32
Die Morgendämmerung breitete sich gerade über Lake Bluff, als ich zu Grace’ Haus fuhr. Aufgrund des Zustands meiner Windschutzscheibe hatte ich den Ford Focus meines Vaters aus der Garage geholt. Er roch nach ihm – Zigaretten, Pfefferminzbonbons und Old Spice.
„Hallo, Dad“, murmelte ich und tätschelte das Armaturenbrett.
Je länger ich hier war, desto mehr erschienen mir unsere Auseinandersetzungen der Vergangenheit als genau das, was sie waren – Vergangenheit. Ich verstand nun, warum er seine Arbeit, diese Stadt, die Menschen so sehr geliebt hatte, und es tat mir leid, dass ich es nicht früher mit dem Job versucht hatte. Ich machte ihn nämlich gar nicht schlecht. Tatsächlich machte ich ihn besser als irgendetwas zuvor.
„Aber jetzt bin ich da“, sagte ich und hatte kurz das Gefühl, als würde er mich hören.
Dunst verhüllte noch immer die Bergwipfel und zog in rosaroten, goldenen und orangefarbenen Schwaden über die grünblaue Weite des Himmels.
Grace’ Fenster waren dunkel; das überraschte mich nicht. Sie gehörte zu den Typen, die erst in allerletzter Minute aufstanden, unter der Dusche schnell eine Tasse Kaffee in sich reinschütteten und anschließend mit nassen Haaren aus dem Haus flitzten.
Mich beschlich ein eigentümliches Déjà-vu-Gefühl, als ich auf ihre Vorderveranda trat, klingelte und vergebens darauf wartete, dass sie aufmachte. Ich spähte durch die Fenster zu beiden Seiten der Tür, sah rein gar nichts und stapfte zur Rückseite des Hauses. Doch als ich dieses Mal an die Hintertür klopfte, schwang sie auf.
„Grace?“ Ich betrat die Küche. Im Haus war es so still wie in einem Grab.
Dieser Gedanke bescherte mir eine Gänsehaut, deshalb schaltete ich das Licht an und rief aus voller Kehle: „Grace!“
Der Tisch war mit Schusswaffen und Munition übersät, deren Schachteln den Namen eines Waffenfachgeschäfts in Tennessee trugen, das mit „Wir erfüllen alle Kundenwünsche“ für sich warb. Solche Läden machten mich nervös, aber vermutlich durften wir uns in diesem Fall glücklich schätzen, dass es sie gab.
Grace musste ordentlich was hingeblättert haben, um das Zeug so schnell geliefert zu bekommen. Das wirklich Interessante war jedoch, dass die Firma diese Kugeln vorrätig gehabt haben musste, um so schnell so viele schicken zu können. Was mich zu der Überlegung führte, ob wir in Bezug auf die Existenz von Werwölfen möglicherweise echte Spätzünder waren.
Es sah Grace nicht ähnlich, geladene Waffen herumliegen zu lassen, wo jeder sie finden konnte; und genauso wenig sah es ihr ähnlich, die Hintertür offen zu lassen, wenn sie nicht zu Hause war. Und es sah ihr wirklich, wirklich kein bisschen ähnlich, auch noch beides gleichzeitig zu tun.
Ich schnappte mir eine der Schusswaffen – eine Pistole mit einem Sicherungshebel, von dem ich mich vergewisserte, dass er arretiert war –, dann schlich ich vorsichtig durchs Haus.
Im Erdgeschoss fand ich sie nicht – weder tot noch lebendig –, also stieg ich die Treppe hoch. Das Badezimmer war verlassen und so trocken und kühl wie ein sonniger Wintertag. Grace war nicht unter die Dusche und dann zur Arbeit gegangen und hatte dabei aus Versehen alle ihre Schusswaffen samt Munition zurückgelassen und dann auch noch vergessen, die Tür abzuschließen. Außerdem parkte ihr Dienstwagen vor dem Haus.
