25
„Was zur Hölle ist das?“
Meine Stimme war so laut, dass sie Edana aus ihrer Benommenheit riss.
„Was?“ Sie schüttelte den Kopf, um wieder zu sich zu kommen.
„Da drinnen.“ Ich deutete mit dem Finger.
Die Kristallkugel war leer.
Die Frau blinzelte mich neugierig an. „Sie haben etwas gesehen?“
„Sie etwa nicht?“
„Ich …“ Sie brach ab und rieb sich die Augen. „Ich erinnere mich nicht.“
„Nimm dich in Acht vor dem Teufel, der ein Gestaltwandler ist“, rezitierte ich.
Ihre Hände sackten nach unten; ihre Brauen schossen in die Höhe. „Das habe ich gesagt?“
Sie guckte beunruhigt an mir vorbei. Ich folgte ihrem Blick. Hinter mir war nichts.
„Ja, das haben Sie. Da waren überall diese Schatten; dann ist in der verdammten Kugel ein Wolf aufgetaucht.“ Ich hob die Decke an und guckte unter den Tisch. „Wie haben Sie das gemacht?“
Unter dem Tisch war nichts außer ihren von einem Rock verhüllten Beinen.
Auf der Suche nach einer Kamera oder einem Projektor spähte ich zur Decke, dann ging ich zu den Vorhängen und zog sie beiseite. Dahinter befanden sich nur eine Art Strandliege, die schon bessere Zeiten gesehen hatte, sowie ein mit Wasser und Gatorade bestückter Getränkekühler.
Gatorade?
Ich kehrte in den vorderen Bereich des Zelts zurück. „Was ist hier los?“
„Meine Magie erlaubt mir, die Zukunft und die Vergangenheit zu sehen. Ich kann keine Dinge herbeirufen, die nicht existieren.“
Ich hatte da meine Zweifel. Ebenso wie ich hinsichtlich ihrer hellseherischen Fähigkeiten meine Zweifel hatte. Zuvor war ich überzeugt gewesen, dass sie ein Scharlatan war; nun war ich mir nicht mehr so sicher. Was bedeutete, dass alles, was sie gesagt hatte, der Wahrheit entsprechen konnte.
„Was wissen Sie über den Wolf in den Bergen?“
Sie hob die Hände, ließ sie wieder sinken. „Ich weiß nur das, was die Karten, die Handflächen, die Kugel mir erzählen.“
„Und trotzdem erinnern Sie sich weder an das, was in der Kugel passiert ist, noch an Ihre Worte?“
„Ich bin eine alte Frau; manchmal erinnere ich mich nicht mal mehr an meinen Namen.“
Ich kniff die Augen zusammen. Sie log. Aber warum? Wusste sie wirklich nichts? Oder hatte sie Angst? Was auch immer es war, ich glaubte nicht, dass ich weitere Informationen von ihr bekommen würde.
Diese Leute zu befragen, war wie eine in der Luft schwebende Feder zu fangen. Man konnte unermüdlich danach hangeln, trotzdem würde sie einfach immer weiter knapp außer Reichweite bleiben.
„Edana?“ Jemand rüttelte an der Zeltklappe. „Ich bringe dir dein Abendessen.“
Ich öffnete und ließ eine mit einem Tablett beladene junge Frau herein. Ich hatte sie noch nie gesehen. Ihre Haare waren eine interessante Mischung aus Blond und Hellbraun – ein Ton, der wie Spülwasser hätte wirken müssen, im Licht der Öllampe tatsächlich aber dunkelgold schimmerte. Ihre Augen waren hell – mehr grün als blau – und leicht schräg. Je mehr ich von diesen Zigeunern sah, desto mehr gelangte ich zu der Überzeugung, dass sie sich entgegen allen Tabus schon lange und häufig mit ihren irischen Nachbarn verbrüdert hatten.
