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Als er durchs Wohnzimmer rollte, fiel ihm das Buch unter dem Kaffeetisch wieder auf. STRASSE DER ERINNERUNG. Es war so groß wie ein Shakespeare-Foliant und so dick wie eine Familienbibel.
Neugierig griff er danach und schlug es auf.
Auf der ersten Seite sah er einen einspaltigen Zeitungsausschnitt mit der Überschrift WILKES-BERRYMAN-HOCHZEIT. Darunter befand sich das Bild eines blassen Mannes mit schmalem Gesicht und einer Frau mit dunklen Augen und Schmollmund. Paul sah von dem Zeitungsfoto zu dem Porträt über dem Kaminsims. Keine Frage. In der Bildunterschrift wurde die Frau als Crysilda Berryman identifiziert (das wäre einmal ein Name, der eines Misery-Romans würdig wäre, dachte er), sie war Annies Mutter. Mit schwarzer Tinte und in sauberer Handschrift stand unter dem Zeitungsausschnitt: Bakersfield Journal, 30. Mai 1938.
Seite zwei war eine Geburtsanzeige: Paul Emery Wilkes, geboren im Krankenhaus von Bakersfield am 12. Mai 1939. Vater: Carl Wilkes; Mutter: Crysilda Wilkes. Der Name von Annies älterem Bruder verblüffte ihn. Er musste derjenige gewesen sein, mit dem sie ins Kino gegangen war und sich die Serials angesehen hatte. Ihr Bruder hatte auch Paul geheißen.
Seite drei gab die Geburt von Anne Marie Wilkes am 1. April 1943 bekannt. Das bedeutete, Annie hatte ihren vierundvierzigsten Geburtstag gerade hinter sich. Die Tatsache, dass sie am ersten April geboren worden war, entging Paul nicht.
Draußen heulte der Wind. Regen prasselte gegen das Haus. Fasziniert blätterte Paul weiter; die Schmerzen hatte er vorläufig vergessen.
Der nächste Ausschnitt war von Seite eins des Bakersfield Journal. Das Foto zeigte einen Feuerwehrmann auf einer Leiter vor dem Hintergrund lodernder Flammen, die aus dem Fenster eines Hauses herausquollen.
FÜNF TOTE BEI BRAND IN MIETSHAUS
Fünf Personen, vier davon Angehörige derselben Familie, starben in den frühen Morgenstunden des Mittwochs in einem Großfeuer in einem Mietshaus in Bakersfield in der Watch Hill Avenue. Drei der Toten waren Kinder - Paul Krenmitz, 8, Frederick Krenmitz, 6, und Alison Krenmitz, 3. Das vierte Opfer war ihr Vater, Adrian Krenmitz, 41. Mr. Krenmitz rettete das einzige überlebende Kind, Laurene Krenmitz, die achtzehn Monate alt ist. Wie Mrs. Jessica Krenmitz aussagte, drückte ihr Mann ihr das jüngste der vier Kinder in die Arme und sagte: »Ich werde mit den anderen in einer Minute zurück sein. Bete für uns.« »Ich habe ihn nie wiedergesehen«, sagte sie.
Das fünfte Opfer, Irving Thalman, 58, war ein Junggeselle, der im obersten Stockwerk des Gebäudes wohnte. Die Wohnung im zweiten Stock war zum Zeitpunkt des Brandes nicht vermietet. Die Familie von Carl Wilkes, die anfänglich als vermisst galt, hatte das Gebäude wegen eines Wasserrohrbruches in der Küche am Dienstagabend verlassen.
»Ich weine für Mrs. Krenmitz und ihren schweren Verlust«, sagte Crysilda Wilkes gegenüber einem Reporter des Journal, »aber ich danke Gott, dass er meinen Mann und meine eigenen Kinder verschont hat.«
Michael O’Whunn, Chef der Feuerwehr, sagte, dass das Feuer im Keller des Hauses ausgebrochen war. Nach der Möglichkeit einer Brandstiftung befragt, antwortete er: »Es ist wahrscheinlicher, dass ein Saufbold in den Keller geschlichen war, sich betrunken und das Feuer versehentlich mit einer Zigarette entfacht hat. Wahrscheinlich lief er weg, anstatt zu versuchen, das Feuer zu löschen, und so mussten fünf Menschen sterben. Ich hoffe, wir erwischen den Kerl.« Als er nach ersten Anhaltspunkten gefragt wurde, antwortete er: »Die Polizei hat verschiedene Spuren, alle werden nachdrücklich und gewissenhaft verfolgt, das kann ich Ihnen versprechen.«
In derselben ordentlichen schwarzen Handschrift darunter: 28. Oktober 1954.
