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Ich stürzte zum Eingang und kämpfte gegen den Strom der Einheimischen und Touristen an, die mir entgegendrängten. Die Schreie hielten an; ihre Höhe vermittelte pures Entsetzen, was mich davon abhielt, irgendjemanden zu fragen, was zur Hölle los war.

Ich hätte mir am liebsten die Ohren zugehalten – das Gekreische ging mir durch Mark und Bein –, aber ich brauchte meine Hände, um die letzten Nachzügler aus dem Weg zu schieben, in den Laden vorzudringen und, der Lautstärke und Art der Schreie nach zu urteilen, weitere Morde zu verhindern.

Doch als ich dann endlich vor der Kasse stand, sah ich nur eine junge Zigeunerin und ihr gegenüber Mrs Charlesdown, die sich als die Quelle der gellenden Schreie entpuppte. Ihr Mann und ihr ältester Sohn verharrten reglos ein paar Schritte entfernt und starrten die Zigeunerin mit aufgerissenen Augen an.

„Was ist hier los?“, rief ich.

Endlich stellte Mrs Charlesdown ihr Kreischen ein. Wortlos deutete sie auf das Mädchen. Ich begriff nicht, was so furchteinflößend an ihr sein sollte. Das Einzige, was ich sehen konnte, war ihr Rücken.

Sie war groß und gertenschlank, und ihre Haare fielen über ihre weiße Bluse bis zum Bund ihres farbenprächtigen Rocks. Ihre Füße waren nackt, mit Ausnahme zweier goldener Zehenringe. Ich verstand noch immer nicht, was Mrs Charlesdown derart aus der Fassung brachte.

Dann drehte sich die Zigeunerin um, und ich erkannte den Grund. Um ihren Hals hing eine sich schlängelnde und windende Kobra, die in alttestamentarischer, warnender Weise ihre Zunge hervorschnellen ließ. Ich hatte das Tier zuvor nicht bemerkt, weil das Haar des Mädchens den um ihren Hals geschlungenen Reptilienkörper verdeckt hatte. Aber aus diesem Blickwinkel konnte ich jede Menge Schlange sehen.

Ich hob den Blick zum Gesicht der Zigeunerin. Sie musste um die zwanzig sein und wies die gleiche olivfarbene Haut wie der Rest ihres Klans auf, allerdings waren ihre Augen eher haselnuss- als dunkelbraun. Markante Nase, hohe Wangenknochen – abgesehen von der Schlange war nichts Außergewöhnliches an ihr.

„Sie sie “, stammelte Mrs Charlesdown, zu dem Mädchen gestikulierend.

„Beruhigen Sie sich“, beschwichtigte ich sie. „Miss?“ Das Mädchen zog den Kopf ein, sodass ihre Haare vor ihr Gesicht fielen. Die Kobra tanzte auf und ab, als bewegte sie sich zu einer Melodie, die nur sie hören konnte. „Sie sollten besser nicht mit Ihrem Haustier in die Stadt kommen.“

Die junge Frau lächelte schüchtern und streichelte die Schlange mit einer langfingrigen Hand. Die goldenen Reifen an ihrem Unterarm klimperten, und Mrs Charlesdown zuckte zusammen, als hätte sie jemand in den Allerwertesten gekniffen. Durch die unfreiwillige Bewegung fand sie ihre Sprache wieder.

„Sie hat gestohlen.“

Mrs Charlesdown schaute um Unterstützung heischend zu ihrem Mann, aber der war bereits hinter seinen Apothekertresen zurückgekehrt und machte sich, genau wie sein Sohn, wieder an die Arbeit.

„Das hat sie“, insistierte Mrs Charlesdown.

Die Zigeunerin zog einen Flunsch und schüttelte ihren Kopf so kräftig, dass die Haare aus ihrem Gesicht flogen.