Das Mädchen bedachte mich mit einem knappen, leicht gehetzten Nicken, während sie das Zelt durchquerte und die Teller vor Edana stellte. „Tut mir leid, ich bin spät dran.“
Die alte Frau fegte ihre Entschuldigung mit einer Handbewegung beiseite. „Das verstehe ich, Kind.“
Ich schlüpfte nach draußen; die Vorstellung war zu Ende. Die Zuschauer strömten von den Tribünen zu ihren Autos. Auf dem Weg dorthin blieben einige an den Verkaufsständen stehen oder kauften Popcorn und Zuckerwatte, andere stellten sich vor Edanas Zelt an.
Ich entdeckte Malachi rittlings auf Benjamins Rücken am anderen Ende des Camps. Er hob den Kopf; unsere Blicke trafen sich, und er wendete das Pferd in meine Richtung.
Er war nur noch wenige Meter entfernt, als das Mädchen aus Edanas Zelt trat. Ihr plötzliches Auftauchen musste das Pferd erschreckt haben, denn es warf mit bebenden Nüstern den Kopf zurück.
Die Muskeln traten auf Malachis Unterarmen hervor, als er darum kämpfte, das Tier im Zaum zu halten, aber es rollte wie wild mit den Augen und buckelte. Die Menschen in der näheren Umgebung liefen hastig auseinander. Benjamin bäumte sich auf, und sobald seine Hufe wieder Bodenkontakt hatten, galoppierte er auf die Bäume zu.
Das Mädchen stand wie angewurzelt da, sein Gesicht leichenblass. Ich rannte Malachi nach, obwohl keine Hoffnung bestand, dass ich ihn einholen konnte.
Doch direkt vor dem Waldrand blieb das Pferd völlig unerwartet stehen. Es stemmte die Vorderhufe in den Boden und warf die Hinterbeine in die Luft, was dazu führte, dass Malachi über seinen Kopf hinwegflog, mit einem markerschütternden Geräusch gegen den nächsten Baum krachte und reglos zu Boden glitt. Das Pferd senkte den Kopf und schnüffelte an dem leblosen Körper seines Besitzers.
Als ich Malachi erreichte, hatte er sich bereits aufgesetzt. Er streichelte Benjamins Nüstern und redete ihm in einem Mischmasch aus Romani und Gälisch gut zu.
Ich fiel auf die Knie und tastete seinen Körper ab, ohne zu wissen, wonach ich suchte. Ich hätte einen gebrochenen Knochen selbst dann nicht erkannt, wenn ich ihn gefühlt hätte.
„Bist du okay?“, fragte ich verunsichert.
Er sah mich verwirrt an. „Wieso sollte ich das nicht sein?“
„Du bist durch die Luft geflogen und …“ Ich machte eine vage Handbewegung.
„Ich kann nicht mehr zählen, wie oft ich schon von einem Pferd abgeworfen wurde. Ich weiß, wie ich fallen muss. Vertrau mir, das sah viel schlimmer aus, als es war.“
Für mich hatte es ausgesehen, als hätte er sich den Hals gebrochen, aber er stand mühelos auf und streckte mir die Hand entgegen.
Ich legte meine Handfläche an seine; dieser winzige Hautkontakt genügte, dass ich mich in seine Arme werfen und an ihn schmiegen wollte, während er mir beschwichtigende Worte in einer fremden Sprache zuraunte, bis mein Herz zu rasen aufhörte.
Doch kaum dass er mich auf die Füße gezogen hatte, ließ er meine Hand los und ging auf Abstand. Ich quittierte seinen Rückzug mit einem Stirnrunzeln, doch dann entdeckte ich, dass wir Zuschauer angelockt hatten.
Jemand beobachtet Sie, hatte Edana mich gewarnt.
Besser gesagt, ein ganzes Dutzend Jemands.
Sobald sich die Leute vergewissert hatten, dass weder Malachi noch dem Pferd etwas passiert war, zerstreuten sie sich.
„Was ist denn in Benjamin gefahren?“, fragte ich.