Paul sah auf. Er saß regungslos, aber der Puls pochte hektisch in seinem Hals. Seine Eingeweide fühlten sich wabbelig und heiß an.
Kleine Bälger.
Drei der Toten waren Kinder.
Mrs. Krenmitz’ vier Bälger unten.
O nein, o Christus, nein!
Ich hasste diese kleinen Bälger.
Sie war noch ein Kind! Und nicht einmal im Haus!
Sie war elf. Alt genug und schlau genug, um vielleicht ein wenig Kerosin um eine Flasche billigen Schnaps auszuschütten, dann eine Kerze anzuzünden und die Kerze in die Kerosinlache zu stellen. Vielleicht hat sie selbst nicht einmal geglaubt, dass es funktionieren würde. Vielleicht dachte sie, das Kerosin würde verdampfen, bevor die Kerze gänzlich niedergebrannt war. Vielleicht dachte sie, sie würden lebendig herauskommen … sie wollte ihnen nur so viel Angst machen, dass sie wegzogen. Aber sie hat es getan, Paul, sie hat es verdammt noch mal getan, und das weißt du.
Ja, wahrscheinlich schon. Und wer sollte ausgerechnet sie verdächtigen?
Er blätterte um.
Er hatte einen weiteren Ausschnitt aus dem Bakersfield Journal vor sich, dieses Mal vom 19. Juli 1957. Es handelte sich um das Bild von Carl Wilkes, der nun etwas älter aussah. Eines war klar: älter als auf dem Bild war er nicht geworden. Dieser Zeitungsausschnitt war seine Todesanzeige.
BUCHHALTER AUS BAKERSFIELD FINDET BEI UNGEWÖHNLICHEM STURZ DEN TOD
Carl Wilkes, zeit seines Lebens Einwohner von Bakersfield, verstarb gestern Nacht kurz nach seiner Einlieferung ins Hernandez-Hospital. Er war offenbar über einen Stapel von Kleidungsstücken gestolpert, der achtlos auf der Treppe liegen gelassen worden war, als er auf dem Weg zum Telefon im Erdgeschoss war. Dr. Frank Canley, der untersuchende Arzt, sagte, dass Wilkes an den Folgen von Schädelbrüchen und Genickbruch starb. Er war 44.
Wilkes hinterlässt seine Frau Crysilda, einen Sohn, Paul, 18, und eine Tochter, Anne, 14.
Als Paul die nächste Seite umblätterte, glaubte er zunächst, Annie hätte aus Sentimentalität oder versehentlich (Letzteres schien die wahrscheinlichere Ursache zu sein) zwei Kopien der Todesanzeige ihres Vaters eingeklebt. Aber dies war ein anderer Unfall, und der Grund für die verblüffende Ähnlichkeit war der, dass keiner von beiden tatsächlich ein Unfall gewesen war.
Er spürte, wie simples, lähmendes Entsetzen sich in ihm ausbreitete.
In der ordentlichen Handschrift stand unter dem Zeitungsausschnitt: Los Angeles Call, 29. Januar 1962.
USC-STUDENTIN FINDET BEI UNGEWÖHNLICHEM STURZ DEN TOD
Andrea Saint James, USC-Schwesternschülerin, wurde gestern Nacht nach der Einlieferung ins Mercy-Hospital im Norden von Los Angeles als Folge eines bizarren Unfalls für tot erklärt.
Miss Saint James teilte sich eine Wohnung außerhalb des Campus in der Delorme Street mit einer Kommilitonin, Annie Wilkes aus Bakersfield. Kurz vor elf Uhr abends hörte Miss Wilkes einen kurzen Schrei, gefolgt von »schrecklichen Aufprallgeräuschen«. Miss Wilkes, die gelesen hatte, eilte auf den Flur des zweiten Stocks hinaus und sah Miss Saint James »in sehr unnatürlicher Haltung« auf dem Treppenabsatz des ersten Stocks liegen.
Miss Wilkes sagte, in dem Bemühen, Hilfe zu leisten, sei sie um ein Haar selbst gestürzt. »Wir hatten eine Katze namens Peter Gunn«, sagte sie, »aber wir hatten sie seit Tagen nicht mehr gesehen und dachten schon, sie wäre im Tierheim gelandet, weil wir vergessen hatten, ihr eine Marke zu besorgen. Sie lag tot auf der Treppe. Über diese Katze war sie gestolpert. Ich deckte Andrea mit meinem Pullover zu, dann rief ich im Krankenhaus an. Ich wusste, dass sie tot war, aber ich wusste nicht, wen ich sonst anrufen sollte.«
Miss Saint James, in Los Angeles geboren, war 21 Jahre alt.