Einerseits sorgte das Auto dafür, dass ich mich ein wenig entspannte. Sie war nach Hause zurückgekehrt, nachdem sie dem geheimnisvollen Schützen in den Wald gefolgt war. Andererseits machte mich das Auto richtig, richtig nervös. Wo steckte sie bloß?
„Grace!“ Meine Stimme war wütend und verängstigt zugleich – eine Kombination, die mir in letzter Zeit zunehmend vertraut wurde.
Auch in ihrem Schlafzimmer war sie nicht; sie hatte entweder gar nicht in dem Bett geschlafen oder es bereits gemacht und die Ecken dabei mit der Pedanterie eines Feldwebels unter die Matratze gesteckt.
Mir fiel ein, wie ich sie beim letzten Mal aufgespürt hatte; ich holte mein Handy heraus und klingelte über die Kurzwahltaste ihres an. Ein schwaches Brrrring lockte mich aus ihrem Zimmer und zu der zweiten Treppe, die zum ehemaligen Rückzugsort ihres Vaters im Dachgeschoss führte.
Hm, ich hatte sowieso sehen wollen, was aus seinem Büro geworden war.
Die Augen auf die Dunkelheit am oberen Ende fixiert, stieg ich die Stufen hoch. Plötzlich war ich mir nicht mehr sicher, ob ich wirklich dort hinaufgehen sollte, aber welche Alternative hatte ich? Grace konnte verletzt sein oder Schlimmeres.
Ich erreichte die Tür am Ende der Treppe. Der Knauf drehte sich in meiner Hand, und sie schwang mir einem markerschütternden Quietschen auf. Ich tastete nach dem Lichtschalter und drückte ihn, doch nichts geschah. Zum Glück stand die Sonne inzwischen hoch genug, um ihre goldenen Strahlen durch das einzige Fenster zu werfen und Bücher und Messbecher, Reagenzgläser und Kröten zu illuminieren.
Genauer gesagt: die Kröte. In einem Terrarium. Ich glaubte nicht, dass es sich um ein Haustier handelte, denn sie war so tot wie Balthazar, wenn auch weitaus weniger rösch.
Überall lagen Kristalle herum, und von der Decke hingen Traumfänger. Ich hielt sie nicht für cherokesischen Ursprungs, aber was wusste ich schon? Doch das, was mich von allem am meisten irritierte, war die mit einem Hakenkreuz versehene Rune auf ihrem Arbeitstisch.
„Das wirst du mir erklären müssen“, murmelte ich, bevor ich die Rune – ich konnte nicht sagen, ob es die war, die ich „verloren“ hatte, oder eine gänzlich andere – einsteckte, die beiden Treppen hinab- und aus der Hintertür stürmte, als Grace gerade ein weiteres Mal mit nichts als einem schneeweißen Morgenmantel bekleidet aus dem Wald spazierte. Nur dass ihre Aufmachung heute eine wesentlich signifikantere Bedeutung für mich hatte als beim letzten Mal.
Ich hob die Waffe. „Strigoi de lup, wenn mich nicht alles täuscht?“
Anstatt besorgt zu reagieren, schnaubte sie verächtlich und hielt weiter auf mich zu. „Mit deinem Kauderwelsch riskierst du gerade eine Kopfnuss, Claire. Ich hatte heute noch nicht mal einen Kaffee.“
„Grace.“ Ich schloss beide Handflächen um den Griff der Pistole, um sie zu stabilisieren. „Du bist ein Werwolf.“
„Bin ich nicht.“ Dann blieb sie stehen und studierte mein Gesicht. „Aber du glaubst, dass ich einer bin. Verrat mir eins, du Genie. Wenn ich wirklich ein Werwolf wäre, wie konnte ich dann fünfzig Zigeunern eine Silberkugel zuwerfen oder die verfluchten Waffen laden, ohne mir die Finger abzufackeln?“
„Ich habe nur Doc Bills Wort, dass Silber bei Werwölfen in menschlicher Gestalt Verbrennungen verursacht.“
„Du wirst mir einfach vertrauen müssen.“
„Was zum Teufel treibst du, Grace?“
„Nichts, was mit dieser Sache in Zusammenhang stünde.“
„Nein?“ Ich nahm die Rune zwischen Daumen und Zeigefinger und konfrontierte sie damit.
