das nach dem Foto in der Zeitung bewerkstelligen sollten.
Die Musik wechselte von einer melodischen Ouvertüre zu einer mitreißenden Polka. Ich guckte zur Manege und beobachtete, wie Hogarth mit einem erstaunlich gefügsamen Grizzlybären im Schlepptau in den Ring lief. Er trug ein hellrotes, einteiliges Ringertrikot aus Lycra. In Anbetracht seiner Größe, Breite und seines riesigen Bauchs hätte ich mir den Anblick gern erspart. Gott allein wusste, was inmitten eines hitzigen Ringkampfs alles entblößt werden konnte.
Ich ließ meinen Blick umherschweifen, bis ich mehrere mit Gewehren bewaffnete Männer entdeckte, die an der Peripherie der Manege Wache hielten. Ihren nüchternen Mienen und der Professionalität, mit der sie ihre Waffen hielten, nach zu urteilen, wussten sie, was sie taten.
In dem Vorhaben, dem Zuckerwattewagen einen Besuch abzustatten, wandte ich mich ab. Nicht, um welche zu essen – mir taten schon bei dem Gedanken die Zähne weh –, sondern um zu schnuppern und mich an dem Kaleidoskop der Farben zu ergötzen.
Die typischen Pastelltöne – Rosa und Hellblau sowie das weniger beliebte Grün und Gelb – waren zu haben, aber in den Jahren, seit ich zuletzt in die Nähe einer Zuckerwattemaschine gekommen war, hatte man nicht nur Orange, Blau, Grün und Lila in Neon, sondern auch Silber und Schwarz entdeckt. Die Zeiten hatten sich zweifellos geändert.
So verlockend die Aussicht auch war, ich schaffte es nicht bis zur Zuckerwatte, denn auf dem Weg dorthin kam ich am Zelt der Wahrsagerin vorbei.
Fünf Dollar. Keine Wartezeit.
Warum nicht?, dachte ich und schlüpfte hinein.