»Jesus.«
Paul flüsterte es immer wieder. Seine Hand zitterte heftig, als er die Seite umblätterte. Hier sah er einen Ausschnitt aus dem Call, der besagte, dass die Katze der beiden Studentinnen vergiftet worden war.
Peter Gunn. Netter Name für eine Katze, dachte Paul.
Der Vermieter hatte Ratten im Keller. Beschwerden der Mieter hatten schon ein Jahr zuvor zu einer Verwarnung durch die Bauinspektion geführt. Der Vermieter hatte einen Aufruhr bei einer Versammlung des Stadtrats verursacht, der so schlimm gewesen sein musste, dass in den Zeitungen darüber berichtet wurde. Annie hatte es gewusst. Unter Androhung einer strengen Geldstrafe durch Stadtratsmitglieder, die sich nicht gern beschimpfen ließen, hatte der Vermieter vergiftete Köder im Keller ausgelegt. Katze frisst Gift. Katze siecht zwei Tage im Keller dahin. Katze kriecht so weit zu ihren Herrinnen, wie sie noch kann, bevor sie dahinscheidet - und tötet eine der besagten Herrinnen.
Eine Ironie, die eines Paul Harvey würdig gewesen wäre, dachte Paul Sheldon und lachte unbändig. Ich wette, die Sache wurde sogar in seiner täglichen Nachrichtensendung gebracht.
Schön. Sehr schön.
Aber wir wissen alle, dass Annie einen vergifteten Köder aus dem Keller geholt und die Katze persönlich damit gefüttert hat, und hatte der alte Peter Gunn es nicht fressen wollen, hatte sie es ihm wahrscheinlich mit einem Stock in den Schlund gestopft. Als er tot war, legte sie ihn auf die Treppe und hoffte, dass es funktionieren würde. Vielleicht wusste sie genau, dass ihre Zimmernachbarin beschwipst nach Hause kommen würde. Würde mich kein bisschen überraschen. Eine tote Katze, ein Haufen von Kleidungsstücken. Dieselben Indizien, wie Tom Twyford sagen würde. Aber warum, Annie? In diesen Abschnitten steht alles, abgesehen davon: WARUM?
Als Akt der Selbsterhaltung war ein Teil seiner Vorstellungskraft in den letzten Wochen in gewisser Weise zu Annie geworden, und dieser Annie-Teil ergriff nun mit seiner trockenen und keinen Widerspruch duldenden Stimme das Wort. Was er sagte, war völlig wahnsinnig, andererseits aber auch völlig logisch.
Ich habe sie umgebracht, weil sie bis spät in die Nacht Radio hörte.
Ich habe sie umgebracht, weil sie der Katze so einen dummen Namen gegeben hat.
Ich habe sie umgebracht, weil ich es satthatte, mit ansehen zu müssen, wie sie ihrem Freund auf der Couch Zungenküsse gab, während er seine Hand so weit unter ihren Rock geschoben hatte, dass man meinen konnte, er suchte dort nach Gold.
Ich habe sie umgebracht, weil ich sie beim Betrügen erwischt habe.
Ich habe sie umgebracht, weil sie mich beim Betrügen erwischt hat.
Die Einzelheiten sind freilich unwichtig, nicht wahr? Ich habe sie umgebracht, weil sie ein bedummdusseltes Balg war, und das war Grund genug.
»Und vielleicht, weil sie eine Miss Neunmalklug war«, flüsterte Paul. Er warf den Kopf zurück und stieß ein weiteres schrilles und angstvolles Lachen aus. Das also war die Straße der Erinnerung, ja? Oh, was für eine Vielzahl seltsamer und giftiger Blumen doch am Rand von Annies Version dieser idyllischen alten Straße wuchsen!
Niemand hat diese ungewöhnlichen Unfälle jemals in einen Zusammenhang gebracht? Zuerst ihr Vater, dann ihre Mitbewohnerin? Willst du mir das allen Ernstes erzählen?
Ja, das erzählte er sich allen Ernstes. Zwischen den beiden Unfällen lagen fast fünf Jahre, sie hatten in zwei verschiedenen Städten stattgefunden. Zwei verschiedene Zeitungen in einem bevölkerungsreichen Staat, wo wahrscheinlich andauernd jemand die Treppe hinunterstürzte und sich den Hals brach, hatten darüber berichtet.
Und sie war sehr, sehr schlau.
Fast so schlau wie Satan selbst, schien es. Aber allmählich fing sie an, die Kontrolle zu verlieren. Es würde ihm allerdings herzlich wenig nutzen, wenn Annie letzten Endes wegen des Mordes an Paul Sheldon gefasst werden würde.
