11
Die Gläser fielen mir aus den Händen und zerbrachen vor meinen Füßen.
Oprah, die in der Diele geschlafen haben musste, flitzte maunzend die Treppe hoch. Der Mann schob die Glastür auf und trat ein.
„Alles in Ordnung?“ Malachi Cartwright kniete sich hin und begann die größeren Scherben aufzusammeln.
„Was zur Hölle tust du hier?“, fuhr ich ihn an.
Er legte den Kopf zur Seite, und sein Ohrring funkelte gleißend hell im Licht der Deckenlampe. Wie er da zu meinen Füßen kniete, fühlte ich mich ein bisschen wie Cinderella. Zu dumm nur, dass ich auf die brachiale Art gelernt hatte, dass das Leben kein Märchen war.
Er stand mit der gleichen Gemächlichkeit auf, mit der er wenige Stunden zuvor aus dem See aufgetaucht war. Nur dass er dieses Mal vollständig bekleidet war. Schade eigentlich.
Der Gedanke war so untypisch für mich – das neue „Danach“-Mich –, dass ich fast gelacht hätte. Woran lag es nur, dass ich diesen Mann begehrte? Daran, dass er nicht bleiben würde?
Meine Therapeutin hatte mir geraten, mit jemandem zu schlafen, dem ich vertraute. Ich vertraute Cartwright nicht. Ich kannte ihn noch nicht mal. Aber das hieß auch, dass er mich nicht kannte. Diese Anonymität, diese Gewissheit, dass es zwischen uns nie mehr als Sex geben würde, war unvorstellbar verlockend.
„Ich wollte mich nur vergewissern, dass es dir gut geht“, erklärte er. „Du wirktest völlig aufgelöst.“
Er wusste noch nicht mal die Hälfte. Das mochte ich bei einem Mann.
Malachi stand so nah, dass mich die Hitze seines Körpers wärmte. Ich fing den Duft von kühlem Wasser und Sonnenschein ein. Der Kontrast war derart berauschend, dass mich die Sehnsucht nach seinem Körper taumeln ließ.
Cartwright wich zurück und sah sich hilflos um. „Der Mülleimer?“ Er hob seine mit Scherben gefüllten Hände.
„Oh! Entschuldigung. Unter der Spüle.“ Ich öffnete den Schrank und zog den Eimer hervor. „Sonst macht sich die Katze darüber her.“
Das Klirren des zerbrochenen Glases erinnerte mich daran, den Besen aus dem Schrank zu holen. Ich kehrte den verbliebenen Schaden zusammen, dann bückte ich mich, um alles auf die Schaufel zu fegen.
Schwarz verhüllte Beine traten in mein Blickfeld. Ich schaute hoch und stellte fest, dass Cartwright zu mir runtersah. Mich überkam das plötzliche Bedürfnis, meine Wange an seinen Oberschenkel zu pressen, das Gesicht zu drehen und es ihm durch den dünnen Baumwollstoff seiner Hose mit dem Mund zu besorgen.
Ich stand so abrupt auf, dass die Scherben auf der Schaufel klimperten, und entsorgte sie im Mülleimer.
Als ich mich umwandte, stand er direkt vor mir. Erschrocken machte ich einen Satz nach hinten und schlug mir den Hüftknochen am Tresen an. Er nahm mir Schaufel und Besen ab und stellte beides beiseite.
„Claire“, murmelte er. „Hab keine Angst.“
„D-das habe ich nicht.“
Er beugte sich nach vorn und legte den Mund an meinen Hals, und sein Atem, der über mein Schlüsselbein strich, ließ mich erschaudern. Seine Lippen glitten nach oben, liebkosten mein Kinn, dann verharrten sie vor meinem Ohr. „Doch, das hast du“, flüsterte er.
Ich wollte ihn, begehrte, brauchte ihn, drängte mich ihm entgegen.
Seine Erektion streifte meinen Bauch so leicht, dass ich mir für einen kurzen Moment nicht sicher war, ob ich sie tatsächlich gespürt hatte. Er zeichnete mit den Zähnen meine Halsschlagader nach, und ich keuchte vor Lust. Ich wollte seinen Kopf an meine Brüste ziehen, damit er an ihnen saugte, während er mich auf den Küchentresen hob und immer und immer wieder in mich eindrang, bis wir beide schreiend kamen.
Wow! Wo war das hergekommen? Selbst „davor“ war ich niemand gewesen, der es außerhalb des Schlafzimmers trieb. Und schreien? So war mein Sex nicht.
