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Er gab meine Hand frei, noch bevor ich sie ihm entziehen konnte – hätte ich sie ihm entzogen? –, dann trat er mit einer knappen Verbeugung den Rückzug in die Richtung an, aus der wir gekommen waren. Sekunden später war er um die Kurve verschwunden; ich blieb weiter auf der Straße stehen und glotzte ihm wie eine Idiotin hinterher.
Man könnte meinen, ich sei nie zuvor geküsst worden. Tatsächlich war ich nur noch nie auf diese Weise geküsst worden.
Ich hob meine Hand, die im silbernen Schein des Mondes glänzte – Feuchtigkeit von seiner Zunge, ein leichter Abdruck seiner Zähne, eine dunklere Stelle, wo er die Haut zwischen seine Lippen gezogen und an ihr gesaugt hatte. Noch bevor ich wusste, was ich da tat, legte ich meinen Mund dorthin, wo seiner gewesen war, bewegte die Lippen darüber und nahm die Feuchtigkeit auf, die er hinterlassen hatte.
Ein Auto fuhr vorbei und tauchte mich in sein grelles Scheinwerferlicht. Blitzschnell ließ ich den Arm sinken und eilte durch das Tor zur Haustür. Ich fand meinen Schlüssel, sperrte auf und ging durch die Eingangshalle zur Küche, ohne mich damit aufzuhalten, das Licht anzuschalten.
Ich hatte mein ganzes Leben in diesem Haus gewohnt – mit Ausnahme der vier Jahre, die ich am College studiert hatte, und der weiteren vier in Atlanta. Mein Vater hatte nie etwas verändert, sondern alles exakt so belassen wie an dem Tag, als meine Mutter gestorben war. Sollte ich dauerhaft hierbleiben, würde ich etwas unternehmen müssen – zumindest die Wände streichen.
Nachdem ich meine Handtasche auf den Tresen geworfen hatte, stand ich im Dunkeln und grübelte über mein Abendessen nach, nur um nicht an Malachi Cartwright denken zu müssen. In beidem scheiterte ich kläglich. Ich war nicht hungrig, und ich konnte nicht aufhören, an ihn zu denken.
Welcher Mann küsste einer Frau die Hand? Ein Gentleman in einem viktorianischen Liebesroman.
Welcher Mann setzte seine Zunge und seine Zähne bei diesem Kuss ein, um die Frau zu erregen? Keiner, von dem ich je gelesen hatte.
Was womöglich daran lag, dass das Leben kein Liebesroman war. Das hatte ich in Atlanta auf die harte Tour gelernt. Und ich konnte es nicht vergessen, nur weil ich nach Lake Bluff zurückgekehrt war.
Erschöpft und mutterseelenallein stieg ich die Treppe zu meinem Zimmer hoch. Ich knipste das Licht an und wurde mit einem beleidigten Miau der scheckigen Katze belohnt, die auf meinem Kissen geschlafen hatte.
Oprah – die eines sonnigen Weihnachtsmorgens während meiner Highschool-Zeit aufgetaucht war – blinzelte mich missmutig an, dann streckte sie die Beine und fing an, ihr Hinterteil zu säubern.
„Hey, nicht auf meinem Kissen.“ Ich durchquerte das Zimmer und zog das Ding unter ihr weg. Die Katze purzelte auf den Boden und stolzierte so hochmütig davon, als hätte sie das Ganze einstudiert.
Wir beide teilten uns das Haus, allerdings beschlich mich manchmal das Gefühl, dass sie mich nur tolerierte, bis ein nützlicherer Zweibeiner meinen Platz einnahm und sie mich hochkant rauswerfen könnte.
Obwohl ich wusste, dass ich essen, fernsehen, ein Buch lesen, irgendetwas anderes tun sollte, als zu arbeiten oder zu schlafen, um nicht wieder in mein altes Verhaltensmuster zu verfallen, das zu der Vielzahl meiner Fehlentscheidungen in Atlanta beigetragen hatte, riss ich mir meine Klamotten vom Leib und taumelte ins Bett, ohne mir auch nur die Mühe zu machen, einen Schlafanzug anzuziehen.
Ich träumte, dass der Mond zu einem Nebelstreif wurde, der durch mein Fenster waberte. Grau und geschmeidig driftete er über mich, deckte mich zu und schenkte mir Frieden.
Umfangen von der Nacht seufzte ich, fühlte den Nebel an meiner Haut gleich einem kühlen, samtenen Regen, der den Duft der Mittagssonne auf frisch gepflügter Erde und den Schein eines Mitternachtsmondes auf dem Wasser mit sich brachte.
