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Der Rest des Tages verging mit der Durchsuchung des Camps und der Befragung der Zigeuner. Sie waren nicht glücklich darüber, aber da Malachi ihnen befohlen hatte zu kooperieren, taten sie es. Trotzdem hörte ich jede Menge Gemurmel auf Romani und Gälisch, das alles andere als freundlich klang.
Grace brachte ein paar ihrer Polizisten mit, aber sie sagte ihnen so wenig wie möglich. Da alle wussten, dass ein Wolf frei herumlief und niemand den Zigeunern über den Weg traute, durchsuchten sie das Camp sowie die nähere Umgebung gründlich und ohne zu murren.
Sie entdeckten weder ein geheimes Wolfsversteck noch den geringsten Hinweis auf einen wie auch immer gearteten Hund. Es waren dort nur dieselben Tiere, die immer in den Käfigen hockten. Sobald das erledigt war, schickte Grace alle außer mir zurück in die Stadt und führte die Befragungen selbst durch, allerdings mit Malachi an ihrer Seite. Noch eine kluge Taktik. Wie sollte sie den Leuten erklären, dass sie einem nach dem anderen eine Silberkugel zuwarf? In Malachis Gegenwart musste sie das nicht tun. Mich beschlich der Verdacht, dass sich seine Leute ein wenig vor ihm fürchteten.
Was mich wirklich interessierte, war, was Grace tun würde, falls einer von ihnen die Kugel fing und in Flammen aufging.
Während sie sich den nächsten Artisten vorknöpfte, schlenderte ich davon. Sie hatte mich angewiesen, das Geschehen im Auge zu behalten, aber wonach genau ich Ausschau halten sollte, wusste ich nicht.
Nahm Grace wirklich an, dass der Werwolf einfach ins Camp spazieren und sich von uns erschießen lassen würde? Und selbst wenn dem so wäre, womit sollten wir ihn erschießen? Mit einer einzigen, sechzig Jahre alten Patrone, die in keine unserer Waffen passte?
Obwohl ich die einzige – zumindest noch lebende – Person war, die einen Werwolf gesehen hatte, und trotz Doc Bills Behauptungen und Grace’ Überzeugung hatte ich noch immer Probleme, es zu glauben.
Ich stand vor dem Schlangenkäfig, der sich ein wenig von den anderen Tierwagen unterschied. Da eine Schlange mühelos zwischen den Gitterstäben hindurchschlüpfen könnte, bestand die Vorderseite aus Glas.
Gegen die hellen Strahlen der untergehenden Sonne anblinzelnd, zählte ich die Schlangen. Es schien eine neue darunter zu sein. Nun, Malachi hatte gesagt, dass Sabina sie aufgabelte, wohin sie auch ging. Was für ein merkwürdiges Mädchen.
Ein plötzlicher Schwall zorniger Männerstimmen erregte meine Aufmerksamkeit, und ich folgte ihnen zu dem größten, am kunstvollsten bemalten Wagen auf der Lichtung. An einer Seite prangte der gleiche rote Vollmond, den ich auf Edanas Karten gesehen hatte. Ein verborgener Mond, was auch immer das sein sollte, musste für die Roma von besonderer Bedeutung sein.
Vor dem Bild standen Malachi und Hogarth, in einen multilingualen Streit vertieft. Offensichtlich hatte Grace ihre Befragung inzwischen abgeschlossen. Ich hätte mich zurückziehen sollen, doch die Anspannung, die in der Luft lag, veranlasste mich, reglos stehen zu bleiben. Ich hatte nicht ein einziges Mal erlebt, dass einer der Zigeuner respektlos mit Malachi umging – bis jetzt.
Der stämmige Mann beugte sich nach unten, brachte sein Gesicht dicht vor das von Malachi und spie ihm etwas auf Romani entgegen, bevor er sagte: „Du musst es tun, ruvanush, denn sonst müssen wir alle weiter leiden.“
„Denkst du, das wüsste ich nicht?“ Malachi klang derart gepeinigt, dass ich unwillkürlich einen Schritt in seine Richtung machte.
Die Männer blickten auf. Malachis Lippen wurden schmal, und er bedachte Hogarth mit einem finsteren Blick, den dieser mit demselben Ausdruck erst in seine Richtung, dann in meine quittierte, bevor er zwischen den Bäumen verschwand.
„Es tut mir leid“, entschuldigte ich mich. „Ich wollte euch nicht stören.“
Malachi überwand die kurze Distanz zwischen uns, dann blieb er so nah vor mir stehen, dass sich unsere Körper fast berührten. Er nahm eine Strähne meines Haars zwischen seine Finger und rieb sie. „Feuer und Eis. Du bist so verdammt schön.“
Wenn er mich auf diese Weise ansah, fühlte ich mich tatsächlich schön. In seinen Augen war ich das womöglich sogar.
„Claire!“
Ich drehte mich um, Malachi ließ meine Haare los und trat einen Schritt zurück. Als Grace näher kam, streckte sie den Arm in Malachis Richtung aus, als wollte sie ihn mit einem Zauber belegen. Obwohl ich wusste, womit sie die vergangenen Stunden zugebracht hatte, zuckte ich zusammen, als etwas Kleines, Glänzendes auf sein Gesicht zuflog.
