22
Ich setzte mich ruckartig und mit hämmerndem Herzen auf. Träumte ich wieder?
„Malachi?“ Meine Stimme klang atemlos – vor Angst oder vor Befriedigung? Ich wusste es nicht.
Durch den Nebel bewegte sich ein Schemen. „Ich bin hier.“
Ich atmete hastig aus. „Was ist das?“
Die Matratze wippte. Er zog mich in seine Arme; seine Haut war feuchtwarm. „Nebel.“
Ich hatte solchen Dunst über die Berge kriechen, zwischen den Bäumen hängen und über den See ziehen sehen, aber nie hatte ich erlebt, dass er durch ein Fenster kam – außer im Schlaf. Ich hatte auch noch nie einen gesehen, der derart dicht war, dass er praktisch alles verhüllte. Er kam mir fast außerirdisch vor. Die Sache gefiel mir nicht.
„Er zieht aus den Bergen heran.“ Malachi streichelte meine Haare. „Vor dem Nebel muss man sich nicht fürchten.“
Natürlich hatte er recht, aber das verhinderte nicht, dass mein Herz viel zu schnell schlug.
„Schsch“, beschwichtigte er mich. „Komm, wir wollen uns eine Weile ausruhen.“
Er hob den Quilt an, deckte mich zu, dann legte er sich darauf.
Ich fühlte mich zurückgewiesen. „Was ist denn?“
Er schaute mir ins Gesicht, seine Augen bildeten in dem dämmrig grauen, nebelverhangenen Raum unendlich tiefe Brunnen. „Wenn ich mich neben dich lege, Haut an Haut, werden wir uns nicht ausruhen.“
„Das stört mich nicht.“
Er legte die Hand an meine Wange. „Für den Moment ist es genug. Schließ deine Augen, a ghrá.“
Meine Lider waren mit einem Mal so schwer, dass ich sie nicht offen halten konnte. „Was bedeutet das, a ghrá?“
Er zögerte, als könnte er sich nicht ganz erinnern, dann raunte er: „Elfe. Du siehst aus wie eine, mit deinen ungebändigten roten Haaren und deinem süßen Mund.“
Über diesen Vergleich lächelnd, ergab ich mich dem Schlaf.
Ich erwachte kurz vor Morgengrauen, starrte an die Decke und überlegte, was mich irritierte. Dann wurde mir klar, dass es mehrere Dinge waren.
Ich konnte die Zimmerdecke erkennen. Der Nebel hatte sich verzogen.
Ich lag allein in meinem Bett. Das Fenster war verschlossen.
Und irgendwo draußen im Wald heulte etwas.
Ich sprang auf, dann hielt ich abrupt inne und starrte stirnrunzelnd auf meine nackten Beine. Malachi war also kein Traum gewesen. Gleichzeitig war es auch keine Seltenheit, dass ich mich im Schlaf auszog.
Ich ging zum Fenster, schob es nach oben und steckte Kopf und Schultern durch die Öffnung. Nun konnte ich das Heulen viel besser hören.
„Mehr als ein Tier“, murmelte ich.
Das konnte nichts Gutes verheißen.
Der östliche Horizont glühte rosarot. Sehr bald schon würde die Sonne dahinter hervorbrechen und orangefarbene, rote und gelbe Feuerstrahlen auf die Berge und die Bäume werfen.
Mit gespitzten Ohren in die Ferne spähend und dabei die kühle, zur Abwechslung mal dunstfreie Morgenluft genießend, blieb ich am Fenster stehen.
Plötzlich begann es hell zu werden, und im selben Moment hörte das Heulen auf, fast so, als ob die Sonnenstrahlen es zum Schweigen gebracht hätten.
Die unerwartete Stille, die auf die lauten Geräusche folgte, war unheimlich. Ich bekam eine Gänsehaut und zog den Kopf zurück.
Grace würde inzwischen mit ihrem Jägersuchtrupp dort draußen sein. Sie würde den Wolf oder die Wölfe finden und damit zumindest eins unserer Probleme beseitigen.
Ich schaute mich im Zimmer um. Es fand sich nicht der kleinste Hinweis auf das, was letzte Nacht geschehen war. Nicht ein Hemd oder eine Socke, noch nicht mal eine Nachricht.
Missmutig starrte ich in den Frisierspiegel. Malachi war nicht der Typ Mann, der eine Nachricht hinterließ; ich war nicht der Typ Frau, der eine brauchte.
