33
„Ihr könnt jetzt runterkommen.“ Malachi schaute in unsere Richtung. „Niemand wird euch etwas tun.“
Menschen wie Tiere zogen sich in ihre jeweiligen Unterkünfte zurück, mit Ausnahme von Sabina, die ebenfalls zu uns hochsah. Schlangen wanden sich um ihre nackten Füße, und eine glitt sogar an ihrem Knöchel hoch.
„Sabina!“, donnerte Malachi.
Sie hob die Schlangen auf und legte sich mehrere um Hals und Schultern, dann entfernte auch sie sich.
Er kam auf uns zu. Wegzurennen war vermutlich keine Option.
Grace und ich rappelten uns hoch. Sie hatte noch immer die Waffe in der Hand, aber sie zeigte zu Boden.
Er blieb vor uns stehen und bedachte mich mit einem flüchtigen, fast schuldbewussten Blick.
„Wann hättest du es mir gesagt?“, fragte ich.
„Das habe ich soeben getan.“
„Du hast mir gar nichts gesagt. Wir haben euch heimlich beobachtet.“
„Er wusste, dass du hier bist“, wandte Grace ein.
„Woher?“
„Er kann Menschen in Tiere und wieder zurück verwandeln. Glaubst du, er wüsste nicht alles, was um ihn geschieht?“
„Ist das wahr?“
„Ich kann sie nicht in Tiere verwandeln, sondern nur zurück in Menschen.“
„Sie sind Gestaltwandler?“, fragte Grace.
„Gewissermaßen.“
„Vielleicht solltest du uns die ganze Geschichte erzählen.“
„Ja, vielleicht sollte ich das.“ Er machte eine schwungvolle Armbewegung zu den Unterkünften. „Lasst uns das drinnen besprechen.“
Kurz darauf saßen Grace und ich in Malachis Wagen. Sein Bett war gemacht, vermutlich, weil er den Großteil der Nacht in meinem und den Rest mit dem zugebracht hatte, was auch immer er zusammen mit den anderen im Wald getrieben hatte.
Kleidungsstücke quollen aus Schubläden unter dem Bett hervor. Der einzige Tisch war mit Büchern und Papieren bedeckt, deren Titel mich an die erinnerten, die ich in Grace’ Mansardenzimmer entdeckt hatte. Viel über paranormale Themen – Zauber, Magie, Flüche.
„Was bist du?“, fragte ich.
„Ein … Nun ja, es existiert dafür nicht wirklich ein Wort in eurer Sprache. Ich … kann gewisse Dinge vollbringen.“
Grace beugte sich nach vorn. „Magische Dinge?“
„Ja.“
„Warum?“
„Weil ich ein Roma bin.“
„Alle Zigeuner, ich meine Roma, können Magie ausüben?“ Was wahrscheinlich eine dumme Frage war, nachdem wir gerade beobachtet hatten, wie sich die Hälfte von ihnen von Tieren in Menschen verwandelte.
„Nein. Nur die reinen.“
Meine Augen wurden schmal. Begriffe wie „rein“ und „nicht menschlich“ machten mich in letzter Zeit ziemlich nervös.
„Was meinst du damit?“
„Reines Roma-Blut. Unvermischt mit dem der gadje.“
„Man sollte annehmen, dass sich so etwas in der heutigen Zeit kaum noch finden lässt.“
„Wir sind nicht aus der heutigen Zeit.“
Mein Kopf begann zu wummern. Ich rieb mir die Stirn und überließ Grace das Verhör.
„Ihr seid Zeitreisende?“, spekulierte sie.
Er hatte ernsthaft den Nerv zu lachen. „Nein. Ich wurde 1754 geboren.“
„Schon klar, Kumpel.“
Er wölbte spöttisch die Augenbrauen. „Sie haben gesehen, wie ein Bär zu einem Menschen wurde, und trotzdem könnte ich nicht zweihundertfünfzig Jahre alt sein?“
Grace biss sich auf die Lippe. „Na schön. Meinetwegen. Erzählen Sie weiter.“
„Da war eine chovhani, eine Hexe, und sie …“ Er sah zu mir, runzelte die Stirn und guckte weg. „Sie liebte mich, aber ich konnte ihre Liebe nicht erwidern.“
Sollte das ein Wink mit dem Zaunpfahl sein? War es wichtig? Jede Zukunft, die ich mir mit ihm erträumt haben mochte, war verloren. War er ein Magier? Ein schwarzer Hexer? Ein Zauberer? Ich kannte mich in der Terminologie nicht gut aus. Jedenfalls war er etwas anderes als ich, und seine Leute waren Gestaltwandler. Wenn das kein Grund war, sich nicht mit ihm einzulassen.
