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Als ich eine Stunde später die Rathaustür hinter mir absperrte, zog am Horizont gerade die Dämmerung herauf. Joyce war gegen sechs gegangen, um wie jeden Tag in flottem Tempo die zwei Kilometer nach Hause zu traben.
Mein eigener Heimweg war beträchtlich kürzer. Mein Vater hatte mir das größte Haus in Lake Bluff hinterlassen – ein weißes, weitläufiges, zweistöckiges Gebäude mit einer Veranda, die das Erdgeschoss umsäumte und zu einer Terrasse mit Blick über den Garten führte. Um nach Hause zu gelangen, musste ich nicht mehr tun, als die entgegengesetzte Richtung zu den Geschäften auf der Center Street einzuschlagen und drei Blocks bergauf zu laufen.
Die Straßenlaternen brannten noch nicht. Die untergehende Sonne warf Ranken aus Licht und Schatten auf den Asphalt.
Meine Absätze klapperten – ein vage unheimliches Geräusch, das meine Einsamkeit unterstrich, aber ich hatte hier nichts zu befürchten. Kriminelle Übergriffe waren in Lake Bluff praktisch unbekannt. Die einzige Zeit, in der so etwas vorkam, war während des Festivals, und dann steckten ausnahmslos Nichteinheimische dahinter. Es hatte hier seit Jahrzehnten keinen Mord mehr gegeben.
Wie kam es dann, dass mich plötzlich dieses Frösteln überlief und ich in eine wesentlich schnellere Gangart verfiel?
Mächtig und mitternachtsblau ragten in der Ferne die Berge zum Himmel. Was auch geschah, diese Gipfel würden immer dort sein. Ihr Anblick beruhigte meine Nerven.
Mit einem fast hörbaren Seufzen tauchte die Sonne unter den Horizont, und das graue Zwielicht des frühen Abends breitete sich über meine Umgebung.
Ein Kiesel kullerte zu meiner Rechten den Hang hinab. Mein Blick zuckte in die Richtung, dann sah ich einen Schatten zwischen den Bäumen davonhuschen. Zögernd schaute ich zum Rathaus, das inzwischen weiter entfernt war als meine Haustür.
Mit neuer Entschlossenheit wandte ich das Gesicht nach vorn und setzte meinen Weg fort.
Seit fast drei Wochen legte ich diese Strecke zweimal täglich zurück und war dabei nie nervös gewesen. Andererseits hatte ich bis heute Abend hier draußen auch noch nie eine Präsenz gespürt.
Etwas heulte – das Geräusch war scharf und unvertraut. Ich hatte in meinem Leben schon Tausende Kojoten gehört, aber keiner hatte so geklungen.
„Muss aber einer sein“, murmelte ich. Trotz der weiten, unbebauten Flächen und der Unmenge an Bäumen hatte es in diesen Bergen seit sehr langer Zeit keinen Wolf mehr gegeben.
Der schrille, kummervolle Ton erstarb. Ich wartete auf eine Antwort, doch es kam keine.
Seltsam. Wann immer ich als Kind Kojotengeheul gehört hatte, war es mehr als ein Tier gewesen.
Ein Kratzen auf dem Asphalt ließ mich herumfahren, dann stieg ein Schrei in meiner Kehle auf, als ich den Mann hinter mir entdeckte.
„Balthazar“, keuchte ich. „Was tun Sie hier?“
Er trat zu nahe an mich heran; das tat er immer. Ich war mir nie ganz sicher, ob er ein Nahredner war oder einfach nur ein Mistkerl, der seine Statur missbrauchte, um andere einzuschüchtern.
Balthazar Monahan musste über einen Meter neunzig groß und um die hundertdreißig Kilo schwer sein. Sein riesiger, von einem schwarzen Hemd verhüllter Brustkasten nahm mir die Sicht. Aus seiner zum Bersten gespannten Knopfleiste sprossen vereinzelte Haare hervor. Balthazar war nicht nur ein Hüne, sondern auch extrem behaart.
Ich wich zurück und starrte nach oben in seine großen, bebenden, gleichfalls behaarten Nasenlöcher. Mit einem blechernen Geräusch gingen die Straßenlaternen an, und ihr Licht verlieh seinen braunen Augen einen goldenen Schimmer.
Er grinste, und in diesem Moment erkannte ich, dass er mir absichtlich Angst machte, vermutlich sogar stundenlang zwischen den Bäumen darauf gewartet hatte, dass ich nach Hause gehen würde. Ich hatte versucht, meine Panik vor Männern zu verbergen, aber gleich einem wilden Tier hatte Balthazar meine Schwäche erkannt und beutete sie nun aus.
