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Ich stolperte über meine eigenen Füße, als ich Malachi nachlief und ihn vor dem Käfig entdeckte, von dem ich hätte schwören können, dass er vorhin so leer gewesen war wie mein Leben. Jetzt war er es nicht mehr.

„Mary ruht sich gern im hinteren Bereich des Käfigs aus“, erklärte er. „Bestimmt hast du sie nur übersehen.“

Ein langer, schlanker, muskulöser Berglöwe strich an den Gitterstäben entlang. Mir kam er nicht wie eine Mary vor.

„Sie halten sich einen Puma?“, fuhr Grace ihn an. Haben Sie einen an der Birne?“

„Nein, in letzter Zeit nicht.“ Cartwright wirkte wenig erschüttert über ihre Frage oder Ausdrucksweise.

Die Tierzwinger waren anders konstruiert als alle, die ich kannte – mit zwei Reihen von Gitterstäben, die weit genug voneinander entfernt waren, damit niemand eine Hand hindurchstrecken und sie verlieren konnte, die dem Besucher aber trotzdem erlaubten, die Tiere zu sehen, zu hören, zu riechen.

Auch wenn ich Mary, die Berglöwin, womöglich übersehen hatte, waren auch andere Käfige leer gewesen. Ich drängte mich an Cartwright vorbei zum nächsten.

Ein Grizzlybär trottete, die flachen, dunklen Augen unverwandt auf mein Gesicht gerichtet, zum Gitter. Er reckte den Hals, legte den Kopf zur Seite und brummte tief. Grace tauchte mit gezogener Waffe neben mir auf.

Sie starrte den Bären mehrere Sekunden an, bevor sie sich Cartwright zuwandte. „Sie wollen mich auf den Arm nehmen, oder?“

„Wir treten mit Tieren auf, Sheriff.“ Er spreizte die Hände, und sein Handtuch rutschte tiefer. Ich hoffte darauf, dass es ganz runterfallen würde, aber das geschah nicht. „Das bedeutet, dass wir Tiere brauchen.“

„Einen Affen, eine Ziege, meinetwegen auch einen Elefanten. Aber einen Puma und einen Bären? Das ist gefährlich.“

„Wir haben sie vom Tag ihrer Geburt an großgezogen.“ Sein Blick ruhte auf dem noch immer brummenden Grizzly. „Sie sind Teil unserer Familie.“

„Nun, Ihr Onkel hier scheint ziemlich mies drauf zu sein. Könnten Sie ihn bitten, den Mund zu halten?“

„Ihre Schusswaffe, Sheriff.“ Cartwright zeigte mit einem langen Finger auf die Pistole. „Er mag sie nicht.“

Grace starrte auf ihre Hand, als hätte sie die Waffe noch nie gesehen, bevor sie sie mit einer ungeduldigen Bewegung ins Holster steckte. Allerdings schloss sie den Lederriemen nicht über dem Knauf.

„Wie ich höre, haben Sie keinen Wolf in Ihrer Menagerie?“ Sie eilte zum nächsten Käfig.

Cartwright warf mir einen finsteren Blick zu, dann folgte er ihr.

„War das ein Geheimnis?“, flüsterte ich.

Er ignorierte mich. „Wie ich der Bürgermeisterin bereits sagte, sind Wölfe problematisch.“

Grace stand vor dem dritten Käfig, der tatsächlich leer war. Ich war froh, an diesem Abend wenigstens eine Sache richtig gesehen zu haben.

Von der Logik her wusste ich, dass der Berglöwe und der Bär nicht mit den Zigeunern durch den Wald getobt sein konnten, nur um dann, kurz bevor wir kamen, um sie uns anzusehen, auf wundersame Weise wieder in ihren Käfigen aufzutauchen. Aber es war ebenso ausgeschlossen, dass ich, als ich in den zweiten Käfig gespäht hatte, ein Tier von der Größe eines Grizzlybären hätte übersehen können. Der Widerspruch zwischen dem, was wahr sein musste und was es nicht sein konnte, machte mich schwindlig.

„Erklären Sie, inwiefern Wölfe problematisch sind.“ Grace linste noch immer in den leeren Zwinger.