„Oh doch, das hast du“, wiederholte Mrs Charlesdown. „Was versteckst du da in deiner Hand?“

Das Mädchen schob die Hand, die nicht die Kobra streichelte, hinter ihren Rücken.

„Sehen Sie!“ Mrs Charlesdown klang triumphierend.

„Nur weil sie etwas in der Hand hält, muss das nicht heißen, dass sie gestohlen hat“, verteidigte ich das Mädchen. „Sie haben ihr ja gar nicht die Chance gegeben zu bezahlen.“

„Sie war auf dem Weg zur Tür, als ich sie aufhielt. Dann hat mich diese Bestie angezischt.“

Das wäre wirklich eine lohnende Aufgabe für Grace gewesen, aber da ich nun schon mal hier war

„Darf ich sehen, was du in der Hand hältst?“, fragte ich.

Das Mädchen schüttelte weiter den Kopf; mit ihren geweiteten Augen erinnerte sie mich an ein verängstigtes Pferd, das sich mit Schaum vor dem Maul aufbäumte.

„Ich informiere den Sheriff.“ Mrs Charlesdown griff zum Hörer.

Die junge Frau gab ein abwehrendes, ersticktes Geräusch von sich und stieß ihren Arm nach vorn.

„Legen Sie den Hörer weg!“, befahl ich, und Mrs Charlesdown gehorchte.

Die Finger des Mädchens waren noch immer steif wie Krallen nach innen gekrümmt. Was ich von ihrer Handfläche erkennen konnte, war leer.

Mrs Charlesdown wurde rot, aber sie presste weiterhin die Lippen aufeinander. „Geben Sie nicht mir die Schuld! Jeder weiß, dass Zigeuner stehlen.“

„So wie wir auch Kinder entführen.“

Malachi Cartwright stand in der Tür. Die helle Sommersonne erzeugte einen Lichtring um seinen Kopf und tauchte sein Gesicht in Schatten. Sein Tonfall war scherzhaft leicht gewesen, aber seine angespannte Körperhaltung verriet, dass er keineswegs amüsiert war.

„Sabina“, wandte er sich an das Mädchen. „Ich hatte dir doch gesagt, dass du nicht allein in die Stadt gehen sollst.“

Mit gesenktem Kopf huschte die junge Frau nach draußen; sie wirkte restlos niedergeschlagen wegen des Rüffels. Oder hatte sie etwa Angst? Und wenn ja, vor wem?

„Es gab ein Missverständnis“, setzte ich an.

„Was bei engstirnigen Leuten häufig vorkommt.“ Cartwright trat in den Laden, seine ausdruckslose Miene vorwurfsvoller, als es ein böser Blick hätte sein können.

„Hätte das Mädchen den Mund aufgemacht, wäre auch kein Problem entstanden“, rechtfertigte sich Mrs Charlesdown.

„Nur, dass sie ebenso wenig spricht, wie sie ihre rechte Hand gebrauchen kann.“

„Oh.“ Die Frau des Apothekers reagierte verlegen. „Das ist schlimm.“

„Mit ihrer Schlange hingegen kommt sie gut zurecht“, fuhr Cartwright fort. „Sie verstehen einander ohne Worte.“

„War das eine Kobra?“, fragte ich, obwohl ich wusste, dass es eine gewesen war.

Er nickte.

„Sind die nicht giftig?“

Mrs Charlesdown klappte der Mund auf. „Giftig? Sind Sie verrückt, dieses geistig verwirrte Kind mit einer giftigen Schlange durch die Gegend spazieren zu lassen?“

„Sie ist weder geistig verwirrt, noch ist sie ein Kind, außerdem wurden der Schlange die Giftzähne schon vor Langem gezogen. Sabina ist eine begabte Beschwörerin, trotzdem wollten wir auf Nummer sicher gehen.“

„Eine Schlangenbeschwörerin?“, wiederholte Mrs Charlesdown in einer Lautstärke, die einem Schrei gleichkam. „Als Nächstes erzählen Sie uns noch, dass Sie eine fette Dame, zwei Zwerge und einen tätowierten Mann in Ihrer Truppe haben.“