Ich wälzte mich in den Laken, und mein Körper erwachte zum Leben. Die Hand, die Cartwright geküsst hatte, pochte; das peinigende Kribbeln, das er in mir entfacht hatte, intensivierte sich. Ich war allein und doch nicht allein, eingehüllt von Nebel und Mondlicht zugleich.
Ich berührte mich selbst, fuhr mit den Fingerspitzen über meinen Bauch, zu meinen Schenkeln, hinauf zu meinen Brüsten. Die kühlen Nebelschwaden folgten meinen Bewegungen und zogen Feuchtigkeit nach sich.
Meine Brustwarzen richteten sich auf; ich wand mich auf dem Bett, wollte, brauchte mehr als das. Die Empfindungen, die ich wenige Stunden zuvor erlebt hatte – sein Mund auf meiner Hand, seine Zähne, seine Lippen –, wiederholten sich nun an meinen Brüsten.
Ich sah nach unten und beobachtete, wie der Nebel die Gestalt eines Mannes annahm, er die Lippen um meine Brustwarzen schloss und an ihnen saugte. Ich fühlte die Hitze seines Mundes, den Druck seiner Zunge, die aufreizende Sinneswahrnehmung, als er mein empfindsames Fleisch mit den Zähnen liebkoste.
Mein erregtes Stöhnen riss mich aus dem Traum. Meine Haut prickelte; ich konnte die Reibung der Laken kaum ertragen. Ich kauerte auf der Schwelle zu einem Orgasmus und war so frustriert, dass ich heulen wollte. Warum hatte der Traum nicht eine kurze Weile länger andauern können?
Der Laden schlug gegen das Fenster, und ich wandte den Kopf. Dabei hätte ich schwören können zu sehen, wie der Nebel sich über das Fensterbrett zurückzog.
Langsam stieg ich aus dem Bett, tappte zum Fenster und guckte in der Erwartung, einen sanften Dunstschleier über dem Gras, vor den Bäumen, dem Himmel zu sehen, hinaus. Es kam oft vor, dass aus den Bergen Nebel heranzog. Aber da war nichts.
Der Nebel war nur ein Traum gewesen, genau wie der Sex.
Die restliche Nacht schlief ich nicht besonders gut – wahrscheinlich, weil ich das Fenster geschlossen hatte und sich das Zimmer trotz meiner Nacktheit stickig und unbehaglich anfühlte. Mein Vater hatte nie eine Klimaanlage installieren lassen, da er das für eine obszöne Geldverschwendung hielt, aber mir würde wohl nichts anderes übrig bleiben.
Gegen sechs Uhr morgens nahm ich eine eiskalte Dusche, in der Hoffnung, dass sie meiner nachklingenden Erregung, die ich aus unerfindlichen Gründen nicht abschütteln konnte, ein Ende bereiten würde.
Ich trat aus der Dusche, trocknete mich ab und langte nach dem Fön. Ein Blick in den Spiegel, und ich ließ den Haartrockner ins Waschbecken fallen. Auf meiner Brust prangte ein Knutschfleck. Mit zusammengekniffenen Augen beugte ich mich nahe an den Spiegel heran, dann schnalzte ich mit der Zunge. Es war nur mein Muttermal.
Ich hatte das Ding schon seit meiner Geburt – ein kleiner, bräunlich roter Kreis an der Unterseite meiner linken Brust, genau an der Stelle, wo der manngewordene Nebel an mir gesaugt hatte.
„Bizarr“, murmelte ich und rieb mit dem Daumen über die Verfärbung. Die Berührung genügte, dass meine Brüste anzuschwellen schienen und meine Brustwarzen kribbelten. Ich musste mich wirklich dringend flachlegen lassen, nur leider würde das aufgrund meiner jüngsten Erfahrungen mit dem männlichen Geschlecht nicht passieren.
Anstatt mein schulterlanges Haar trocken zu fönen, zwirbelte ich es zu einem Knoten, den ich mit Klammern an meinem Hinterkopf feststeckte. Die Frisur ließ mich stets wie eine Buchhalterin oder eine Bezirksstaatsanwältin aussehen. Aber im Moment musste ich so schnell wie möglich aus diesem Haus heraus, in dem mich jeder Atemzug an etwas erinnerte, das nicht geschehen war und dennoch unglaublich real wirkte.
Ich schnappte mir ein anderes Kostüm und passende Pumps, dann hielt ich inne. Nur weil mein Vater tagtäglich einen Anzug getragen hatte, bedeutete das nicht, dass ich ihm nacheifern musste. Tatsächlich wäre es besser, die Unterschiede zwischen ihm und mir hervorzukehren, denn dann würden weniger Menschen glauben, dass sie denselben Bürgermeister in einer anderen Verpackung bekamen.