„Sie machen den Pferden Angst.“

„Und der Berglöwe tut das nicht?“

„Wir halten die Raubtiere von ihnen fern.“

„Netter Trick.“ Grace legte den Kopf zur Seite. „Trotzdem müssen sie sich hin und wieder über den Weg laufen.“

„Ja, es kann dumme Zufälle geben. Aber meine Pferde sind hervorragend geschult.“

„Wenn sie gut genug geschult sind, um die Gerüche einer Wildkatze und eines Bären zu tolerieren, warum funktioniert das dann nicht bei einem Wolf?“

„Wölfe sind Rudeltiere. Sie kommen allein nicht gut zurecht, es sei denn, es handelt sich um Einzelgänger, und die sind unberechenbar.“

„Unberechenbarer als ein Puma?“

„Das kommt ganz auf den Wolf an.“

Grace stieß einen unterdrückten Fluch aus und trat mit der Stiefelspitze in die Erde, dann ging sie an den aneinandergereihten Käfigwagen entlang, um sich jeden einzelnen genau anzusehen.

Cartwright beobachtete sie. „Und, was habe ich gesagt?“

Ich wusste nicht, ob ich ihm von dem Wanderer erzählen durfte, der von einem Wolf angefallen worden war. Vermutlich nicht, nachdem wir unter solch strikter Geheimhaltung hier herausgefahren waren, um nach ihm zu suchen. Zum Glück hatte Cartwright noch nicht gefragt, was wir auf seinem zeitlich befristeten Eigentum verloren hatten.

„Grace ist ein bisschen kratzbürstig“, erklärte ich und folgte ihr, um ebenfalls die Insassen der einzelnen Wagen in Augenschein zu nehmen.

Auf Messingschildern standen ihre Namen, die aus einem x-beliebigen Telefonbuch zu stammen schienen. Seit wann benannte man Tiere nicht mehr nach ihren animalischen Attributen, so wie Flauschi, Pummel oder Flecki? Aber Namen wie Reißzahn, Klaue oder Blutiger Tod waren vermutlich nicht gut fürs Geschäft.

„Drei Affen, zwei Zebras, ein Kamel“, listete Grace mir auf, als ich mich zu ihr gesellte.

„Fünf Krähen, eine Eule, ein Adler und ein Habicht“, ergänzte ich. „Ihr müsst eine Menge Vogelfutter verbrauchen.“

Grace drehte sich blitzschnell zu Cartwright um. „Was war in dem leeren Käfig?“

Verwirrung legte sich auf seine Züge. „Nichts. Deshalb ist er ja leer.“

Ungeduldig schlug sie sich mit dem Handrücken gegen die Stirn. „Ich wollte wissen“, knirschte sie, „was darin war, bevor er leer wurde.

„Nichts“, wiederholte Malachi. „Wir benötigen immer wenigstens einen leeren Käfig, um die Tiere dort kurzfristig unterzubringen, während ihre eigenen gereinigt werden.“

Warum enttäuschte es mich, dass seine Erklärung Sinn ergab? Was sollte er denn zu verheimlichen haben?

Was Letzteres betraf, hatte ich keinen Schimmer; leider kannte ich die Antwort auf Ersteres nur zu gut. Ich wollte, dass Cartwright nicht vertrauenswürdig war, um eine Rechtfertigung zu haben, ihn und die Anziehung, die er auf mich ausübte, aus meinem Kopf zu verdrängen.

Ich hatte ihn begehrt, und das war mir bei keinem Mann mehr passiert, seit

„Wir sollten aufbrechen“, stieß ich hervor.

Grace schaute mir forschend ins Gesicht. „Wenn du meinst. Cartwright.“ Sie nickte knapp und verschwand in der Dunkelheit.

Ich hob die Hand wie eine Dreijährige, die zum Abschied winkte, und folgte ihr.

Es überraschte und frustrierte mich gleichermaßen, dass er mich einfach so gehen ließ. Andererseits konnte ich es ihm schwerlich verübeln. Er musste glauben, dass ich völlig bescheuert war. Trotzdem hielt ich mir keine wilden Tiere wenige Meter von meinem Schlafplatz entfernt.

Um fair zu bleiben: Nicht er war es, der geküsst hatte, als wollte er alles geben, nur um dann panisch wegzurennen. Aber bestimmt war Malachi auch nie von jemandem verraten worden, dem er blind vertraute.