„Wenn Sie einen Wanderzirkus möchten, haben Sie die falschen Leute angeheuert.“ Sein Blick glitt von der Gattin des Apothekers zu mir. „Ich habe Ihnen gesagt, dass wir nach Art der alten Zigeunerkarawanen auftreten.“

„Es tut mir leid, aber ich hatte noch nie mit alten Zigeunerkarawanen zu tun. Dies ist mein erstes Mal.“

„Ihr erstes Mal?“ Sein Lächeln war so anzüglich, dass mir die Röte ins Gesicht schoss.

Mrs Charlesdown ließ ein Schnauben hören, und ich bedeutete Cartwright, mir nach draußen zu folgen. Auf dem Gehsteig drängten sich noch immer ein paar verbliebene Kunden.

„Das Problem ist gelöst“, verkündete ich, woraufhin die Leute mit vorsichtigen Blicken in Richtung Sabina einer nach dem anderen wieder hineingingen.

Das Zigeunermädchen stand einige Schritte entfernt und streichelte mit ihrer intakten Hand die silbrige Mähne eines schneeweißen Pferdes.

„Sie sind mit dem Pferd hergeritten?“, fragte ich verdutzt.

Cartwright zog eine Braue hoch. „So was kommt häufig vor.“

„Ja, im neunzehnten Jahrhundert.“

„Eine einfachere, bessere Zeit.“

Wenn man die heutigen Benzinpreise bedachte, hatte er vermutlich recht.

Ich beobachtete Sabina und das Pferd, das trotz der Kobra die Nüstern an ihr rieb. „Pferde hassen doch Schlangen, oder nicht?“

Dieses schien sich jedenfalls nicht daran zu stören, dass in seiner unmittelbaren Nähe eine Kobra war. Es schien sie gar nicht zu bemerken.

„Ich habe Benjamin selbst ausgebildet. Er ist Teil der Show und darf keine Angst vor den anderen Tieren haben, die darin auftreten.“

„Sie sind Pferdetrainer?“

„Ja“, bestätigte er. „Und zwar der beste.“

„Und dazu noch so bescheiden.“

„Es ist nun mal die Wahrheit. Niemand kann mir bei der Dressur von Pferden das Wasser reichen.“

„Wie kommt das?“

Er zögerte so lange, dass ich schon glaubte, er würde nicht antworten. Schließlich richtete er den Blick auf die fernen Berge. „Ich hatte viel Übung. Anfangs bildete ich unsere Zugpferde, die Percherons, aus. Dann ging ich zu den Showpferden über, was Zeit und Geduld erfordert.“

„Sie trainieren Pferde, und Sabina beschwört die Schlange.“ Ich sah wieder zu dem Mädchen. „Diese hier scheint nicht viel Beschwörung nötig zu haben.“

„Sabina ist sehr gut im Umgang mit ihnen.“

„Ihnen?“ Meine Stimme überschlug sich.

„Denken Sie, dass eine einzige Schlange ein Publikumsmagnet wäre?“

Über die erforderliche Anzahl hatte ich mir noch keine Gedanken gemacht. Meiner Auffassung nach sollte eine Kobra mehr als ausreichend sein.

„Wie viele genau?“

„Schwer zu sagen. Sabina gabelt Schlangen auf, wo immer es uns hinverschlägt. Eine Klapperschlange in Texas, eine zweite in New Mexico. Dann war da dieser zahme Python, der für das Haus seines Besitzers in Mississippi zu groß wurde.“

„Allesamt gefährliche Reptilien.“

„Welchen Sinn sollte es haben, sie zu beschwören, wenn es gar nichts zu beschwören gäbe?“ Er kam näher und drang, wie am Vorabend Balthazar Monahan, in meine private Zone ein.