„Ich will ein paar Informationen über diese Illegalen unten am See.“
Ich runzelte die Stirn. Wie hatte er davon so schnell erfahren?
So, wie er instinktiv meine verletzliche Stelle erraten hatte, schien er nun meine Gedanken zu erraten. Er redete in seinem flachen Yankee-Akzent weiter, der schlimmer an meinen Nerven zerrte als zuvor das mysteriöse Heulen.
„Einer meiner Reporter hat Sie und unseren Häuptling in diese Richtung abdüsen sehen.“ Er zeigte zum See.
Balthazar bezeichnete Grace ständig als unseren Polizeihäuptling, als wäre diese Anspielung die witzigste Sache der Welt.
„Sie hatten es so eilig“, setzte Monahan hinzu, „dass er beschloss, Ihnen zu folgen.“
Manchmal erinnerten Balthazars Reporter eher an Spione.
„Stellen Sie sich seine Überraschung vor, dort auf Zigeuner zu stoßen.“
„Stellen Sie sich meine vor“, murmelte ich.
Sein Grinsen wurde breiter, und ich hätte mir am liebsten eine geschallert. Vor meinem geistigen Auge sah ich meine Worte schon als morgige Schlagzeile.
„Die Karawane wurde als Unterhaltungsprogramm für das Festival engagiert“, ruderte ich zurück. „Wenn Sie mehr wissen wollen, sprechen Sie mit Joyce.“
„Ich spreche lieber mit Ihnen.“
Ich knirschte so heftig mit den Zähnen, dass das Geräusch laut hörbar die plötzliche abendliche Stille durchdrang. Was war mit dem … was auch immer geheult hatte, passiert?
Ich lenkte meine Aufmerksamkeit zurück zu meinem aktuellen Problem. „Sie bieten traditionelle Zigeuner-Unterhaltung – Wahrsagerei und dergleichen.“
„Wenn die wirklich nur als Unterhaltungsprogramm hier sind, warum sind Sie und die Rothaut dann während der Arbeit so überstürzt dorthin gefahren?“
Seine Wortwahl schockierte mich, trotzdem unterließ ich es, ihn zu korrigieren. Grace würde ihm eines Tages in den Arsch treten, und ich würde dabei zusehen, vielleicht sogar helfen. Es war schon so lange her, dass wir zusammen Spaß gehabt hatten.
Da ich Balthazar Monahan auf gar keinen Fall verraten würde, dass Joyce die Karawane ohne mein Wissen angeheuert und Grace mich zum See gezerrt hatte, um sie zu verscheuchen, log ich: „Wir wollten die Karawane in der Stadt willkommen heißen.“
„Sie wissen mit Ihrer Zeit nichts Besseres anzufangen?“
Während des ganzen Gesprächs hatte ich gegen meine Angst, mit einem Mann allein im Dunkeln zu sein, angekämpft. Jetzt wurde ich wütend, was mich für gewöhnlich in Schwierigkeiten brachte.
„Es ist jetzt fast neun, und ich bin gerade erst aus einem Büro rausgekommen, das ich heute Morgen um die gleiche Zeit betreten habe. Warum schreiben Sie das nicht in Ihrer Zeitung?“
Er presste seine papierdünnen Lippen aufeinander. Seine Wangen verfärbten sich dunkel, was seinem rötlichen Teint eine fleckige Marmorierung verlieh. Zorn blitzte in seinen schwarzen Augen auf, und ich hätte schwören können, dass er knurrte, als er nach mir fasste.
Noch bevor er die Finger um meinen Arm schließen und tun konnte, was auch immer ihm vorschwebte, ertönte ein Heulen aus dem Wald. Es war so laut und so nah, dass ich aufkeuchte und mir vor Schreck fast das Herz zersprang.
„Was zur Hölle ist das?“, murmelte Balthazar.
„Klingt nach einem Wolf.“ Damit rechnend, dass das Tier aus dem Wald hervorbrechen und nicht nur unserer Neugier, sondern auch unseren Leben ein Ende setzen würde, starrte ich zwischen die dichten, düsteren Baumreihen.
Ich machte mich darauf gefasst, dass Monahan mich auslachen und daran erinnern würde, dass die letzten Timberwölfe schon vor Urzeiten Jägern zum Opfer gefallen waren und sich die Neuansiedlung von Rotwölfen als Misserfolg entpuppt hatte. Die einzigen großen wild lebenden Tiere in diesen Bergen waren Bären und Rotluchse, und die heulten nicht.