Mit einem verärgerten Knurren riss sie mir die Pistole aus der Hand. Zum Glück für sie hatte ich das Ding nicht entsichert.
„Benimm dich nicht wie eine Idiotin!“ Sie stolzierte ins Haus und rief mir dabei über die Schulter zu: „Komm rein! Wir müssen reden.“
Da sie in diesem Punkt recht hatte, folgte ich ihr nach drinnen.
„Du zuerst“, forderte sie mich auf, während sie Kaffeepulver in den Filter schaufelte. „Was hast du so früh am Morgen hier zu suchen, und wieso hältst du mich für einen Werwolf?“
Ich reichte ihr den Ausdruck der E-Mail, die die Anthropologin mir geschickt hatte. Wir setzten uns an den Tisch, Grace überflog sie und gab sie mir zurück. „Ich bin keine Rumänin.“
„Ich habe dich jetzt schon zweimal mit nichts als einem weißen Morgenmantel am Leib aus dem Wald kommen sehen.“
„Ich bin eine Cherokee. Ich mag es, mit der Natur zu kommunizieren.“
„Warum nehme ich dir das nicht ab?“
Sie lächelte leise. „Gestern hast du mit mir über deine Zweifel an der Existenz von Werwölfen diskutiert, und heute denkst du, dass ich selbst einer bin?“
„Ich habe diesen Wolf mit Balthazars Augen gesehen. Etwas zu sehen, macht es leichter, daran zu glauben.“
„Würde es dir etwas ausmachen, nicht auf mich zu schießen, solange mir weder ein Schweif noch ein Fell gewachsen ist?“
„Ich hätte nicht auf dich geschossen.“
„Verdammt richtig, weil die Pistole nämlich nicht entsichert war.“
Ich hätte wissen müssen, dass sie es bemerken würde.
„Was hat es mit der toten Kröte auf sich?“
„Sie hat Großmutter gehört.“
„Wie alt war dieses Vieh?“
Sie sah mich über den Rand ihrer zweiten Tasse Kaffee hinweg an. „Das willst du lieber nicht wissen.“ Sie trank einen Schluck und setzte sie ab, dabei wurde auf ihrem Handgelenk ein Schmutzstreifen sichtbar.
„Was ist passiert?“
Sie drehte die Hand um; sie war voller Erde. „Ich bin hingefallen.“
Grace wäre an der Highschool zu der Schülerin mit der geringsten Wahrscheinlichkeit zu stürzen gekürt worden. Sie war … anmutig, und das in einer fast beängstigenden Weise.
Sie legte einen Fuß auf ihr Knie. Die Sohle war zerschrammt. „Ich sollte es besser wissen, als barfuß im Wald herumzulaufen. Ich bin auf einen Stein getreten, gestolpert und gestürzt.“ Sie besah sich ihre Hände. Beide mussten dringend geschrubbt werden.