Nur dass ich ihm, anders als bei Balthazar, nicht das Knie in einen empfindlichen Körperteil rammen wollte.

Cartwright roch wie Wasser im Sonnenlicht, wie regennasse Erde und eine mondbeschienene Nacht. Das plötzliche Bedürfnis, ihm noch näher zu sein, veranlasste mich, einen hastigen Schritt nach hinten zu machen. Ich blickte mich um, aber niemand schien meine plötzliche Schwäche für einen Fremden zu bemerken; alle gingen mit einer Emsigkeit ihren Geschäften nach, die zu besagen schien: Das Festival steht bevor, das Festival steht bevor.

Auch ich sollte mich an die Arbeit machen. Ich öffnete den Mund, um mich zu verabschieden, doch was mir stattdessen herausrutschte, war: „Warum spricht sie nicht?“

Cartwrights Blick huschte zu Sabina, die noch immer das Pferd streichelte. „Es ist ihre Geschichte, und nur sie kann sie erzählen.“

Vor Frustration sprach ich lauter als beabsichtigt. „Wie könnte sie sie erzählen, wenn sie nicht spricht?“

Sabina schaute in meine Richtung, und ich krümmte mich innerlich zusammen. Hören konnte sie offensichtlich, und jetzt wusste sie, dass ich hinter ihrem Rücken über sie tuschelte. Sie mochte einfältig sein, aber sie war keine Idiotin.

„Entschuldigung“, meinte ich verlegen. Sie schenkte mir ein kleines Lächeln, bevor sie sich wieder dem Pferd zuwandte.

„Früher hat sie gesprochen“, erklärte Cartwright leise. „Dann hat sie einfach damit aufgehört.“

Ich tippte auf irgendeine Art von Trauma und fühlte eine plötzliche Verbundenheit.

„Nachdem ihre Hand verletzt wurde?“

„Es ist keine Verletzung. Sabina wurde mit dem Zeichen des Teufels geboren.“

„Womit?“

Meine Stimme war wieder zu laut. Sabina zuckte zusammen und vergrub das Gesicht in der Mähne des Pferdes. Das Tier wieherte und stampfte mit den Hufen, als wüsste es, dass ich sie aufgeregt hatte.

„Ihre Eltern wollten sie ertränken“, fuhr Cartwright fort, „aber ich ließ es nicht zu.“

„In welchem Jahrhundert lebt ihr eigentlich?“

„Nur weil dies ein modernes Zeitalter ist, heißt das nicht, dass es nicht überall Barbaren gäbe.“

Ich studierte sein Gesicht. Er wirkte kaum älter als Sabina.

Ich hatte Geschichten über Zigeunerkönige gehört, allerdings waren die vermutlich genauso erfunden wie die Zigeuner-stehlen-Kinder-Mär. Nichtsdestotrotz benahm Malachi Cartwright sich, als hätte er den Mantel der Würde mit seiner Geburt geerbt.

„Haben Sie sie von einem Arzt untersuchen lassen?“, hakte ich nach.

„Sie wird wieder sprechen, wenn sie bereit ist. Nur die Zeit kann Sabina heilen.“

Ich wusste genau, wie das war.

„Ich meinte, wegen ihrer Hand.“

Anstatt zu antworten, hielt Cartwright auf sein Pferd zu.

„Bestimmt gibt es irgendwo einen Spezialisten, der ihr helfen kann.“

Er blieb stehen, drehte sich jedoch nicht um. „Wir sind nicht krankenversichert, Bürgermeisterin. Und wir haben nicht genug Geld, um uns Ärzte zu leisten. Unser Leben ist nicht wie Ihres, und das wird es auch nie sein.“

Er bedeutete Sabina aufzusitzen, bevor er sich mit solcher Anmut auf den Pferderücken schwang, dass ich ihn einfach nur stumm beobachten konnte.

„Danke für Ihre Unterstützung!“, rief er, und sie galoppierten davon.