Letzte Nacht war es um sexuelle Freiheit gegangen. Ich hatte mir mein Leben zurückgeholt. Ich hatte mit dem Mann, den ich wollte, getan, was ich wollte, und es war …
„Fantastisch“, sagte ich, und meine Laune hellte sich bei der Erinnerung auf.
Falls es überhaupt passiert war.
„Mach dich nicht lächerlich!“, ermahnte ich die neugeborene Frau im Spiegel. „Du bist nicht verrückt.“
Behaupteten das nicht alle verrückten Menschen von sich? Besonders dann, wenn sie mit ihrem eigenen Spiegelbild sprachen?
Eine Stunde später ging ich die Center Street entlang, nickte den Leuten zu, denen ich begegnete, und wunderte mich, warum alle tuschelten.
Ich sollte es bald herausfinden.
Ich war noch keine fünf Minuten im Büro, als Joyce hereingestürmt kam. Sie sah mich am Schreibtisch sitzen und knallte derart ungestüm die Gazette vor mir auf die Tischplatte, dass ich die Hand daraufschlagen musste, damit sie nicht am anderen Ende von der Tischkante rutschte.
„Was geht in Ihrem Kopf vor?“
„Nicht … viel“, antwortete ich langsam. „Ich hatte noch keinen Kaffee.“
„Dafür hatten sie so ziemlich alles andere.“
„Ist alles in Ordnung, Joyce?“
„Nein.“ Sie deutete mit dem Finger auf die Zeitung.
Ich guckte nach unten und schnappte nach Luft. In der Mitte der Titelseite prangte ein Foto von meinem Haus und Malachi, der gerade aus dem Fenster kletterte. Auf einem kleineren Foto darunter hatte der Fotograf näher herangezoomt und Cartwrights derangierten Zustand abgelichtet: Das Hemd hing ihm aus der Hose und gab den Blick auf seine schön geformte Brust frei; der Reißverschluss an seiner Hose war geschlossen, der Knopf hingegen nicht, und seine Haare sahen aus, als ob sie in einem leidenschaftlichen Gerangel zerwühlt worden wären. Wie es schien, war das letzte Nacht doch kein Traum gewesen.
„Ich bringe ihn um“, murmelte ich.
„Das hier sieht nicht gerade danach aus, als ob Sie ihn tot sehen wollten.“
„Ich meinte nicht Malachi.“ Joyce zog die Brauen hoch, als ich ihn beim Vornamen nannte. „Ich meinte Balthazar Monahan. Das hier war seine Idee, wenn er es nicht sogar selbst getan hat.“
„Daran besteht kein Zweifel“, stimmte sie mir zu. „Aber was in drei Teufels Namen hat Sie geritten, diesen Mann in Ihr Schlafzimmer zu lassen?“
Ich hatte ihn nicht gelassen, aber das war jetzt nebensächlich. „Haben Sie ihn sich mal angesehen?“
„Ja, er ist ein hübsches Kerlchen.“
„Allerdings.“
„Sie haben mit ihm geschlafen?“
„Was glauben Sie, was wir getan haben, Joyce? Monopoly gespielt?“
„Oh Himmel!“ Sie raufte sich die Haare. „Wie soll ich das nur hinbiegen, damit Sie nicht Ihren Job verlieren und alles zerstören, was Ihr Vater aufgebaut hat?“
„Mein Privatleben geht niemanden etwas an.“
Joyce schnaubte. Und das zu Recht. Ich war Politikerin oder zumindest so etwas Ähnliches. Mein Privatleben würde nie Privatsache sein.
„Wenn Sie nicht mit ihm geschlafen hätten, könnte ich mir vielleicht etwas einfallen lassen.“
„Ich wüsste nicht, was.“
Sie studierte wieder das Foto. „Sie haben recht. Keine Schadensbegrenzung möglich.“ Dann leuchteten ihre Augen auf, als ihr eine Idee kam. „Die Zigeuner werden nächste Woche fort sein. Vielleicht wächst Gras über die Sache. Vorausgesetzt, Sie halten sich ab jetzt von ihm fern.“
Ich blieb stumm.