„Du solltest dich waschen.“
„Das werde ich. Anschließend fahren wir zum Camp.“ Sie schaute mich nachdenklich an. „Ich frage mich, ob ihnen Silber überhaupt etwas anhaben kann.“
„Bei Balthazar hat es hundertprozentig gewirkt.“
„Falls das wirklich eine Silberkugel war.“
„Doc Bills Augenzeugenbericht zufolge würde ich schon darauf tippen, dass es eine war.“
„Was, wenn Silber ihnen in menschlicher Gestalt nichts anhaben kann?“
Ich dachte an Malachis Ohrring, den Test, den Grace mit den Zigeunern durchgeführt hatte. „Das wäre ein Problem.“
„Oder vielleicht ist unser Missetäter ja ein Superwerwolf“, sinnierte Grace weiter. „Mächtig genug, um sich Silber, Wolfswurz und Pentagrammen zu widersetzen.“
Auf meinen neugierigen Blick hin führte sie aus: „Ich habe selbst auch ein bisschen recherchiert. Wolfswurz, auch Blauer Eisenhut genannt, soll angeblich Werwölfe vertreiben. Was Sinn macht, da sie extrem giftig ist.“
„Und die Pentagramme?“
„Zu denen gibt es jede Menge unterschiedlicher Theorien. Eine davon lautet, dass das Symbol einen Werwolf auf die gleiche Weise abschreckt wie ein Kruzifix einen Vampir.“
„Und die anderen?“
„Dass das Pentagramm in Wahrheit das Zeichen des Werwolfs ist. Du hast nicht zufällig eine Tätowierung auf Cartwrights Brust, seiner Handfläche oder irgendeinem anderen Körperteil bemerkt?“
„Warum glaubst du so felsenfest daran, dass der Werwolf ein Zigeuner sein muss?“
„Weil unsere Probleme anfingen, als sie hier auftauchten. Sie reisen mit Tieren. Wer kann schon wissen, ob sie nicht noch eines mehr haben, das sie verbergen – eines, das nicht dauerhaft ein Tier ist? Die Rune wurde in der Nähe ihres Camps gefunden. Sie bestanden darauf, für die Dauer ihres Engagements auf ‚ihrem Land‘ komplett ungestört zu bleiben, und genau dann schlug besagter Wolf das erste Mal zu. Und dass in den Lagern, in denen Mengele Werwölfe erschuf, Zigeuner waren, ist einfach ein zu großer Zufall.“
„Nicht diese Zigeuner.“
„Da wäre ich mir nicht so sicher.“ Grace zuckte die Achseln. „Falls sie Werwölfe sind, leben sie ewig.“
„Du hast viel über diese Sache nachgedacht.“
„So bin ich nun mal. Also, irgendwelche Pentagramme an Cartwright?“
„Nein. Und ich habe so ziemlich alles von ihm gesehen.“
Grace zog die Brauen hoch. „Ist er so gut, wie er aussieht?“
„Besser.“
„Typisch für dich, dass er ein mordlüsternes, bluttrinkendes Ungeheuer sein könnte.“
„Ja, würde mir das nicht mal wieder ähnlich sehen? Aber …“ Ich brach ab und biss mir auf die Lippe.
„Du glaubst nicht daran.“
„Der Doktor sagte, dass infizierte Menschen sich verändern. Dass sie böse werden. Malachi ist einer der freundlichsten Männer, die ich je kennengelernt habe.“
„Falls er nicht gerade jemandem die Nase bricht.“
Während seiner Auseinandersetzungen mit Josh und Balthazar hatte er sehr wohl verändert gewirkt. Trotzdem konnte ich „mordlüsternes Ungeheuer“ noch immer nicht mit Malachi Cartwright in Einklang bringen.
„Zurück zu den Pentagrammen“, meinte Grace. „Man kann mit ihnen sowohl das Gute als auch das Böse beschwören. Eine nach oben zeigende Spitze steht für das Gute, zwei nach oben zeigende Spitzen sind eine Einladung an den Teufel.“
„Falls ich je eins zu Gesicht bekomme, verspreche ich, mich an diese kleine Plauderei zu erinnern. Aber da wir gerade bei Symbolen sind, warum erzählst du mir nicht, wie du dieses hier in die Hände bekommen hast?“ Ich tippte auf die Rune, die zwischen uns auf dem Tisch lag.
