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Als es Abend wurde, wirbelten ein Dutzend weggeworfene Flugblätter über den Gehsteig, und ein weiteres Dutzend flatterte gegen die Gebäudemauern. Auf dem Heimweg hob ich eines auf und las:
Kommt herbei, liebe Leute, und bestaunt die großartigste Show der Welt! Tierdressur live! Jeden Abend eine andere Vorstellung! Kommt zweimal, kommt dreimal!
Bringt eure Freunde mit.
Die Show des heutigen Abends begann um neun. Ich hetzte nach Hause, um mich umzuziehen und etwas zu essen, anschließend fuhr ich die vertraute Strecke zum See.
Dutzende Autos parkten auf einem mittelgroßen Grasareal. Kein riesiger Ansturm, aber auch keine Enttäuschung. Sollte die Vorstellung halten, was die Zigeuner versprochen hatten, würde die Zuschauermenge mit jedem Abend anwachsen. Alle würden mehr Geld verdienen, und die positive Mund-zu-Mund-Propaganda würde den Tourismus für dieses Jahr als auch für das nächste ankurbeln.
Sie hatten eine von mobilen Tribünen umsäumte Manege aufgebaut. Die Käfige formten einen Halbkreis; die Gitterstäbe waren zum Publikum hin ausgerichtet, sodass dieses die Tiere während der Show beobachten konnte. Die Wagen, die den Menschen als Behausungen dienten, waren auf halber Wegstrecke um den See abgestellt worden; ich konnte von meinem Standort aus ihre Dächer sehen. In den nahen Bäumen blinkten Lichterketten, und Scheinwerfer erhellten sowohl die Manege als auch die nähere Umgebung.
Inmitten des Pfads, der zu den Tribünen führte, stand ein Tickethäuschen. Darin saß ein älterer Mann, während zwei jüngere Männer den Kiosk flankierten und dabei so finster dreinguckten, als wollten sie jeden davor warnen, ohne Eintrittskarte vorbeizuschlüpfen.
Der eine war groß und stämmig, mit einem dichten, dunklen Schopf und einem grimmigen Gesicht. Der andere hatte hellere, fast braune Haare, die aussahen, als wären sie von der Sonne ausgebleicht, und er war so lang und schlaksig, dass er einen Buckel machte, als wollte er seinen beachtlichen Körperwuchs, wenn schon nicht seinen markanten Adamsapfel, verbergen.
Eine hochgewachsene junge Frau mit einer weißen Strähne in ihrem pechschwarzen Haar lief mit einem Korb Äpfel vorbei. Sie brachte sie einem gedrungenen Mann mittleren Alters, der neugierige Augen und eine Hakennase hatte und jeden einzelnen in einen Bottich voll Karamell tauchte. In den Händen von Kindern tanzten Luftballons. Der Duft von Popcorn und Zuckerwatte erfüllte die Abendluft.
Ich reichte mein Ticket dem stämmigen Kontrolleur, der etwas knurrte, das ein Danke hätte sein können, es aber vermutlich nicht war. Hinter ihm hatte man Verkaufstische aufgestellt, an denen bunter Schmuck feilgeboten wurde. Ich schlenderte vorbei und guckte mir die Stücke an, als mir ein Schild ins Auge stach.
AMULETTE, TALISMANE, GLÜCKSBRINGER
Interessant.
Ich hatte das Rindenstück mit dem Hakenkreuz in der Annahme zu Hause gelassen, dass die Zigeuner verständlicherweise empfindlich auf ein Nazi-Symbol reagieren würden. Auch wenn der Krieg mehr als sechzig Jahre zurücklag, hieß das nicht, dass sie vergessen hatten. Niemand sollte das tun.
Ich sah mir den Tisch genauer an, fand aber nicht einen einzigen Gegenstand, der dem ähnelte, den Grace ganz in der Nähe gefunden hatte.