„Hast du irgendetwas entdeckt?“, fragte ich, kaum dass wir auf die Schnellstraße abbogen, die uns zurück in die Stadt bringen würde.

„Ich habe dich mit der Zunge im Mund dieses Typen entdeckt.“

„Das stimmt nicht.“ Auf ihren verständnislosen Blick hin murmelte ich: „Du kamst zu spät, um das zu sehen.“

„Wer sagt, dass ich euch nicht schon eine Weile beobachtet habe, bevor ich eingriff?“

Ich funkelte sie an, und sie lachte. „Entspann dich, Claire, das habe ich nicht, aber man braucht auch kein Detective zu sein, um sich zusammenzureimen, was du getrieben hast.“

Ich schätze, Cartwrights Erektion hatte uns verraten. Es könnten aber auch meine geschwollenen Lippen, mein zerzaustes Haar oder mein zerknittertes Oberteil gewesen sein.

„Du hast von mir verlangt, dass ich ihn ablenke.“

Grace schnaubte. „Ich meinte, dass du mit ihm über seine Arbeit sprechen sollst.“

„Er war nicht in Plauderlaune.“

„Darauf würde ich wetten.“ Sie warf mir einen schnellen Seitenblick zu, bevor sie sich wieder auf die dunkle Straße konzentrierte. „Ich habe tatsächlich etwas entdeckt.“

„Abdrücke?“

„Keine sichtbaren.“

Was hieß, dass es keine gab.

„Wenn nicht Abdrücke, was dann?“

„Ich zeig es dir drinnen.“

Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass sie auf Seitenstraßen ausgewichen war, um das Stadtzentrum zu umgehen, und wir uns meinem Haus nun aus der entgegengesetzten Richtung näherten. Ich musste besser auf meine Umgebung achten. Das war die oberste Regel in dem Selbstverteidigungskurs gewesen, den ich danach belegt hatte.

Ich hatte den Kurs nicht abgeschlossen, weil mir die Nachricht vom Tod meines Vaters in die Quere gekommen war. Hätte ich es getan, wüsste ich vielleicht, wie ich mich verhalten sollte, wenn Cartwright mir zu nahe kam. Alles war besser, als wie ein Karnickel beim Anblick eines Wolfs zu erstarren.

Grace folgte mir zur Vorderveranda und wartete geduldig, bis ich meine Schlüssel herausgekramt und die Tür aufgesperrt hatte. Auf meinem Weg durchs Haus betätigte ich jeden einzelnen Lichtschalter, sodass die Räume am Ende so hell erstrahlten wie an Weihnachten.

Das Grrr einer überraschten Katze erklang aus Richtung Treppe, bevor Oprah sie mit schnelleren Bewegungen, als ich seit Jahren bei ihr gesehen hatte, herabsprang. Sie strich um Grace’ Beine und begann zu schnurren.

„Hey, du lebst immer noch?“, murmelte Grace und beugte sich nach unten, um sie hochzunehmen.

Die beiden waren schon immer ein Herz und eine Seele gewesen. Wann immer Grace hier übernachtet hatte, hatte Oprah zusammengerollt auf ihrem Oberkörper geschlafen. Ich wäre eifersüchtig gewesen, hätte ich Grace nicht auch geliebt.

Ihr Vater hatte ihr kein wie auch immer geartetes Haustier erlaubt. Er mochte keine Tiere. Manchmal hatte ich mich gefragt, ob er seine Tochter wirklich mochte und sie deswegen so viel Zeit hier verbrachte.

Nachdem die McDaniel-Brüder Lake Bluff ein für alle Mal den Rücken gekehrt hatten, war der frühere Sheriff McDaniel immer unleidiger geworden. Bis zu seinem Tod hatten sich die Einheimischen ausnahmslos von ihrer Schokoladenseite gezeigt, aus Angst, sich ansonsten mit ihm anzulegen.

Ich warf meine Schlüssel auf das Tischchen in der Diele. Das Klirren erschreckte Oprah. Zwei Paar grüner Augen – eines mehr gelblich, das andere ins Blaue tendierend starrten mich an.

„Könntest du aufhören, meine Katze zu verhätscheln, und mir zeigen, was du gefunden hast?“, verlangte ich.