„Claire?“
„Hm?“
„Sie werden sich von ihm fernhalten?“
Ich dachte ein paar Sekunden darüber nach. „Nein.“
„So gut ist er?“
Dieses Mal brauchte ich nicht eine Sekunde, um zu antworten. „Ja.“
„Mist.“
„Dieses Foto wird bald schon in Vergessenheit geraten.“
Joyce rührte sich nicht. „Was ist da sonst noch?“
Ich erzählte ihr von der Sache mit Josh – damals und heute –, dem Wolf, dem verschollenen Urlauber und Grace’ Suchaktion. Als ich endlich fertig war, hatten sich Joyce’ Haare in ein strubbeliges Wirrwarr verwandelt, und ich befürchtete, dass sie bald eine kahle Stelle haben würde, wenn sie weiter so an ihnen herumzerrte.
„Sie hätten den Mistkerl noch am selben Tag hinter Schloss und Riegel bringen sollen“, knurrte sie.
„Ich weiß.“
„Ich kann es nicht erwarten, ihn in Handschellen zu sehen.“
Das konnte ich auch nicht.
„Sie hätten, gleich nachdem das passiert war, nach Hause zurückkommen sollen, Claire. Heim zu den Menschen, die Sie lieben.“
„Ich wollte nicht, dass jemand davon erfährt.“
„Mit ‚jemand‘ meinen Sie Ihren Vater?“
„Ihn im Besonderen.“ Das einzig Tröstliche an seinem Tod war, dass er nie von Josh erfahren würde.
„Er hätte seine Flinte rausgeholt, so viel steht fest“, erklärte sie. „Und ich hätte die Munition beigesteuert.“
Ich lächelte. „Danke, Joyce.“
Sie zuckte mit den Schultern. „Die Menschen in dieser Stadt halten zusammen. Das war immer so und wird immer so sein. Ich würde alles für Sie tun.“
„Ich für Sie auch.“ Überrascht wurde mir bewusst, dass ich nicht nur für sie tun würde, was ich konnte, sondern auch für jeden anderen in Lake Bluff. Mit Ausnahme von Balthazar.
„Was werden Sie deshalb unternehmen?“ Joyce hob die Zeitung hoch.
„Es gibt nicht viel, das ich unternehmen könnte, außer den Kopf hochzuhalten und ihm zu sagen, was ich von ihm denke.“ Solange ich bei allem, was derzeit in meinem Leben passierte, noch denken konnte.
Joyce war nicht die Einzige, die die Zeitung gesehen hatte. Angesichts der Tatsache, wie häufig mein Telefon klingelte und Menschen in mein Büro stürmten, beschlich mich langsam der Verdacht, dass es in den drei umliegenden Bezirken niemanden gab, der sie nicht gelesen hatte.
„Das ist nicht das Image, das wir verbreiten wollen“, wies mich die Highschool-Rektorin zurecht.
„Dessen bin ich mir bewusst.“
„Seien Sie nächstes Mal ein wenig diskreter.“ Dann zwinkerte sie mir zu. Ich wäre fast vom Stuhl gekippt.
Auf seiner Zigarre und seinem Schnauzbart herumkauend, kam Catfish herein. „Wollen Sie ihn verklagen? Ich bin dabei.“
Ich wollte schon, nur glaubte ich nicht, dass ich Aussicht auf Erfolg hätte. Zudem befürchtete ich, dass ein Prozess alles nur weiter in den Blickpunkt rückte. Das sagte ich Catfish.
„Ja, wahrscheinlich. Aber das heißt nicht, dass es keinen Spaß machen würde.“
Der Tenor meiner Besucher blieb unverändert. Sie drückten milde Missbilligung aus, dann taten sie das Ganze mit einem Achselzucken ab und gingen dazu über, um meinen Rat zu bitten, eine Verbesserung vorzuschlagen oder sich über dieselbe Sache zu beschweren, über die sie sich schon seit der Amtszeit meines Vaters beschwerten.
Ich schätze, dass nach dem Lewinsky-Skandal ein Foto des Liebhabers der Bürgermeisterin nicht mehr ausreichte, Letztere teeren und federn zu lassen. Ich konnte es kaum erwarten, Balthazar das unter die Nase zu reiben.
Doch als ich mittags endlich die Redaktionsbüros der Gazette aufsuchen konnte, war er nicht da.
„Der ist gleich davongestürmt, nachdem der Kerl auf dem Bild hier aufgekreuzt ist und ihn rumgeschubst hat“, informierte mich einer von Balthazars Untergebenen, ein schleimiger kleiner Mann, den ich schon bei mehreren Gelegenheiten dabei ertappt hatte, wie er mir nachspionierte.