„Haben Sie irgendetwas aus Holz?“, fragte ich.
Das Gesicht der uralten Zigeunerin war so verrunzelt und braun wie das einer Apfelpuppe. Ein buntes, mit Münzen besetztes Kopftuch bedeckte ihr Haar, und an ihren Ohren baumelten riesige Kreolen. An jedem Finger steckte ein Ring, und an ihren Armen klimperten jeweils zehn Armreife. Wann immer sie sich bewegte, erklang eine Kakophonie heller Töne.
Sie starrte mich so lange an, bis ich mich zu fragen begann, ob sie mich überhaupt verstanden hatte. Ich wollte mich gerade abwenden, als sie unter den Tisch langte und eine Kiste hervorzog. Ich nahm sie entgegen und hätte sie beinahe fallen lassen, als sich darin etwas bewegte.
„Ähm, nein danke.“ Ich versuchte sie ihr zurückzugeben, aber sie nahm sie nicht an. Stattdessen ermunterte sie mich durch heftiges Kopfnicken und Gestikulieren, den Deckel zu öffnen.
Ich tat es, aber die Kiste war zu tief und das Licht zu schwach, als dass ich hätte erkennen können, was sich darin befand. Ich öffnete sie ganz, als eine verschrumpelte Pfote in meine Hand fiel.
Ich kreischte nicht, sondern sagte etwas in der Art von: „Würg! Igitt!“, und warf das Ding beiseite.
Die alte Frau fing die Tatze behände aus der Luft auf und verstaute sie kichernd wieder in der Schachtel.
„Was war das?“, fragte ich entrüstet.
Ich rechnete nicht mit einer Antwort. Ich konnte mir wirklich nicht vorstellen, dass sie Englisch sprach.
„Ein Witz, Schätzchen. Haben Sie noch nie die Geschichte von der Affenpfote gehört? Der alte Fluch? Die drei Wünsche?“
Ich zwang mich, zweimal tief Luft zu holen. Mein Herz, das zu laut und zu schnell geschlagen hatte, beruhigte sich langsam. „Klingt irgendwie vertraut.“
„Wir geben den Menschen das, was sie begehren.“
„Ich hatte nicht um eine Affenpfote gebeten.“
„Was denn für eine Affenpfote?“
„Die in der Schachtel.“
„Diese Schachtel?“ Sie hob das Behältnis auf und drehte es um. Nichts fiel heraus.
Vereinzeltes Gelächter, gefolgt von Applaus ertönte hinter mir. Wir hatten eine kleine Menge Neugieriger angelockt.
„Falls einer von Ihnen einen Blick in die Zukunft werfen möchte“, sagte die alte Frau, „können Sie mich nach der Vorstellung gern besuchen.“
Ich war zu Werbezwecken missbraucht worden. Es gefiel mir nicht, aber da wir beide davon profitierten, wenn das Festival ein Erfolg wurde, wollte ich mich nicht beschweren.
Ich eilte zur Zuschauertribüne. Joyce winkte mir aus dem Publikum zu, und ich winkte zurück. Die meisten Plätze waren schon besetzt, aber es gelang mir, mich auf den letzten freien Sitz in der vordersten Reihe zu quetschen, als im selben Moment das Licht gedämpft wurde und eine Trommel einen afrikanisch klingenden Rhythmus anstimmte.
Der Berglöwe fauchte; der Grizzlybär knurrte, und irgendwo draußen im Wald antwortete ihm dasselbe Etwas, das am Abend zuvor geheult hatte.
Ich blickte mich um, aber alle schauten völlig fasziniert zur Manege.
Plötzlich erstrahlte eines der Lichter und fiel auf Sabina. Sie schien sich aus dem Nichts materialisiert zu haben. Einen Augenblick zuvor war die Manege noch dunkel und leer gewesen. Jetzt waren da helles Licht und ein Mädchen mit einer Schlange um den Hals.