„Sie haben eine Hexe gegen sich aufgebracht“, folgerte Grace. „Gute Arbeit. Lassen Sie mich raten: Sie hat Ihren Allerwertesten verflucht.“
„Und den Rest von mir gleich mit.“
Grace schmunzelte; ich selbst fand nichts von alledem witzig.
„Wie ist das möglich?“, wollte ich wissen.
„Es ist ganz einfach“, murmelte Grace. „Man braucht nur den richtigen Zauberspruch und ein bisschen magische Fähigkeiten.“
„Jede Menge magische Fähigkeiten“, korrigierte Malachi. „Sie war so viel mächtiger als ich.“
„Sie hätten ihr sagen sollen, was sie hören wollte. Hätte Ihnen Jahrhunderte des Ärgers erspart.“
„Ich konnte ihr nicht sagen, dass ich sie liebte, wenn es nicht der Wahrheit entsprach.“
Grace rümpfte die Nase. „Er stammt definitiv aus einem anderen Jahrhundert.“
„Wo ist diese Hexe nun?“, fragte ich.
„Sie ist tot.“
„Und trotzdem lebst du noch?“
Er nickte knapp, aber in seine Augen war ein düsterer, gehetzter Ausdruck getreten.
Grace musterte ihn mit abwägender Miene. „Sie hat Sie zu ewiger Wanderschaft verdammt?“
„Ja.“
„Was ist mit Ihren Leuten?“
„Wir waren eine kumpa’nia. Eine Karawane und eine Familie. Ich konnte sie nicht bei ihr zurücklassen.“ Sein Blick glitt wieder zu mir. „Sie nur zu berühren, war verboten. Aber sie war so schön, und ich war schwach.“
„Klingt, als wären Sie doch ein Mensch.“
Malachi verzog die Lippen zu einem schmerzlichen Lächeln. „Sie machte sie zu jel’sutho’edrin – Gefährtentieren, die an mich gebunden sind. Sie können mich niemals verlassen, genau wie ich sie niemals verlassen kann.“ Seine Worte und seine Haltung wurden förmlicher und altmodischer, je länger er über die Vergangenheit sprach. „Würde ich nicht über meine eigene Magie verfügen, wäre ich vollkommen allein und müsste bis in alle Ewigkeit ohne menschliche Gesellschaft auskommen.“
„Aber es ist Ihnen gelungen, sie zurückzuverwandeln?“
„Mit meiner Magie kann ich sie immer nur für wenige Tage in menschlicher Gestalt halten.“
„Sie wechseln sich also ab“, schlussfolgerte ich.
„Ja.“
„Warum sind es verschiedene Tiere?“, hakte Grace nach. „Man sollte meinen, dass es einfacher wäre, sie alle in eine Art zu verwandeln.“
„Der Fluch ließ ihnen die Wahl, welches Tier sie werden wollten. Die meisten entschieden sich für eines, dem sie auch im Leben ähnelten – wie Hogarth und Moses, Zwillingsbrüder. Viele verheiratete Paare, zum Beispiel Molly und Jared, wählten das gleiche Tier.“
„Molly ist die Berglöwin, die du Mary nennst?“
„‚Molly‘ ist ein irischer Spitzname für Mary. Als Berglöwin möchte sie lieber mit der englischen Variante angesprochen werden.“ Er zuckte die Schultern. „Manche tun das, um sich und die anderen daran zu erinnern, dass sie zwei Seiten besitzen.“
Als ob das jemand vergessen könnte.