Er fing die Kugel mit atemberaubender Geschwindigkeit aus der Luft. Anschließend gab er sie Grace mit einer sardonisch hochgezogenen Braue zurück. „Ich muss Sie leider enttäuschen, Sheriff.“
Schulterzuckend nahm sie sie entgegen. „Sie dürfen es mir nicht übel nehmen.“
„Das tue ich nicht.“ Mit einem Kopfnicken, das seinen silbernen Ohrring in Schwingung versetzte, wandte er sich ab.
„Grace …“, begann ich, aber sie hob die Hand.
„Nicht eine einzige Person hat beim Kontakt mit Silber zu brennen begonnen. Ich hab mich da in etwas verrannt.“
„Du klingst nicht gut.“
„Ich stehe wieder am Nullpunkt. Und ich kann unmöglich jeden in der Stadt auf die Probe stellen.“ Sie seufzte so tief, dass ihre Schultern bebten. „Ich überlege, das Festival abzublasen.“
„Das kannst du nicht tun!“
Wir blickten uns unverwandt in die Augen. „Doch, ich denke, das kann ich.“
„Aber das würde Lake Bluff den Rest geben.“
„Und du glaubst, ein räuberischer Wolf wird das nicht tun? Es sind inzwischen so viele Menschen hier, dass die ganze Stadt ein einziges verdammtes Büfett darstellt. Kein Wunder, dass das Biest hier aufgetaucht ist.“
„Hör doch, was du da sagst.“ Ich warf die Hände in die Luft. „Du willst unsere Haupteinnahmequelle zum Versiegen bringen, weil du denkst, dass uns Gefahr von einem Werwolf droht. Sag das den Händlern und den Einwohnern, und ich garantiere dir, sie werden uns bei der nächsten Wahl beide des Amtes entheben.“
„Ich pfeif drauf. Abgesehen davon muss ich ja nichts von einem Werwolf sagen; ‚tollwütiger Wolf‘ wird vollkommen genügen.
„Du kannst die Menschen nicht dazu zwingen abzureisen, Grace.“
„Ich weiß.“ Sie ließ die Schultern hängen. „Ich hatte gehofft, die Lage dadurch zu entspannen, aber so etwas funktioniert nie. Wir können ebenso gut heimfahren.“
Ich linste zu dem Wagen, von dem ich annahm, dass es Malachis war, aber der Mann war verschwunden.
„Bleibst du, um dir die Vorstellung anzusehen?“, wollte sie wissen.
Ich dachte darüber nach, dann schüttelte ich den Kopf. Ich wollte mehr über die Rune herausfinden und auch über diese Sache mit Hitlers Werwolf-Armee. Abgesehen davon brachten mir die Zigeuner – mit Ausnahme von Malachi – nicht gerade warme Herzlichkeit entgegen. Das war nie anders gewesen, außer im Fall von Sabina, aber sie hatte ich den ganzen Tag nicht gesehen.
Ich folgte Grace zu ihrem Streifenwagen, der neben meinem Auto parkte. Bevor ich hergekommen war, hatte ich mein Auto geholt und das ganze Haus nach der verschwundenen Rune durchsucht. Vergebens.
„Ich werde ein paar meiner Männer hierlassen“, sagte sie. „Es kann nicht schaden.“
Die Zigeuner liefen geschäftig umher, um alles für die abendliche Vorstellung bereit zu machen. Es trafen schon die ersten Zuschauer ein.
„Fährst du jetzt nach Hause?“, fragte ich.
„Ja.“
Wir verabschiedeten uns, und sie verließ den Parkplatz. Ich blieb noch ein paar Minuten in meinem Wagen sitzen, wehmütig darauf hoffend, dass Malachi noch mal auftauchen würde. Ich könnte bleiben und mir die Show ansehen, aber nach der letzten Nacht und dem heutigen Tag bezweifelte ich, dass ich durchhalten würde, ohne einzuschlafen.
Ich rief in meinem Büro an, aber Joyce war entweder nicht da oder ging nicht ran. Vermutlich war es zu spät. Ich versuchte es bei ihr zu Hause, mit dem gleichen Resultat. Vielleicht war sie gerade auf dem Weg hierher. Ich könnte warten oder mich mit dem Gedanken trösten, dass sie angerufen hätte, wenn es ein Problem gäbe. Dafür gab es schließlich Handys. Ich ließ den Motor an und machte mich auf den Heimweg.
Als ich von dem Kiesweg, der zum See führte, abbog und mich über die kurvige Straße den Hügel hochschlängelte, ging gerade die Sonne unter und erzeugte lange Schatten auf dem Asphalt. Grace war längst weg; noch nicht einmal ein leises Flackern ihrer Rücklichter war in der Ferne zu erkennen.
Zwei Dutzend Autos kamen mir entgegen, dann war die Landstraße wie ausgestorben. Die letzten Lichtreste sickerten durch die Pinien und ließen Staubpartikel über meine Windschutzscheibe tanzen.