Theoretisch wusste ich, dass sie durch die Dunkelheit geschlüpft war, während die Musik und die Tiere das Publikum abgelenkt hatten, aber in dieser Nacht, die zögerlich um uns herum anbrach, hätte ich beschwören können, die Magie zu fühlen; fast schon glaubte ich an sie.
Sabina wirkte verändert in dem Scheinwerferlicht. Ihre Sprachunfähigkeit spielte hier keine Rolle. Ihre Schüchternheit war verflogen. Sie tanzte, als wäre sie dafür geboren, was sie zweifelsohne auch war.
Ihre Augen wirkten heller, als ich in Erinnerung hatte, mehr golden als grün, ohne einen Hauch von Braun – was vermutlich auf eine Täuschung des Lichts zurückzuführen war. Ihr offenes Haar wogte um ihr Gesicht, und ihre Schultern zuckten im Takt der Musik, die nun schneller geworden war und eher orientalisch als afrikanisch klang, obwohl die Trommel noch immer unter der Oberfläche pulsierte.
Ihr Rock schwang hin und her; mit seinen bunten Farben fing er das Licht ein und spielte Verstecken mit den goldenen Zehenringen, die ihre nackten Füße schmückten. Von der Taille abwärts war sie vollständig verhüllt, doch von der Taille aufwärts trug sie mehr Schlange als Stoff. Ihre bloßen Arme schimmerten im Licht und wanden sich auf und ab, vor und zurück, um die Bewegungen der Schlange nachzuahmen.
Die Schlange tanzte; ihre gelben Augen glühten, und sie schien genauso von Sabina gebannt zu sein wie die Zuschauer.
Jemand keuchte auf, und ich erschrak, denn ich befürchtete, dass die Kobra aggressiv geworden sein könnte. Dann erkannte ich, was die Ursache für die nervöse Unruhe und das Geraune im Publikum war.
Knapp ein halbes Dutzend Schlangen glitten mit für Schlangen erstaunlich schnellen Bewegungen in die Manege. Falls es ihnen einfiel, würde niemand sie daran hindern können, einfach durch die Holzabsperrung in die Menge zu schlüpfen. Da ich wenigstens eine Klapperschlange ausmachte, konnte das ein Problem werden.
Doch stattdessen hielten die Reptilien weiter auf Sabina zu; sobald sie sie erreichten, verharrten sie reglos. Das Mädchen lächelte, um sie willkommen zu heißen. Die Musik wurde langsamer, trauriger, und Sabina kniete sich hin, dann lehnte sie sich zurück, bis ihr Kopf fast den Boden berührte, und bog den Körper durch wie eine Kunstturnerin.
Die Menge machte „Oooo!“, dann „Ahh!“, als die Schlangen über sie zu gleiten begannen, als wäre sie eine Brücke; mein persönlicher Kommentar hingegen wäre eher „Iiihh!“ gewesen.
Sabina rollte sich wieder auf die Knie und stand auf. Ihr gesamter Oberkörper war mit sich windenden Schlangen bedeckt – die Kobra hing um ihren Hals, zwei Klapperschlangen rankten sich um ihre Arme, und ihre Taille zierte ein Python. Sie tänzelte unter donnerndem Applaus aus der Manege.
Erst nachdem sie verschwunden und das Licht wieder gedämpft geworden war, kam ich auf den Gedanken, mich über ihre Hand zu wundern. Mir war während ihres unglaublichen Auftritts keine Deformation aufgefallen.
Tata!
Die Band stimmte eine traditionelle „Ist sie nicht wunderbar?“-Weise an, auf die ein einzelner Trommelschlag folgte.
Wumm! Das Licht ging wieder an und beleuchtete eine leere Manege.
Die Menge hielt den Atem an. Im ersten Moment glaubte ich, dass das rhythmische Stakkato von der Kapelle käme, aber als es lauter wurde, identifizierte ich es als Hufgetrappel.