Grace rieb die Wange an Oprahs scheckigem Kopf und setzte sie ab. Die Katze strich weiter zwischen ihren Beinen hindurch, als wären sie ein Irrgarten.

„Bekomme ich nicht zuerst einen Drink?“

„Einen Drink?“

„Wein. Bier. Whiskey. Ganz egal. Ich bin offiziell außer Dienst.“ Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. „Seit etwa einer Stunde.“

Ich zuckte mit den Schultern und machte mich auf den Weg in die Küche. Kaum dass ich Oprahs Futternapf gefüllt hatte, entschied sie sich gegen Grace und für das Fressen.

Ich öffnete meinen Kühlschrank. „Merlot. Sauvignon Blanc. Budweiser.“

„Ich nehme das Gleiche wie du.“ Grace lehnte sich an den Tresen und ließ den Blick über die Küchenschränke und die Fenster schweifen. Sie hatte schon immer nach irgendetwas geforscht, selbst als Kind. Ihre eigentümlich hellen Augen und ihre übersteigerte Wissbegier hatten die Menschen nervös gemacht. Nur mich nicht.

Ich schnappte mir die Merlot-Flasche und zwei Gläser. „Wollen wir uns auf die Terrasse setzen?“

„Gern.“ Grace öffnete die Glastür und ließ mir den Vortritt zur ausladenden weißen Holzplattform mit Aussicht auf den Wald.

Ich zündete die Dochte mehrerer Zitronenöl-Fackeln an, die den doppelten Zweck erfüllten, Licht zu spenden und uns – theoretisch – die Moskitos vom Leib zu halten, anschließend schenkte ich jedem von uns ein Glas blutroten Wein ein – warum war in letzter Zeit alles blutrot? – und reichte Grace das ihre.

Sie nahm einen Schluck. „Ah. Viel besser als der Fusel, den wir während der Highschool getrunken haben.“

Ich zog eine Grimasse. „Mad Dog 20/20 und Boone’s Farm Strawberry Hill.“

„Wir hielten uns für so cool.“ Sie prostete mir zu. „Auf verbesserte Geschmacksknospen.“

„Darauf trinke ich.“ Ich hob mein Glas. Das samtige Beerenaroma bewirkte, dass sich meine Zunge vor Genuss zusammenrollte, während der unaufdringliche Duft von Erde und Eiche an meiner Nase vorbeizog.

Grace stellte ihr Glas ab und zog etwas aus ihrer Hosentasche. Verwirrt blinzelte ich auf etwas, das wie ein Rindenstück aussah. „Ja, und?“

Sie nahm eine Taschenlampe von ihrem Gürtel und knipste sie an. Als sie den Lichtstrahl auf ihre Hand richtete, zuckte ich zurück und verzog das Gesicht, als wäre mir ein schlechter Geruch in die Nase gedrungen.

Ein hellrotes Hakenkreuz war in das Holz eingekerbt.

„Kacke.“

„Das kannst du laut sagen.“

„Glaubst du, es ist Blut?“, fragte ich.

„Ich hoffe nicht.“

„Wo hast du es gefunden?“

„Unter dem Apfelbaum, wo unser Wandersmann seiner Aussage nach angegriffen wurde.“

„Es lag dort einfach?“

„Ja.“ Sie biss sich auf die Lippe. „Ich habe kein Blut gesehen.“

„Also hat der Mann sich geirrt und den Wolf doch nicht angeschossen?“

„Ich fürchte, ja.“ Sie runzelte tief in Gedanken versunken die Stirn.

„Was noch?“

„Die Fußspuren waren auffällig. Ich entdeckte seine und dann noch ein halbes Dutzend Abdrücke, die von einem Hund herrühren könnten. Nur dass es ein sehr großer Hund gewesen sein müsste. Aber es gab noch einen zweiten Satz menschlicher Fußabdrücke, überall ringsum.“

„Wie seltsam.“

„Ja, besonders, da die einzigen Abdrücke, die irgendwo hinführten, von einem Menschen stammten.“

„Ich komm nicht mit.“

„Ich auch nicht. Der Tourist hat sich aus dem Staub gemacht, die mysteriöse zweite Person ebenso, aber der Hund? Der nicht.“

„Wohin kann er verschwunden sein?“

Sie hob die Hände und nahm sie wieder runter. „Die einzige Richtung wäre nach oben.“