„Ich habe sie letzte Nacht im Wald gefunden.“
„Im Finsteren, zwischen den uralten Bäumen und mit all dem Gekreuche und Gefleuche bist du rein zufällig über dieses kleine Rindenstück gestolpert?“
Sie kniff die Augen zusammen. „Du sagst das, als ob du mir nicht glaubst.“
„Das tue ich auch nicht.“
„Du denkst, ich hätte es dir gestohlen und dann … was? Mich in einen strig de was auch immer verwandelt?“
„Es ist einfach nur merkwürdig.“
„Was ist in letzter Zeit nicht merkwürdig?“
„Du weißt, dass du mir alles sagen könntest und sich nichts ändern würde.“
„Ich könnte dir also sagen, dass ich mich bei Vollmond in ein Raubtier verwandle? Dass ich Balthazar, Josh und den armen Wandersmann getötet habe, und trotzdem würde es für dich keine Rolle spielen?“
„Na ja, vielleicht würde es eine Rolle spielen, aber ich würde dich immer noch lieben und weiter deine Freundin sein.“
„Du würdest dich nicht wieder von mir abwenden?“
„Verdammt, Grace, so etwas tue ich heute nicht mehr.“
Plötzlich grinsten wir uns wie Idiotinnen an.
„Danke, Claire“, murmelte sie. „Das ist vermutlich das Netteste, was irgendjemand je zu mir gesagt hat.“
Sie musste definitiv mehr unter die Leute kommen.
„Warum berichtest du mir nicht ganz genau, was letzte Nacht passiert ist?“
„Okay.“ Sie dachte eine Minute nach. „Nach deinem Anruf bin ich zu dem Unfallort gefahren, habe die Schleifspuren und die Aschereste entdeckt, anschließend bin ich einer vagen Spur gefolgt.“
„Was für einer Spur?“
Sie sah mir eindringlich in die Augen. „Den Pfotenabdrücken eines Wolfs.“
„Keine Schuhe?“
„Nein.“
„Eigenartig.“ Meines Wissens konnten Wölfe keine Schusswaffen abfeuern. Aber wer hatte dann Balthazar erschossen, und warum hatte er keine Spuren hinterlassen?
„Mehr als das“, bestätigte Grace. „Die Suche kostete mich wegen der Dunkelheit und der Schwäche der Abdrücke mehrere Stunden, aber am Ende führte mich die Spur der Wolfspfoten zurück ins Camp.“
„Welches Camp?“
„Welches Camp könnte ich wohl meinen?“
„Das Sommercamp?“, offerierte ich ohne viel Hoffnung. Grace starrte mich so lange an, bis ich gezwungen war einzuräumen: „Balthazar, der Wolf, kam aus dem Zigeunercamp.“
„So sieht es im Moment jedenfalls aus.“
„Und die Rune?“
„Unter demselben Baum wie beim letzten Mal, was übrigens auch die Stelle ist, an der sich seine Spur verliert.“
„Irgendetwas ist an diesem Baum faul.“
„Meinst du?“, fragte sie. „Und selbst wenn dein Herzblatt nicht der Original-Werwolf ist, weiß er mehr, als er zugibt.“
Malachi hatte gelogen; keine Ahnung, warum mich das so sehr enttäuschte. Ich hatte geglaubt, dass er anders wäre, aber er war nun mal ein Mann. Vielleicht.
„Wir haben das Camp gestern von oben bis unten durchkämmt“, wandte ich ein. „Da war weit und breit kein Wolf.“
„Das war vor der Vorstellung. Gott und die Welt waren gestern dort, um sie sich anzusehen.“
„Was bedeutet, dass jeder von ihnen dort draußen in den Wäldern getan haben könnte, was nötig ist, um einen Werwolf zu erschaffen, und es nicht zwingend einer der Zigeuner gewesen sein muss.“
„Theoretisch ja.“
„Aber du glaubst nicht, dass es einfach irgendjemand war.“
„Wir haben eine Kette von Indizienbeweisen, die allesamt auf die Zigeuner hindeuten. Was mich zu dem bösen Verdacht führt, dass jemand versuchen könnte, sie reinzulegen, aber wer hätte ein Motiv? Die zwei Hauptverdächtigen auf meiner Stinkig-auf-den-Zigeunerkönig-Liste sind tot.“
„Was uns auf direktem Weg zurück zu den Zigeunern bringt.“
„Exakt. Also lass uns hinfahren!“ Grace stand auf. „Ich brauche nur ein paar Minuten.“
Grace hielt Wort und kam zehn Minuten später in ihrer Uniform zurück, die Haare zu einem langen, feuchten Zopf geflochten, der ihr bis auf den Rücken reichte.