Ein geisterhafter Schatten tauchte auf, dann sprang ein weißes Pferd aus der Dunkelheit und landete mitten im Scheinwerferlicht. Auf dem Rücken des Tiers stand Malachi Cartwright. Wie konnte er auf dem Pferd die Balance halten?
Er trug wie immer schwarze Hosen, und seine Füße waren nackt, damit sie einen besseren Stand hatten. Sein Hemd war rot, mit weiten Ärmeln, und er hatte nur wenige Knöpfe geschlossen, sodass seine Brust hervorlugte, während er das Pferd durch seine Schrittfolgen dirigierte.
Ich hatte noch nie etwas Vergleichbares gesehen, und der Stille im Publikum nach zu urteilen, erging es den anderen genauso. Cartwright und das Pferd schienen eins zu sein. Nicht ein einziges Mal bemerkte ich, wie Malachi dem Pferd einen Befehl erteilte. Nicht ein einziges Mal schien das Tier auf einen zu warten. Cartwright stand, kniete oder lag flach auf dem Rücken des Pferds, ohne zu schwanken oder aus dem Gleichgewicht zu geraten.
Die Musik schwoll zu einem Crescendo an, um das große Finale anzukündigen. Cartwright saß ab und stellte sich auf die Umrandung der Manege. Das Pferd lief schnell und immer schneller im Kreis.
Ich vermutete, dass Malachi sich mit einem kunstvollen Sprung auf Benjamins Rücken katapultieren würde, doch stattdessen lief er in die andere Richtung und baute sich vor den Zuschauern auf. Er verbeugte sich, und alle klatschten stürmisch. Dann wandte er sich mir zu und streckte mir die Hand entgegen.
„Ham Se vielleicht Lust auf ‘nen kleinen Ausritt?“, fragte er, seinen irischen Akzent schamlos für das Publikum übertreibend.
Meine Augen zuckten zu dem Pferd, das noch immer im Kreis galoppierte. „Äh, nein danke.“
„Ich werde die ganze Zeit bei Ihnen sein.“
Ich schüttelte den Kopf, aber die Zuschauer begannen, mir Ermutigungen zuzurufen. „Na machen Sie schon, Bürgermeisterin!“
„Nur Mut, Schätzchen!“
„Versuchen Sie es; es wird Ihnen gefallen.“
Vielleicht würde es das wirklich. Neugierig legte ich meine Hand in Malachis.
Er schnippte mit den Fingern, und das Pferd blieb auf der Stelle stehen. Da es keinen Sattel und demzufolge auch keine Steigbügel gab, schwang Malachi mich nach oben, bevor er hinter mir aufsaß. Ich hielt mich stocksteif und versuchte, mich nicht gegen ihn zu lehnen. Er legte die Arme um mich, das Pferd bäumte sich auf und strampelte mit den Vorderhufen in der Luft.
Mein Aufkeuchen ähnelte mehr einem Quieken. Ich wurde mit dem Rücken gegen Malachis Brust gedrückt; mein Hintern schmiegte sich zwischen seine Beine. Er drückte die Schenkel zusammen, doch anstatt mich gefangen oder gar bedroht zu fühlen, empfand ich nichts als gespannte Vorfreude. Was würde als Nächstes passieren?
Benjamins Vorderhufe landeten auf dem Boden, und er galoppierte los. Doch er setzte nicht einfach über die Barriere – sie war nur etwa dreißig Zentimeter hoch –, sondern spannte die Muskeln an und sprang, als vollführte er einen der berühmten Luftsprünge der Lipizzanerhengste, in hohem Bogen über die Umzäunung.
Wir drei schienen zu fliegen, und das Gefühl von Magie kehrte für den Bruchteil einer Sekunde zurück, bevor Benjamin auf dem Boden aufsetzte und uns unter dem begeisterten Applaus der frenetischen Menge in die Nacht davontrug.