„Ich begehre dich mehr, als ich seit Äonen eine Frau begehrt habe. Aber wir gehen es so langsam an, wie du möchtest.“
Ich erstarrte. „Was?“
„Manche Männer sind Tiere. Ich nicht.“
Ich versetzte ihm einen Schubs gegen die Brust, und er stolperte zurück. Ich ging zu den deckenhohen Fenstern und schaute nach draußen, wo die Zitronenöl-Fackeln noch immer vergnügt brannten, auch wenn ihr Licht nicht stark genug war, um die dichten Baumreihen jenseits der Terrasse zu erhellen. „Du warst im Wald.“
„Ja.“
Ich drehte mich wütend um. „Du hast gelauscht!“
Er breitete seine langgliedrigen Hände aus. „Es war keine Absicht.“
„Ein Gentleman würde nicht lauschen.“
„Es gibt heutzutage keine Gentlemen mehr.“
In diesem Punkt hatte er recht.
„Verschwinde!“, befahl ich.
Cartwright kam auf mich zu, und ich starrte ihn mit geweiteten Augen an. Im ersten Moment fürchtete ich, dass er mich packen und schütteln würde. Das war mir schon einmal passiert. Dann erst realisierte ich, dass er meinem Wunsch entsprechen und gehen wollte, ich ihm jedoch den Weg versperrte.
Ich trat zur Seite, stolperte, und er fing mich sanft auf. „Ich hätte niemals …“ Er brach ab, holte tief Luft und machte einen neuen Anlauf. „Ich wäre vorhin nie so grob mit dir umgesprungen, wenn ich davon gewusst hätte.“
„Ich bin nicht aus Glas“, antwortete ich.
„Doch, das bist du. Im Feuer gehärtet. Robust genug, um Regen und Wind abzuhalten.“ Er klopfte mit den Knöcheln gegen die Glastür. „Fragil genug, um zu zerbrechen, wenn man dich unsanft behandelt.“
Er fasste nach dem Griff, aber plötzlich wollte ich nicht mehr, dass er ging. Ich berührte sein Handgelenk, und er sah mir in die Augen. Verlangen loderte zwischen uns auf, so stark, so ungewohnt.
„Das Feuer ist den Roma heilig“, murmelte er und betrachtete mein rotes Haar.
„Ich dachte, es würde das Böse bestrafen.“
Malachi lächelte. „Das auch. Meine Vorfahren beteten das Feuer an.“ Er hob langsam die Hand und streichelte meine Wange. „Genau wie den Mond.“
Ich konnte nicht aufhören, in seine dunklen, dunklen Augen zu schauen. Es schlummerten Geheimnisse in ihnen. Aber ich hatte es so satt, allein zu sein, Angst zu empfinden, mich niemals nach einem Mann zu verzehren. Und jetzt verzehrte ich mich nach ihm. Ich konnte nicht anders, ich musste ihn küssen.
So warm. So süß. So weich. Er überließ mir die Führung, zog sich zurück, zwang mich zu erobern, der Aggressor zu sein, und ich liebte es.
Ich knabberte an seinen Lippen, zog ihre Kontur mit der Zunge nach, und er öffnete sie. Mit der typisch männlichen Invasion rechnend, verspannte ich mich, aber es erfolgte keine.
Geduldig wartete er ab und ließ sich von mir küssen, ohne wirklich zurückzuküssen, bis es nicht mehr genug war und ich ihn einfach schmecken musste.
Hinter meinen geschlossenen Lidern explodierte eine Bilderflut. Kaltes Quellwasser, das von einer Sommersonne beschienen den Berg hinabströmte. Schneeflocken, die über einen silbrigen Himmel trieben, bevor sie sich auf einem Feld violetter Wildblumen niederließen.
Ich war keine Frau, die anfällig für schöne Worte oder fantasievolle Tagträumereien war, trotzdem brachte mir das Küssen dieses Mannes alle möglichen seltsamen Visionen.
Feuer im Mondschein. Heftiger Regen, der nach einem glühend heißen Augusttag auf den Asphalt prasselte. Aufsteigender Dampf, der an meinem Gesicht vorbeizog.
Bebend löste ich mich von Malachi und sah ihn mit großen Augen an. Zum ersten Mal seit Monaten verspürte ich keine Angst. Meine Erregung hatte sie vollständig besiegt.
„Ich werde dich niemals berühren, es sei denn, du forderst mich dazu auf.“ Ich sah, wie seine Lippen sich bewegten, aber seine Stimme strich wie eine sanfte Brise durch meinen Kopf. „Vielleicht musst du mich sogar anflehen.“
Der Gedanke, ihm zu sagen, was ich wollte, und nicht befürchten zu müssen, dass er mich zu etwas drängen würde, mit dem ich nicht umgehen konnte, war verlockend. Aber …
„Du kannst mir vertrauen, Claire.“
Wie stellte er es nur immer wieder an, mir die Worte aus dem Mund zu nehmen? Oder vielmehr aus dem Kopf? Ich gab einen spöttischen Laut von mir.