„Wo ist dein Pferd?“
„Tief im Wald. Es gefällt ihm nicht, gleichzeitig von so vielen Tieren umgeben zu sein.“
„Es wurde nicht verflucht?“
„Nein, Benjamin ist ein echtes Pferd.“ Er lächelte. „Ich mag Pferde.“
Eine Sache ließ mir keine Ruhe – eigentlich mehr als eine Sache. „Warum wollte Sabina ausgerechnet eine Schlange werden?“
„Wegen ihres Arms. Schlangen brauchen keinen.“
„Würde ein solches Gebrechen nicht im Zuge der Verwandlung kuriert werden?“
„Dies ist ein Fluch, Sheriff, kein Segen.“
„Aber warum sollten sich noch andere dafür entscheiden, Schlangen zu werden?“, wunderte ich mich.
„Das hat niemand getan.“
„Aber …“ Ich spähte durch das einzige Fenster in Richtung Schlangenkäfig.
„Auch das sind echte Tiere. Da Sabina die meiste Zeit selbst eines ist, fühlt sie sich zu ihnen hingezogen. Das war übrigens schon immer so, selbst vor dem Fluch.“
„Warum kann sie nicht sprechen?“
Er schaute nun auch aus dem Fenster. „Sie spricht schon nicht mehr, seit sie eine zweite Natur besitzt.“
Das Schuldbewusstsein in seiner Stimme spiegelte sich in seinem Gesicht wider. Mitgefühl durchströmte mich, aber ich schluckte jedwede tröstenden Worte hinunter. Er war nicht der Mann, für den ich ihn gehalten hatte, und ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte.
„Ich habe bei jedem von euch den Test mit dem Silber durchgeführt“, sagte Grace. „Niemand hat eine Reaktion gezeigt.“
„Silber hat keine Wirkung auf diesen Fluch.“
„Was dann?“
Malachi spreizte die Finger. „Keine Ahnung.“
„Wo ist hier der Wolf?“
Verwirrung flackerte über seine Züge. „Es gibt keinen Wolf.“
„Fangen Sie jetzt nicht an zu lügen, Cartwright!“, ermahnte Grace ihn. „Das würde meiner guten Laune einen ziemlichen Dämpfer versetzen.“
„Sie haben gute Laune?“, spottete er und erntete einen bösen Blick. „Wir haben wirklich keinen Wolf unter unseren Tieren.“
„Wer hat dann meinen Touristen gebissen?“
„Ein Wolf.“
„Cartwright, ich schwöre …“
„Da ist ein Wolf, nur gehört dieses Tier nicht zu uns. Ein paar von uns haben ihn gewittert, gerochen, sogar aus der Ferne gesehen, aber keinem ist es gelungen, sich ihm zu nähern.“
„Ich bin der Spur des Wolfs, der Claire attackiert hat, bis zu Ihrem Camp gefolgt.“ Grace zeigte ihm die Rune. „Und ich fand das hier unter demselben Baum wie die letzte, und zwar genau an der Stelle, an der sich die Spur verliert. Ich vermute, jemand benutzt diese Runen, um entweder Werwölfe zu erschaffen oder selbst einer zu werden.“
„Von so etwas habe ich noch nie gehört.“
„Was nicht heißt, dass es unmöglich ist.“
„Wozu sollten sich meine Leute die Mühe machen? Sie sind bereits Gestaltwandler.“
„Fragen Sie nicht mich! Ich hangle mich von einem logischen Schritt zum nächsten.“
„Der Wolf scheint von unserer Karawane angelockt zu werden. Vielleicht, weil auch wir Gestaltwandler unter uns haben. Wir werden Lake Bluff auf der Stelle verlassen.“ Mir rutschte das Herz in die Hose, aber er schaute noch nicht mal in meine Richtung. „Wir können ihn von hier weg- und in die Berge locken, wo keine Menschen leben.“
„Und dann?“, wollte Grace wissen.
Malachi stand auf, trat ans Fenster und betrachtete die fernen Gipfel. „Dann werden wir tun, was getan werden muss.“
„Ich werde mitkommen“, erklärte sie.
„Nein“, sagte er, ohne sich zu ihr umzudrehen.