„Je von einem Fön gehört?“, stichelte ich.
„Davon bekomme ich Spliss.“
„Und vom Herumlaufen mit nassen Haaren bekommst du eine Lungenentzündung.“
„Du weißt verdammt gut, dass man wegen nasser Haare nicht krank wird.“
„Ja, so sagt man.“ Aber ich war nie überzeugt gewesen.
Wir legten die Fahrt zum See schweigend zurück, bis Grace einen knappen Kilometer vor dem Zigeunercamp auf einen schmalen Jagdweg einbog.
„Was hast du vor?“, fragte ich.
„Wenn wir etwas herausfinden wollen, müssen wir ein bisschen verstohlener an die Sache herangehen als bisher.“
„Uns heimlich heranpirschen und sie ausspionieren, meinst du?“
„Ja. Falls dich gerade das schlechte Gewissen überkommt, kannst du ja hier warten.“
Mir gefiel die Idee nicht, die Leute zu bespitzeln, aber da mir der Gedanke an blutrünstige Werwölfe noch weniger gefiel, folgte ich Grace in den Wald.
Eine dichte Wolkenfront schob sich vor die Sonne. Schatten tanzten zwischen den Blättern, und ich guckte mich in der Befürchtung, etwas Kompakteres als ein Flackern zwischen den Bäumen zu entdecken, mehr als einmal nach allen Seiten um.
„Ich habe ein mieses Gefühl bei der Sache“, gestand Grace.
Mir erging es genauso, aber das behielt ich für mich. Welchen Sinn hätte es, darüber zu reden? Es würde mich nur noch nervöser machen.
Wir gelangten auf eine sanfte Anhöhe. Grace legte sich flach auf den Bauch und spähte über den Rand. Ich tat das Gleiche. Wir kauerten auf einer Hügelkuppe, die zu der zertrampelten Wiese hinabführte, die als Parkplatz diente. Weder dort noch in der Nähe der umstehenden Wagen war eine einzige Menschenseele zu sehen.
Ich guckte auf die Uhr. Es war noch früh, trotzdem sollte irgendjemand auf den Beinen sein.
„Mein mieses Gefühl wird immer mieser“, flüsterte sie mir zu.
Wir warteten noch ein paar Minuten, bevor Grace aufstand und sich mit der Hand auf ihrer Waffe – eine von denen, die ich auf ihrem Küchentisch gesehen hatte und die mit Silber geladen waren – an den Abstieg machte.
Als wir den Rand des Camps erreichten, blieb sie stehen und legte den Finger an die Lippen. Sie schloss die Augen, holte tief Luft und hielt sie mit schräg gelegtem Kopf an.
Sekunden später ließ sie den Atem entweichen und öffnete die Augen. Wie immer verblüffte mich der plötzliche Kontrast zwischen dem strahlenden Grün und ihrer bronzefarbenen Haut. „Es ist niemand hier.“
„Woher weißt du das?“
„Verlassene Orte verströmen ihre ganz eigene … hm …“ Sie wandte den Blick ab. „Aura.“
„Ihre Aura“, echote ich. „Du meinst so etwas wie einen muffigen Geruch?“
„Mist!“ Sie lief in Richtung Tierkäfige. Ich nahm die Verfolgung auf.
Wir bogen gleichzeitig um den ersten Käfig, dann starrten wir auf eine endlose Leere.
„Das ist nicht gut“, stellte sie fest.