„Welcher Kerl auf dem Bild?“
„Sie wissen, welcher.“ Er grinste anzüglich. Ich hatte schon so lange niemanden mehr anzüglich grinsen sehen, dass ich im ersten Moment einen Schlaganfall vermutete. „Der Zigeuner-König.“ Er hielt die Zeitung hoch und tippte auf Malachis Gesicht. „Dieser Kerl.“
„Er war hier?“
Der Mann blinzelte mich an. „Also für eine Bürgermeisterin machen Sie keinen besonders cleveren Eindruck.“
Ich knirschte mit den Zähnen und zählte bis zehn. „Was ist passiert?“
„Der Zigeuner kam rein und riet ihm, sich zu bessern, sonst würde ihm was blühen. Dann ist Balthazar auf ihn losgegangen.“
Oh-oh.
„Der Zigeuner hat ihn so brutal zurückgestoßen, dass Balthazar schnurstracks gegen die Wand geflogen ist. Anschließend ist er gegangen.“
„Balthazar?“
Er verdrehte die Augen. „Der Zigeuner.“
„Und wo ist Ihr Boss jetzt?“
„Ich bin mir nicht sicher. Er hat mitbekommen, dass der Sheriff Wölfe jagt …“
Wer hatte das nun wieder ausgeplaudert?
„Also ist er zum Revier rübergelaufen. Danach hat er angerufen und gesagt, dass er rausfahren will, um festzustellen, was da vor sich geht.“
Falls Balthazar Grace in die Quere käme, bräuchte ich mir keine Gedanken mehr über weitere Belästigungen durch ihn zu machen. Wir würden seine Einzelteile überall verstreut finden.
„Richten Sie Balthazar aus, dass ich ihn sehen will.“
„Er hatte das Recht, dieses Foto zu drucken.“ Der Mann verzog seine bleistiftdünnen Lippen zu etwas, das ein Lächeln hätte sein können – bei jemandem mit Lippen. „Abgesehen davon hat es inzwischen jeder gesehen. Es gibt nichts, das man jetzt noch dagegen tun könnte.“
„Trotzdem.“
Ich ging am Rathaus vorbei zur Polizeiwache. Grace sollte inzwischen nicht nur mit Neuigkeiten über den Wolf oder die Wölfe zurück sein, sondern auch wegen Josh in Atlanta angerufen haben.
Ich hatte recht. Sie saß in ihrem Büro und telefonierte. Getuschel und Gekicher kamen auf, als ich mich zwischen den Schreibtischen ihrer Mitarbeiter durchschlängelte.
„Spart euch das für die Highschool auf“, riet ich ihnen.
„Sieht nicht so aus, als ob Sie das getan hätten“, gab jemand zurück.
Alle lachten. Na toll!
Grace bemerkte mich durch die Glasscheibe, winkte mich nach drinnen und bedeutete mir, Platz zu nehmen.
„Mmhmm“, sagte sie gerade. „Ich verstehe.“
Sie hob die Zeitung hoch, zeigte auf das Foto, wackelte mit den Augenbrauen und drohte mir mit dem Finger.
Ich hob erschöpft die Schultern – ein Code für „Was soll ich tun?“ –, dann deutete ich mit fragender Miene auf den Hörer.
Sie signalisierte mir, noch eine Sekunde Geduld zu haben, und warf die Gazette in den Müllkorb, wo sie hingehörte.
„Danke für Ihre Hilfe, Detective. Wir bleiben in Verbindung.“ Sie legte den Hörer auf.
„Werden sie Josh festnehmen?“
„Ich denke nicht.“
„Was?“ Ich schoss so abrupt vom Stuhl hoch, dass ich mir das Kreuz an der Rückenlehne stieß. „Aber das müssen sie.“
„Das würden sie auch, nur leider können sie ihn nicht finden.“
„Definiere ‚können ihn nicht finden‘.“
Den Blick auf die Tischplatte fixiert, hatte Grace unruhig mit den Fingernägeln auf das Holz geklopft und dabei eine permanente Sorgenfalte zwischen ihre fein geschwungenen Augenbrauen gestanzt. Jetzt hob sie den Kopf.
„Josh Logan ist wie vom Erdboden verschluckt.“