„Ich bin eine Fährtenleserin, eine Jägerin, außerdem verfüge ich über ein ganzes Arsenal an Silberpatronen.“
„Sie werden hier gebraucht. Was, wenn der Werwolf uns entkommt und zurückkehrt? Was, wenn er längst weitere Artgenossen erschaffen hat und diese sich in der ganze Stadt verteilt haben?“
„Oh, zur Hölle!“
„Ja, genau die wird dann losbrechen.“
„Sie scheinen erstaunlich viel über Werwölfe zu wissen.“
„Ich weiß über alles viel. Immerhin bin ich zweihundertdreiundfünfzig Jahre alt. Wenn ihr mich jetzt bitte entschuldigen würdet, ich muss meine Leute in Bewegung setzen.“
Ich brachte Grace zur Tür, wo sie kurz innehielt. „Du hältst mich auf dem Laufenden?“
„Natürlich.“
Sie verließ den Wagen. Ich blieb drinnen und schloss die Tür. Grace war clever genug, mich nicht zu bedrängen, um zu erfahren, was ich vorhatte. Sie wusste, dass ich Abschied nehmen musste.
Ich drehte mich um, und Malachi stand vor mir; sein Atem strich über mein Haar. Ich starrte auf seinen Hals, beobachtete, wie sich seine Muskeln beim Schlucken anspannten und lockerten, und bezähmte den Drang, mich nach vorn zu beugen und meinen Mund auf die Vertiefung über seinem Schlüsselbein zu pressen.
„Werde ich dich je wiedersehen?“, fragte ich leise.
„Das wäre keine gute Idee.“
„Und letzte Nacht war eine?“
„Ich konnte nicht anders.“
„Weil ich so unwiderstehlich bin? Bitte …“
Er umfasste meine Arme, zog mich auf die Zehenspitzen und küsste mich. Er schmeckte nach Zimt und Sonnenschein; er roch wie der Ozean im Morgengrauen. Nie zuvor war ich mit solcher Leidenschaft, solcher Begierde, in die sich ein winziger Anflug von Traurigkeit mischte, geküsst worden. Ich konnte mich nicht beherrschen und erwiderte seinen Kuss.
Ich wollte ihn berühren, aber er umarmte mich so fest, drückte mich gleichzeitig an sich und hielt mich doch auf Abstand, dass ich meine Arme nicht weiter als auf Hüfthöhe anheben konnte. Noch vor zwei Wochen hätte es mir Angst gemacht, auf diese Weise gehalten zu werden. Jetzt wollte ich nur noch, dass er niemals aufhörte.
Draußen mischte sich der Ruf eines Mannes in das Brausen des Windes, und Malachi löste seinen Mund von meinem. Seine Augen waren dunkler als die Nacht, und ich erblickte mein Spiegelbild in ihren Tiefen. Eine winzige Version von mir, für immer dort gefangen.
Ich hob die Hand, woraufhin er meinen Arm losließ und ich sie an sein Gesicht legen konnte. Er hatte sich noch immer nicht rasiert, und die Stoppeln kratzten über meine Handfläche. „Besteht keine Möglichkeit, diesen Fluch zu beenden?“
Er zuckte zusammen, als hätte ich ihn nicht gestreichelt, sondern geschlagen, dann wich er zurück und schüttelte wortlos den Kopf.
„Ich könnte mir dir gehen.“
Seine Augen wurden groß, bevor er seine Sprache wiederfand. „Nein!“
Mit einer scharfen Bewegung wandte er sich ab und ließ mich allein an der Tür stehen. „Weil ich gadje bin?“
„Meine Leute würden dich niemals akzeptieren, und ich kann mich ebenso wenig von ihnen trennen wie sie sich von mir.“ Er ließ die Schultern hängen. „Ich werde niemals sterben, Claire, du hingegen schon.“
„Der Tod liegt noch in weiter Ferne.“
„Der Tod ist oft näher, als man denkt.“
Ich erinnerte mich an Edanas Prophezeiung und erschauderte.
„Dies ist keine Liebe“, murmelte er. „Wir kennen uns erst seit einer Woche.“
Er hatte recht. Diese neuen und aufregenden Emotionen, die ich verspürte, waren nichts weiter als die nachklingende Befriedigung einer großartigen Liebesnacht. Malachi war sich dessen bewusst.
Seine Verabschiedung wirkte einstudiert. Wie oft in den vergangenen zweieinhalb Jahrhunderten hatte sich eine Frau in ihn verliebt, weil er sie zum Höhepunkt gebracht hatte?
Bestimmt öfter, als ich wissen wollte.