Ich kramte Kakis, ein himmelblaues Oberteil und langweilige, aber bequeme flache Schuhe in derselben Farbe wie die Hose heraus und zog mich an.
Oprah jammerte in der Küche, was mir den zweiten Grund für ihren Namen in Erinnerung rief – sie konnte einfach nie die Klappe halten. Ich eilte nach unten, wo sie um ihren leeren Futternapf scharwenzelte. Ich schüttete Trockenfutter hinein; das Rappeln der müsliartigen, X-förmigen Stücke stellte eine Reminiszenz an meine Tage an der Highschool dar.
Jeden Morgen hatte ich Oprah gefüttert, mir meinen Rucksack geschnappt und war aus der Haustür gestürmt, um Grace abzuholen. Mein Vater hatte mich immer mit dem Auto zur Schule fahren lassen, die knapp zwei Kilometer außerhalb der Stadt lag, um auch für die Kinder, die in den nahe liegenden Bergen lebten, zugänglich zu sein.
Er selbst war bei Regen wie bei Sonnenschein zu Fuß zur Arbeit gegangen, um einen klaren Kopf zu bekommen und gleichzeitig den Einwohnern die Gelegenheit zu geben, sich in einer informelleren Umgebung als dem Rathaus an ihn zu wenden. Ich hatte versucht, ihn mir zum Vorbild zu nehmen, nur war bislang niemand während meiner morgendlichen oder abendlichen Spaziergänge auf mich zugekommen – mit Ausnahme von Balthazar.
Während ich auf einer trockenen Scheibe Toast herumkaute, füllte ich Oprahs Wasserschale, anschließend machte ich mich trotz der frühen Stunde auf den Weg zur Arbeit. Ich hatte nichts Besseres zu tun.
Mein Job war zeitaufwändig. Das war mir von Anfang an klar gewesen. Ich hatte meine ganze Kindheit und Jugend mit dem Bürgermeister unter einem Dach gewohnt und war die meiste Zeit mir selbst überlassen geblieben. Die langen, einsamen Stunden, die Nächte, in denen mein Vater nicht heimgekommen war, bevor ich schlief, die Notfälle, die ihn gerufen hatten und scheinbar immer dann erfolgten, wenn ich ihn am dringendsten brauchte.
Als Teenager hatte ich geglaubt, dass alle anderen wichtiger wären als ich und er Lake Bluff auf eine Weise liebte, wie er mich niemals lieben könnte. Dementsprechend hatte ich nicht nur der Stadt, sondern auch seinem Amt eine kindische Ablehnung entgegengebracht und nie auch nur einen Gedanken daran zugelassen, mein restliches Leben hier zu verbringen, geschweige denn, das Amt des Bürgermeisters zu übernehmen.
In den Straßen der Stadt ging es heute noch etwas geschäftiger zu als gestern, was sich im Verlauf der Woche noch steigern würde. Der altmodische Laden an der Ecke – eine Mischung aus Café und Apotheke, deren Inhaber jedermanns Zipperlein kannte und der die Kunden noch persönlich bediente, anstatt dies einem Angestellten zu überlassen – war geöffnet.
In diesem Familienbetrieb war die Frau des Apothekers für die vordere Ladentheke zuständig, während die Kinder hinter dem Imbisstresen arbeiteten, wo man Thunfischsalat, Cola mit Kirschgeschmack, Eisbecher mit Karamellsauce und Schokoladenmalzgetränke bekam, die noch aus echtem Malz hergestellt wurden.
Keine Megamarkt-Invasion in Lake Bluff, zumindest noch nicht. Ich wollte mir nicht ausmalen, was dann passieren würde. Für eine friedvolle Einigung gab es viel zu viele Schusswaffen in der Stadt. Die Menschen in Georgia nahmen es nicht freundlich auf, wenn jemand ihre Existenzgrundlage bedrohte, vor allem dann nicht, wenn es sich um finanzkräftige Konzerne mit Hauptsitz in weiter Ferne handelte.
Ich wäre wie jeden Morgen einfach am Lake Bluff Drug and Sundry vorbeigelaufen, hätte dabei ins Schaufenster gespäht, um Mrs Charlesdown und dem ihrer Kinder, das an diesem Tag den kürzesten Strohhalm gezogen hatte und dazu verdonnert war, im Imbiss zu bedienen, zuzuwinken, wären nicht in alarmierender Vielzahl Kunden aus ihrem Laden geströmt.
Selbst das hätte mich vermutlich nicht mehr unternehmen lassen, als den Leithammel zu befragen, doch dann zerriss ein schriller Schrei den wärmer werdenden, sonnigen Morgen.