Alles war so schrecklich still. Kein Wind, nicht ein einziger Vogelruf. Es lag die gleiche unbewegte, schwüle Atmosphäre in der Luft, die einem Tornado vorausgeht. Ich trat aufs Gaspedal; ich wollte nur noch nach Hause und die Tür hinter mir zusperren.
Ein dunkler Schemen tauchte wie aus dem Nichts vor meinem Auto auf; mir blieb kaum die Zeit, mich zu wappnen, als ich auch schon mit ihm zusammenprallte. Ich stieg auf die Bremse, riss das Lenkrad nach rechts und kam mit einem derart heftigen Ruck zum Stehen, dass ich nach vorn geschleudert wurde, bis mein Gurt mich mit einem Klicken abfing. Der Aufprall war nicht heftig genug gewesen, um meinen Airbag zu aktivieren.
Ich schnallte mich ab und sprang aus dem Wagen.
Ein großer schwarzer Wolf lag unter der rechten Seite meiner Stoßstange. Blut verdunkelte die Straße, und der Hals des Tiers war in einem unnatürlichen Winkel verdreht.
Ich schlich näher, da öffnete der Wolf die Augen. „Balthazar“, keuchte ich.
Er ruckte den Kopf nach vorn, und das Krachen, das die Bewegung begleitete, ließ mich zurücktaumeln. Als er sich schüttelte, flogen Blutstropfen aus seinem Fell und prasselten wie Regen auf die Straße und die Vorderseite meines Autos.
Ich hechtete hinein. Das Einrasten der automatischen Schlösser gab mir ein Gefühl der Sicherheit, wenn auch nur für den Sekundenbruchteil, den der Wolf brauchte, um auf die Motorhaube zu springen.
Ich hatte nicht die Zeit nachzudenken, geschweige denn zu reagieren, aber ich hätte sowieso nicht gewusst, was ich tun sollte. Der Wolf mit Balthazars Augen machte einen Satz, landete mit der Schnauze auf der Windschutzscheibe und hinterließ eine glitschige Blutspur auf dem Glas. Ich schrie auf und krümmte mich in meinem Sitz zusammen.
„Er kann nicht rein“, redete ich mir gut zu. „Windschutzscheiben sind wesentlich schwerer zu zertrümmern, als man denkt.“
Ich fasste nach dem Zündschlüssel, als Balthazar von Neuem attackierte. Das Glas zerbarst.
Knurrend und geifernd drängte sich mir seine Schnauze entgegen; seine Krallen kratzten über die Motorhaube, als er um einen besseren Halt kämpfte. Entsetzt und fasziniert zugleich saß ich wie versteinert da. Ich hatte immer gewusst, dass Balthazar es auf mich abgesehen hatte.
Dann riss ich mich zusammen. Ich hatte nicht vorgehabt, ihn bei einer Wahl gegen mich gewinnen zu lassen; und genauso wenig würde ich ihn hier gewinnen lassen …
Ich schnallte mich blitzschnell an, startete den Motor und trat aufs Gaspedal. Das Auto machte einen Satz nach vorn, wodurch mir der Wolf gefährlich nahe kam. Ich stieg mit voller Wucht auf die Bremse, und Balthazar flog über die Motorhaube, landete auf dem Boden vor dem Kühlergrill.
Ich zögerte nicht, sondern trat das Gaspedal durch und überfuhr ihn.
Meine Vorderräder hoben und senkten sich mit einem übelkeiterregenden Rumsen; gleich darauf taten meine Hinterräder das Gleiche.
„Bremsen. Rückwärtsgang einlegen.“ Ich führte meine eigenen Anweisungen aus, so schnell ich konnte. Aber als ich über meine Schulter sah, stand Balthazar schon wieder auf.
Ich rammte ihn ein weiteres Mal und rollte über ihn hinweg.
Er stand auf.
Balthazar, der Wolf, kauerte angriffslustig im Licht meiner Scheinwerfer. Ich könnte ihn die ganze Nacht überfahren, und es würde nichts bringen. Er wollte meinen Tod.
Ich tastete nach meinem Handy, aber ich traute mich nicht, meinen Gegner auch nur für eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Er attackierte; ich auch. Wir spielten Wer kneift zuerst?
Erneut trat ich das Gaspedal durch. In der Sekunde vor dem Zusammenstoß ertönte ein lautes Krachen, und der Wolf explodierte. Ich überfuhr ihn trotzdem. Ich konnte nicht aufhören.
Ich hatte panische Angst, dass mein Auto ebenfalls in die Luft fliegen könnte, deshalb hielt ich erst an, als ich mehrere hundert Meter zwischen mich und das Feuer gebracht hatte. Dann blinzelte ich in den Rückspiegel und beobachtete, wie Balthazar verbrannte.
Jemand hatte auf ihn geschossen. Jemand, der genug über Werwölfe wusste, um eine Silberkugel auf ihn abzufeuern.
Ich scannte mit den Augen den Wald, aber da war niemand.