Als er stumm blieb, riskierte ich, meinen Blick von den Schatten, die mit schwindelerregender Geschwindigkeit zu flackern und zu tanzen begonnen hatten, abzuwenden und auf ihn zu richten.
Das Einzige, was ich sah, war sein Rücken, als er in die entgegengesetzte Richtung davonhastete. Die Erleichterung, die mich durchströmte, machte mich noch schwindliger. Es störte mich noch nicht mal, allein zu sein mit … was auch immer – solange nur Balthazar verschwunden war.
„Braves Hündchen“, flüsterte ich und trat vorsichtig den Rückzug an. Mein Haus lag nur noch ein kurzes Stück hügelaufwärts hinter einer Kurve, trotzdem ließ ich die Bäume nicht aus den Augen. Sollte ich von einem wilden Tier zerrissen werden, das es in dieser Gegend gar nicht geben durfte, wollte ich es zumindest kommen sehen. Zu viele schlimme Dinge in meinem Leben hatten mich unvorbereitet von hinten getroffen.
Mein keuchender Atem überlaut in der Stille, schlich ich mit klackenden Absätzen meiner sicheren Zuflucht entgegen.
Die Bäume raschelten. Ein Schatten irrlichterte.
Der Wind? Oder etwas Substanzielleres und Tödlicheres?
Ich hätte schwören können, dass mir aus den Tiefen des Waldes Augen entgegenstarrten. Ich blinzelte; ich konnte nicht anders. Nachdem ich den ganzen Tag und den halben Abend durchgearbeitet hatte, war ich todmüde. Als ich meine Augen wieder öffnete, war das andere Augenpaar verschwunden.
Ich drehte mich um und stieß so unerwartet mit Malachi Cartwright zusammen, dass ich strauchelnd zurückprallte.
Er stabilisierte mich, dabei kratzten seine rauen Hände über meine Ärmel. Ich hob meinen erschrockenen Blick zu seinem Gesicht und geriet in den Bann seiner Schönheit.
Ich hatte viel Zeit in Gegenwart anziehender Männer und Frauen verbracht – in der Fernsehbranche wimmelte es nur so von ihnen. Es war mir schnell bewusst geworden: Je attraktiver die Leute waren, desto weniger glaubten sie, sich anstrengen zu müssen. Cartwright schien ihre Auffassung nicht zu teilen.
Mit einem Gesicht und einem Körper wie seinem hätte er für GQ-Werbungen modeln oder zumindest in Unterwäsche einen Laufsteg hinabschreiten können. Stattdessen reiste er in einem Planwagen durchs Land und arbeitete mit Tieren, bis seine Hände so hart waren, dass die Schwielen hörbar über den Stoff meines Kostüms rieben.
„Haben Sie …“ Ich unterbrach mich, als mir eine Idee kam. „Gibt es einen Wolf in Ihrer Menagerie?“
„Warum fragen Sie?“
„Ich habe ein Heulen gehört.“
Sein Blick glitt zu den Bäumen. „Gerade eben?“
„Vor ein paar Minuten. Sie haben es nicht gehört?“
Er schüttelte den Kopf, starrte jedoch weiterhin in den Wald.
Seltsam.
„Was machen Sie eigentlich hier?“
„Ich wollte mir Ihre hübsche Stadt ansehen.“
„Der Sheriff hat Ihnen untersagt, abends herzukommen.“
Er richtete seine dunklen Augen wieder auf mich. „Ich nehme keine Befehle von Sheriff McDaniel entgegen.“
Ich bezweifelte, dass er Befehle von irgendjemandem entgegennahm. In diesem Zusammenhang fiel mir wieder ein, wie alles, was er gerade brauchte – Handtuch, Hemd, Vertrag – an diesem Nachmittag auf fast wundersame Weise in seiner Hand aufgetaucht war. Um den großartigen Propheten Mel Brooks zu zitieren: Nicht übel, der König zu sein. Ich lächelte über meinen kleinen, internen Witz.
„Ich scheine Sie zu amüsieren“, stellte Cartwright fest.
Jeder Anflug von Belustigung verpuffte. „Nein.“
Wenn er etwas nicht tat, dann war es, mich zu amüsieren. Ich wollte nicht genauer erforschen, was er tat, denn die Gefühle, die ich empfand, wann immer ich ihm begegnete, waren fast so beängstigend wie das Heulen des Wolfs, der nicht real sein konnte.
„Sie haben meine Frage nicht beantwortet“, wies ich ihn zurecht.