Malachis Blick glitt an mir vorbei, und ich drehte mich um. Die junge Frau, die Edana ihr Abendessen gebracht hatte, stand noch immer vor dem Zelt.
„Er hat Molly noch nie gemocht“, erklärte er. „Ich weiß nicht, warum.“
Malachi wurde von seinen Leuten weggerufen; Molly tauchte mit hängendem Kopf in der Menge unter.
Armes Mädchen.
Ich ging zu meinem Auto, das als eines der letzten auf dem Parkplatz stand, und startete den Motor. Sabina tauchte im hellen Licht meiner Scheinwerfer auf.
Ich stieg aus. „Hallo.“
Sie hob grüßend ihre gute Hand.
„Wolltest du mit mir sprechen?“, fragte ich, ohne zu wissen, wie sie das hätte anstellen sollen.
Sabina schüttelte den Kopf. Ihre durchdringend blickenden Augen lösten ein seltsames Kribbeln des Wiedererkennens bei mir aus.
„Sabina!“
Das Mädchen, das gerade mit schnellen, entschlossenen Schritten auf mich zugekommen war, blieb stehen. Ich drehte mich um, und als ich Edana sah, wusste ich, warum ich dieses seltsame Kribbeln verspürt hatte. Sie hatten die gleichen Augen.
„Sie sind ihre …“
„Großmutter“, vollendete Edana. „Und alles, was sie noch hat, seit ihre Eltern … starben.“
Ihr Zögern bei dem letzten Wort irritierte mich. Waren sie wirklich gestorben, oder log sie?
Ich dachte an Malachis Behauptung, dass ihre Eltern sie hatten ertränken wollen und er sie daran gehindert habe. Nur blieb die Frage, wie er sie daran gehindert hatte.
„Komm jetzt, Kind!“, befahl Edana.
Sabina schlurfte auf ihre Großmutter zu. Ihre langen, dunklen Haare nahmen ihr die Sicht, sodass sie mich im Vorbeigehen versehentlich anrempelte und ins Stolpern geriet.
Ich fing sie auf und stellte erschrocken fest, wie kalt ihre Arme trotz der Hitze dieser Sommernacht waren.
„Sie ist einsam“, erklärte Edana, sobald Sabina außer Hörweite war. „Sie weiß, dass sie sich nicht mit den gadje einlassen darf, aber es gibt hier niemanden in ihrem Alter.“
Sabina war die jüngste Zigeunerin, die ich hier gesehen hatte; ich schätzte sie auf neunzehn oder zwanzig.
Die Menschen lebten, liebten, heirateten und pflanzten sich fort. Es war das, was Menschen nun mal taten. Aber was geschah mit den Kindern der Zigeuner?
Bevor ich Edana danach fragen konnte, zog sie von dannen. Die Einheimischen und Touristen hatten das Lager längst verlassen; die Zigeuner waren eifrig damit beschäftigt, Ordnung zu machen. Ich fuhr nach Hause. Was hätte ich sonst tun sollen?
Dort checkte ich als Erstes die Türen und Fenster. Josh lief noch immer frei herum, wenngleich ich nach der letzten Nacht bezweifelte, dass er ausgerechnet hierher zurückkehren würde. Aber man konnte nie wissen.
Rastlos tigerte ich durchs Haus – wartend, beobachtend, grübelnd. Würde er kommen oder nicht?
Es war schon Mitternacht, als mich ein kurzes Klopfen in die Küche lockte. Malachi stand auf der anderen Seite der Glasschiebetür.
Er musste wieder mal in den See gesprungen sein, oder er hatte geduscht, denn seine Haare lagen feucht an seinem Kopf, was seine markanten Wangenknochen hervorhob und seine Augen dunkler als poliertes Ebenholz wirken ließ.
Er war ganz in Schwarz gekleidet, hatte jedoch nur die beiden untersten Knöpfe seines Hemds geschlossen, sodass ein langer, geschmeidiger Streifen seiner Brust im Licht des Mondes schimmerte.
Ich durchquerte das Zimmer und öffnete die Tür.