„In diesem Fall untertreibst du. Aber wo können sie stecken?“
„Was glaubst du wohl?“ Sie machte eine derart schwungvolle Armbewegung in Richtung Bäume, dass sie mir dabei fast eins auf die Nase gegeben hätte. „Wir brauchen Jäger.“ Sie lief auf und ab, während sie laut dachte. „Und Betäubungsgewehre. Sollten dieser Grizzlybär oder der Berglöwe in die Nähe der Stadt kommen …“
Sie musste nicht zu Ende sprechen. Ebenso wenig musste sie mich zur Eile antreiben. Dicht gefolgt von Grace rannte ich den Weg zurück, den wir gekommen waren, krabbelte die Böschung hinauf und über den Rand der Anhöhe.
Plötzlich blieben wir wie einstudiert im selben Moment stehen, drehten uns um und warfen uns auf den Bauch, als hätte man uns den Boden unter den Füßen weggezogen.
Zwischen den Bäumen strömten Tiere hervor, die ins Camp zurückkehrten. Grace zog ihre Waffe, aber es waren zu viele, als dass sie uns etwas genützt hätte, sollten sie uns hier oben hören, sehen oder wittern und beschließen anzugreifen. Tatsächlich waren es wesentlich mehr, als es hätten sein dürfen.
Grace schaute mich mit zusammengekniffenen Brauen an. Sie stand vor dem gleichen Problem wie ich.
Aus dem Wald tauchten zwei Grizzlybären, zwei Berglöwen, zwei Zebras auf – war hier irgendwo eine Arche gestrandet, von der wir nichts wussten?
Weitere Gruppen von Tieren wurden sichtbar. Mehr als jeweils zwei in den Kategorien Affen, Schlangen und Vögel, und definitiv mehr, als ich am ersten Tag gezählt hatte.
Zu meinem Erstaunen rissen die Berglöwen die Zebras nicht in Stücke. Die Grizzlybären fraßen nicht alles andere auf. Sie wirkten wie eine große, glückliche Familie, und alle schienen sie auf etwas zu warten. Dann trat Malachi Cartwright aus dem Wald.
Ich erstarrte. Nur weil die Bären gezähmt waren – zumindest galt das für einen von ihnen –, hieß das nicht, dass sie Malachi nicht zum Frühstück verspeisen könnten.
Doch er bewegte sich ohne Furcht zwischen ihnen und berührte einzelne Tiere am Kopf, an den Schultern, am Schwanz. Schließlich beugte er sich nach unten und streichelte sogar einer Schlange über den Rücken. Anschließend richtete er sich auf und breitete die Arme aus, als wollte er sie willkommen heißen.
Nebel stieg von seinen Fingerspitzen auf und breitete sich über die versammelte Tierschar. Einzelne Wolken formten sich über denen, die er berührt hatte, und die Sonne, die durch den Dunst funkelte, schien Diamanten auf die Rücken der Auserwählten regnen zu lassen.
Sie schimmerten hell, und dann verwandelten sie sich.
In der einen Sekunde blickte ein riesiger, gedrungener Grizzlybär zum Himmel; in der nächsten mutierte Hogarth vom Vier- zum Zweibeiner. Ein Berglöwe wurde zu Molly; ein Zebra verwandelte sich in die schlanke junge Frau mit der weißen Strähne in ihrem pechschwarzen Haar. Zwei der Affen wurden zu ziemlich behaarten älteren Männern – von denen ich einen als den schrulligen Ticketverkäufer erkannte. Ein dritter verwandelte sich in die Wahrsagerin Edana, was ihren Witz mit der Tatze erklärte. Die Schlange wand sich hin und her, wurde immer größer und breiter, bis kurz darauf Sabina ihren Platz eingenommen hatte.
„Oh Mann!“, ächzte Grace.
Mir hatte es komplett die Sprache verschlagen. Ich konnte nichts weiter tun, als den vom Nebel eingehüllten Malachi zu beobachten.
Die gute Nachricht? Er war kein Tier.
Die schlechte? Ich bezweifelte trotzdem, dass er ganz menschlich war.