„Welche Frage meinen Sie, Schatz?“
Ich verbot mir, mich von seinem Akzent oder dem beiläufigen Kosewort umgarnen zu lassen. „Haben Sie nun einen Wolf in einem Ihrer Käfige unten am See oder nicht?“
„Ich habe keinen.“
Als hielte er nach etwas Ausschau, fixierte er von Neuem den Blick auf den Wald, und ich überlegte mir eine bessere Formulierung – nur für den Fall, dass er meine Frage wörtlich genommen hatte. „Ist Ihr Wolf etwa ausgebrochen?“
„Ich besitze keinen Wolf. Wölfe sind … problematisch.“
„Inwiefern?“
„Sie eignen sich nicht gut als Dressurtiere. Sie sind zu unabhängig, als dass man ihnen Kunststücke beibringen könnte, außerdem machen sie den Pferden eine Heidenangst.“
„Dafür, dass Sie keinen haben, scheinen Sie aber eine Menge über sie zu wissen.“
Endlich gab er es auf, in den Wald zu starren. „Ich bin Dompteur. Es gehört zu meinem Job zu wissen, welche Tiere gut und welche schlecht sind.“
„Ich dachte, es gäbe keine guten oder schlechten Tiere, sondern nur gute oder schlechte Halter.“
Er stieß ein schnaubendes Lachen aus, vertiefte das Thema jedoch nicht weiter.
„Mit wem haben Sie vorhin gesprochen?“, fragte er stattdessen.
„Mit Balthazar Monahan. Ihm gehört die Regionalzeitung. Er wird sich mit Ihnen unterhalten wollen.“
„Er kann das gern wollen; aber das heißt noch lange nicht, dass ich mich auch mit ihm unterhalten möchte. Wir halten uns lieber bedeckt.“
Ich betrachtete seinen extravaganten Aufzug, die langen Haare und das Kruzifix, das an seinem Ohr schaukelte. „Ja, das sehe ich.“
Seine vollen Lippen formten ein Lächeln. „Dieses Kostüm ist das, was die Leute erwarten.“
„Wie können Sie ohne Publicity Aufträge an Land ziehen?“
„Es mangelt uns nie an Arbeit. Wir entscheiden, wann und wo wir auftreten – mittelgroße Veranstaltungen an Orten, die uns interessieren. Wie Lake Bluff und das Vollmondfestival.“
Was erklärte, warum er Joyce kontaktiert hatte. Musste nett sein, frei entscheiden zu können, wann, wo und wie viel man arbeitete.
Er hob das Gesicht zum Himmel und öffnete den Mund, als wollte er von dem silbernen Mondlicht trinken. Als er den Kopf senkte, wirkten seine Augen von Neuem wie bodenlose schwarze Brunnen. Ich machte unwillkürlich einen Schritt nach hinten, der Lichteinfall veränderte sich, und seine Augen waren wieder braun.
„Ich begleite Sie nach Hause“, erbot Cartwright sich.
„Danke, nicht nötig. Ich wohne …“ Ich brach ab. Wollte ich ihn wirklich wissen lassen, wo ich wohnte?
„Denken Sie, das wüsste ich nicht längst?“
Hatte er meine Gedanken gelesen?
„Kommen Sie.“ Er stapfte den Hügel hinauf. „Sie sollten abends nicht allein unterwegs sein.“
Ich lief neben ihm her. „Das hier ist Lake Bluff.“
„Sie glauben, dass Sie hier sicher sind?“
Das tat ich. Zumindest hatte ich das geglaubt. Der Sicherheitsgedanke war eines der ausschlaggebenden Argumente gewesen, als ich zugestimmt hatte, den Job meines Vaters zu übernehmen. Das und die Tatsache, dass ich keinen anderen hatte.
„Sind Sie gleichzeitig Tierdompteur und Hellseher?“, fragte ich.
„Nur unsere Frauen besitzen die Gabe, in die Zukunft zu sehen. Zumindest machen sie uns das gern weis.“
Wir bogen ums Eck und standen vor meinem Haus. Mit seiner Größe, der imposanten Architektur und dem Dreiviertelmond, der dahinter aufging, konnte ich mir mühelos vorstellen, dass es darin spukte. Ich fröstelte.
„Ist Ihnen kalt?“
Ich starrte auf seinen Rücken. Er hatte mich gar nicht angesehen, als ich zusammengeschaudert war. Offensichtlich musste mir irgendein Brrr-Laut entschlüpft sein, ohne dass ich es gemerkt hatte.
„Nein, alles bestens.“
Mit einem höflichen Kopfnicken hielt er mir das Gartentor auf. „Dann wünsche ich Ihnen jetzt eine gute Nacht.“
„Seit wann gibt es eigentlich irische Zigeuner?“, platzte ich heraus.
