29
Sein Bleistift verharrte mitten im Wort, als er
den näher kommenden Motor vernahm. Er war überrascht, wie ruhig er
sich fühlte - seine stärkste Empfindung im Augenblick war gelinder
Zorn darüber, dass er ausgerechnet jetzt unterbrochen wurde, wo es
anfing, wie ein Schmetterling zu schweben und wie eine Biene zu
stechen. Annies Absätze klapperten im Stakkato den Flur
entlang.
»Verschwinden Sie vom Fenster.« Ihr Gesicht war
angespannt und grimmig. Sie hatte den offenen Khakibeutel über der
Schulter. »Verschwinden Sie vom F…«
Sie verstummte, als sie sah, dass er den Rollstuhl
bereits vom Fenster wegrollte. Sie vergewisserte sich, dass nichts
von seinen Sachen auf dem Fenstersims lag, dann nickte sie.
»Es ist die Polizei«, sagte sie. Sie sah
angespannt, aber beherrscht aus. Der Schulterbeutel befand sich in
bequemer Reichweite ihrer rechten Hand. »Werden Sie brav sein,
Paul?«
»Ja«, sagte er.
Ihr Blick erforschte sein Gesicht.
»Ich werde Ihnen vertrauen«, sagte sie schließlich
und wandte sich ab. Sie machte die Tür zu, ersparte sich aber die
Mühe, sie abzuschließen.
Das Auto bog in die Einfahrt, das glatte,
schläfrige Tuckern des großen Motors des Plymouth 442 war fast
schon ein Markenzeichen. Er hörte, wie die Küchentür zugeschlagen
wurde, und rollte sich so ans Fenster, dass er in einem
verschatteten Winkel verborgen war, aber dennoch hinausspähen
konnte. Der Streifenwagen fuhr bis dorthin,
wo Annie stand, und der Motor erstarb. Der Fahrer stieg aus und
stand fast genau an derselben Stelle, wo der junge Polizist
gestanden hatte, als er seine letzten vier Wörter sprach … aber da
endete jede Ähnlichkeit. Jener Polizist war ein junger Mann von
gerade eben zwanzig Jahren gewesen, ein Grünschnabel, der den
lästigen Auftrag bekommen hatte, die kalte Fährte eines Dummkopfes
von Schriftsteller zu verfolgen, der sein Auto in den Straßengraben
gesetzt hatte und dann entweder tiefer in den Wald gewankt war, um
zu sterben, oder der unbekümmert von dem ganzen Schlamassel
davonspaziert war.
Der Polizist, der sich jetzt hinter dem Lenkrad des
Autos hervorschälte, war ungefähr vierzig, und seine Schultern
schienen so breit wie ein Dachbalken zu sein. Sein Gesicht war eine
kantige Fläche aus Granit, in die um die Augen und die Mundwinkel
ein paar schmale Linien gemeißelt waren. Annie war eine große Frau,
aber neben diesem Burschen sah sie fast schmächtig aus.
Und da gab es noch einen Unterschied. Der Polizist,
den Annie getötet hatte, war allein gewesen. Vom Beifahrersitz des
Wagens stieg nun ein kleiner Mann in Zivil mit hängenden Schultern
und schütterem blondem Haar aus. David und Goliath, dachte
Paul. Mutt und Jeff. Jesus.
Der Zivilbeamte ging nicht, er trippelte um den
Streifenwagen herum. Sein Gesicht sah alt und müde aus, das Gesicht
eines Mannes, der sich im Halbschlaf befindet … abgesehen von
seinen hellblauen Augen. Diese Augen waren hellwach und überall
gleichzeitig. Paul glaubte, dass er sehr schnell sein konnte.
Sie kamen von zwei Seiten auf Annie zu, und Annie
sagte etwas zu ihnen, zuerst sah sie nach oben, um mit
Goliath zu sprechen, dann drehte sie sich zur anderen Seite,
senkte den Blick und antwortete David. Paul fragte sich, was
geschehen würde, wenn er das Fenster wieder zertrümmern und wieder
um Hilfe rufen würde. Er dachte, die Chancen standen etwa acht zu
zehn, dass sie sie erwischen würden. Oh, sie war schnell, aber der
große Cop sah aus, als wäre er trotz seiner Größe noch schneller
und kräftig genug, mittelgroße Bäume mit den bloßen Händen
auszureißen. Der verlegene Gang des Zivilen konnte ebenso eine
bewusste Täuschung sein wie sein schläfriges Aussehen. Er glaubte,
dass sie sie erwischen konnten … aber was sie überraschen würde,
das überraschte Annie nicht, und das verschaffte ihr einen kleinen
Vorteil.
Der Mantel des Zivilbeamten. Trotz der sengenden
Hitze war er zugeknöpft. Wenn sie Goliath zuerst erschoss, dann
konnte es ihr durchaus gelingen, auch David eine Kugel zu
verpassen, bevor er diesen gottverdammten pupsigen Mantel
aufknöpfen und seine Pistole herausholen konnte. Dieser zugeknöpfte
Mantel sprach mehr als alles andere dafür, dass Annie recht gehabt
hatte: Bisher handelte es sich hier nur um eine
Routineüberprüfung.
Bisher.
Ich habe ihn nicht umgebracht, wissen Sie.
Sie haben ihn umgebracht. Wenn Sie den Mund gehalten hätten,
dann hätte ich ihn weggeschickt. Er wäre jetzt noch am Leben
…
Glaubte er das? Nein, natürlich nicht. Aber dennoch
war da dieser eindringliche, schmerzvolle Moment der Schuld -
gleich einer schnellen, tiefen Stichwunde. Würde er den Mund
halten, weil eine Chance von zwei zu zehn
bestand, dass sie diese beiden ebenfalls abservieren würde, wenn
er ihn aufmachte?
Die Schuld stach rasch wieder zu und war
verschwunden. Die Antwort darauf war ebenfalls nein. Es wäre
leicht, sich mit so selbstlosen Motiven zu schmeicheln, aber sie
entsprachen nicht der Wahrheit. Der Sachverhalt war schlicht und
einfach: Er wollte sich selbst um Annie Wilkes kümmern. Sie
könnten dich nur ins Gefängnis stecken, du Miststück, dachte
er. Aber ich weiß, wie ich dich fertigmachen kann.