„Du hältst mich nicht für vertrauenswürdig?“
Ich schaute ihm in die Augen. „Ich kenne dich nicht.“
„Du könntest mich fesseln.“ Er beugte sich nach vorn, und ich versteifte mich, aber das Einzige, was er tat, war, den Mund auf meine Stirn zu legen und mit den Lippen die empfindsame Haut entlang meines Haaransatzes zu liebkosen. „Dann könnte ich dich nicht anfassen, es sei denn, du würdest mich losbinden.“
Ich erschauderte bei der Vorstellung, die viel zu verführerisch war. „Vielleicht später“, brachte ich mit Mühe heraus, und Malachi lachte.
„Ich muss gehen.“ Doch er tat es nicht. Er stand mit dem Rücken zur Glastür und war mir dabei so nah, dass seine Brust bei jedem seiner Atemzüge fast meine berührte.
„Du wirst nur eine Woche hier sein“, erinnerte ich ihn.
„Ja, nach eurem Festival ziehen wir weiter zum nächsten. In Pennsylvania.“ Er legte den Kopf schräg. „Warum?“
„Ich kann vielleicht nicht …“ Ich atmete ein und wieder aus. „In einer einzigen Woche.“
„Du denkst, dass ich nur an Sex interessiert bin?“
Ich hob spöttisch die Augenbrauen. Definitiv. Ganz sicher interessierte er sich nicht für mich als Menschen. Wir hatten uns gerade erst kennengelernt.
„Du glaubst, dass ich in jeder Stadt eine Frau habe?“
Das Echo von Grace’ Worten ließ mich zusammenzucken. Tja, der Lauscher an der Wand …
„Du traust mir zu, dass ich mit ihnen schlafe und mich anschließend einfach aus dem Staub mache?“ Ich wich ein kleines Stück zurück. „Du weißt nicht viel über die Roma. Unsere Regeln verbieten uns, anders als geschäftlich mit den gadje zu verkehren.“
„Wer sind die gadje?“
„Alle, die keine Roma sind.“
„Klingt nach einer Tradition aus dem fünfzehnten Jahrhundert.“
„Es ist eine uralte Tradition, das stimmt. Eine, die wir zu pflegen versuchen. Die äußere Welt war nie freundlich zu uns.“
Ich erinnerte mich an Mrs Charlesdown, die Sabina des Diebstahls bezichtigt hatte, obwohl das Mädchen unschuldig war.
„In den alten Zeiten haben die Menschen ungewollte Kinder in der Nähe unserer Camps ausgesetzt“, fuhr er fort. „Als wir eines davon aufnahmen, es adoptierten und zu einem der unseren machten, beschuldigte man uns der Kindesentführung.“
„Also entstand so das Gerücht, dass Zigeuner Kinder rauben.“
„Ja. Und ich habe nicht in jeder Stadt eine Frau. Es ist mir untersagt, überhaupt eine Frau zu haben. Zumindest keine, die gadje ist. Man würde mich marime erklären. Zum Ausgestoßenen.“
„Aber du bist ihr Anführer.“
„Das spielt keine Rolle.“ Er schaute mir tief in die Augen, dann legte er sehr bewusst die Hand an meine Wange. „Allein dich zu berühren, ist verboten.“
„Warum bist du dann hier?“
Er schaute aus dem Fenster in Richtung Wald. „Ich konnte nicht wegbleiben.“
Die Vorstellung, dass es ihm verboten war, mich anzufassen, dass ihm die Verbannung drohte, soweit man im einundzwanzigsten Jahrhundert noch verbannt werden konnte, war seltsam faszinierend.
„Küss mich“, wisperte ich, und sein Blick kehrte zu mir zurück.
„Du akzeptierst mein Angebot damit?“
Ich zögerte. Indem ich das täte, würde ich in mehr einwilligen als nur in einen Kuss. Das wusste ich, unabhängig von seinem Versprechen. Doch ich wollte heilen, über das hinwegkommen, was geschehen war, einen Neuanfang machen, und dies war die perfekte Gelegenheit.
Was, wenn ich versuchte, mit jemandem aus Lake Bluff Sex zu haben, und … versagte? Dann würde auch ich nicht länger hierbleiben können.
Cartwright würde hundertprozentig fortgehen. Und das Beste war, dass er niemandem davon erzählen konnte, mit mir geschlafen zu haben, weil er damit riskierte, verstoßen zu werden.
Ich fasste an ihm vorbei, zog an der Gardinenschnur, bis die Vorhänge vors Fenster glitten, und sperrte den Rest der Welt aus.
„Küss mich“, wiederholte ich. „Dann berühr mich …“ – ich deutete auf meine Halsbeuge – „… genau hier.“
Er lächelte und tat, was ich verlangte.