Er ließ seine Zähne aufblitzen. „Sie wollen mich das schon den ganzen Tag fragen, nicht wahr?“
Ich zuckte die Achseln.
„Sie denken, dass ich kein waschechter Zigeuner bin?“
„Ich hatte gar nicht an Sie gedacht, bis Sie plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht sind.“
Lügnerin. Ich hatte seit unserer Begegnung immer wieder an ihn gedacht. Wie auch nicht?
Sein breiter werdendes Lächeln verriet, dass er wusste, dass ich log – und dass es ihm gefiel. Vermutlich war das Talent zu lügen unter Zigeunern eine erstrebenswerte Eigenschaft.
Ich rieb mir die Stirn. Ich war genauso schlimm wie Balthazar. Abgesehen von dem, was ich aus Film und Fernsehen über Zigeuner wusste, hatte ich keine Ahnung von ihnen.
„Wir sind unter der Bezeichnung Roma bekannt“, klärte Cartwright mich auf. „Der Ausdruck ‚Zigeuner‘ hat seinen Ursprung darin, dass die Menschen früher annahmen, wir stammten aus Ägypten.“
„Aber das stimmt nicht?“
„Aus Indien, heißt es, allerdings weiß das niemand genau.“
„Was hat Sie nach Irland verschlagen?“
„Ich habe dort mein ganzes Leben verbracht, bis … vor Kurzem. Die Roma kamen schon viel früher ins Land. Nachdem wir unsere ursprüngliche Heimat verlassen hatten, verteilten wir uns über den gesamten Erdball – Griechenland, Russland, Ungarn, England, Schottland und Irland.“
„Was ist mit Rumänien?“
„Dort leben die Ludar.“
„Sind das keine Zigeuner?“
„Wir bevorzugen den Namen Roma. Die rumänischen Roma nennt man die Ludar, so wie die englischen Roma Romnichels heißen, die serbischen, russischen und ungarischen Vlax.“
„Sind das alles verschiedene Stämme?“
„In gewisser Weise schon. Wir waren früher ein Volk, aber Jahrhunderte der Separation haben uns verändert.“
Diese Informationen faszinierten mich ebenso sehr wie das seidige Timbre seiner Stimme. Ich sollte nach drinnen gehen, auch wenn das Einzige, das dort auf mich wartete, mein Fernseher und eine alte gescheckte Katze waren. Lieber wollte ich mehr über Zigeuner erfahren.
„Wie nennt man die irischen Roma?“
„Umherziehende.“ Der Blick, mit dem er mein Haus betrachtete, war irritierend sehnsüchtig. „Wir bleiben nicht gern lange an einem Ort.“
Grace würde das damit erklären, dass sie vor etwas davonliefen oder etwas zu verbergen hatten. Aber vielleicht sahen sie sich einfach gern die Welt an. Das war schließlich kein Verbrechen.
Das schrille Heulen eines Kojoten, das von Westen kam, wurde mehrstimmig aus östlicher Richtung beantwortet. Wir schwiegen, bis das letzte Echo verklungen war.
„Das war kein Wolf“, stellte Cartwright fest, „sondern ein Kojote.“
„Ich habe schon Hunderten Kojoten gelauscht, die zu diesen Bergen sangen. Was ich vorhin hörte, war nichts, was ich je zuvor gehört habe.“
„Es kann kein Wolf gewesen sein“, beharrte er. „Wölfe tolerieren keine Kojoten in ihrem Revier. Wo man das eine findet, findet man das andere nicht.“ Die Kojoten begannen von Neuem zu jaulen, viel näher dieses Mal. „Wäre ein Wolf in der Nähe, würden sämtliche Kojoten flüchten.“
„Woher wissen Sie so viel über sie?“
Sein Lächeln war träge und sexy, als er den Arm nach mir ausstreckte; ich erschrak so heftig, dass ich mir den Ellbogen am Zaun anschlug.
Doch er tat nichts weiter, als meine Hand zu nehmen und mit den Lippen darüberzustreifen. Als er mir anschließend ins Gesicht sah, machte das fehlende Licht seine dunklen Augen noch dunkler.
„Ich weiß vieles über viele Dinge, Bürgermeisterin Kennedy“, erklärte er und legte seinen Mund von Neuem auf meine Hand.
Dieses Mal fühlte ich das Schaben seiner Zähne, den Sog seiner Lippen, das Flackern seiner Zunge, und ein Blitz von Empfindungen schoss meinen Arm hinauf, ließ meine Brustwarzen hart werden und verursachte mir ein Kribbeln an Stellen meines Körpers, die seit sehr langer Zeit nicht mehr gekribbelt hatten.