Er blätterte die Seite um und fand einen weiteren Ausschnitt aus dem Bakersfield Journal - den letzten, wie sich herausstellte. Die Schlagzeile lautete: MISS WILKES BESTEHT PRÜFUNG AN DER SCHWESTERNSCHULE. Mädchen aus dem Ort ist erfolgreich. 17. Mai 1966. Das Foto zeigte eine jüngere, erstaunlich hübsche Annie Wilkes, die Schwesternuniform und Haube trug und in die Kamera lächelte. Es handelte sich selbstverständlich um ein Bild von ihrer Abschlussfeier. Sie hatte mit Auszeichnung bestanden. Und dazu musste sie nur eine Klassenkameradin umbringen, dachte Paul und wieherte sein schrilles, ängstliches Lachen hinaus. Gleichsam wie zur Antwort heulte der Wind ums Haus. Mamas Bild an der Wand wackelte ein wenig.
Der nächste Zeitungsausschnitt war aus dem Union-Leader in Manchester, New Hampshire. 2. März 1969. Es handelte sich um eine einfache Todesanzeige, die überhaupt nichts mit Annie Wilkes zu tun zu haben schien. Ernest Gonyar, neunundsiebzig, war im St.-Joseph-Hospital gestorben. Eine exakte Todesursache wurde nicht genannt. »Nach langer Krankheit«, hieß es im Text. Hinterließ seine Frau, zwölf Kinder und wie es aussah etwa vierhundert Enkelkinder und Urenkel. Es gab nichts Besseres als die Kalender-Verhütungsmethode, um Scharen von Nachfahren zu zeugen, dachte Paul und wieherte erneut.
Sie hat ihn umgebracht. Das ist mit dem guten alten Ernie passiert. Warum wäre sonst seine Todesanzeige hier? Das hier ist Annies Buch des Todes, nicht wahr?
Warum, um Gottes willen? WARUM?
Bei Annie Wilkes ist das eine Frage, auf die es keine vernünftige Antwort gibt. Wie du sehr genau weißt.
Eine weitere Seite, eine weitere Todesanzeige aus dem Union-Leader. 19. März 1969. Bei der Dame handelte es sich um Hester »Queeny« Beaulifant, vierundachtzig. Auf dem Bild sah sie aus wie etwas, dessen Knochen aus den Teergruben von La Brea ausgegraben worden waren. Dasselbe, was Ernie zum Verhängnis geworden war, hatte auch Hester erwischt - es hatte den Anschein, als hätte die »lange Krankheit« grassiert. Wie Ernie, so war auch sie im Saint Joe’s verschieden. Aufgebahrt um 14 und 18 Uhr am 20. März im Bestattungsinstitut Foster. Beerdigung auf dem Mary-Cyr-Friedhof am 21. März um 16 Uhr.
Man hätte eine spezielle Version von »Annie, Won’t You Come By Here« vom Mormon Tabernacle Choir einsingen lassen sollen, dachte Paul und wieherte noch ein paarmal.
Auf den folgenden Seiten fanden sich noch drei weitere Todesanzeigen aus dem Union-Leader. Zwei alte Männer waren am Dauerbrenner »Lange Krankheit« verschieden. Die dritte war eine Frau von sechsundvierzig Jahren namens Paulette Simeaux. Paulette war an der ewig zweitplatzierten »Kurzen Krankheit« gestorben. Wenngleich das zugehörige Bild noch grobkörniger und undeutlicher war als üblich, konnte Paul erkennen, dass Paulette Simeaux »Queeny« Beaulifant im Vergleich wie Däumelinchen aussehen ließ. Er dachte, dass ihre Krankheit wahrhaftig kurz gewesen sein musste - meinethalben eine Thrombose, gefolgt von einer Einlieferung ins Saint Joe’s, gefolgt von … gefolgt von was? Was genau?
Er wollte über die Einzelheiten eigentlich gar nicht nachdenken … aber alle drei waren im Saint Joseph’s gestorben.
Und wenn wir uns das Schwesternregister vom März 1969 ansehen, würden wir dann den Namen WILKES finden? Freunde, wird ein Bär im Wald bedummdusselt?
Dieses Buch, mein Gott, dieses Buch war so groß.
Nichts mehr, bitte. Ich möchte mir nichts mehr ansehen. Ich hab’s schon kapiert. Ich werde dieses Buch genau dorthin legen, wo ich es gefunden habe. Dann werde ich in mein Zimmer fahren. Ich glaube, ich will heute nicht mehr schreiben; ich werde einfach eine zusätzliche Tablette nehmen und zu Bett gehen. Als Rückversicherung gegen Albträume. Aber bitte, nicht mehr weiter Annies Straße der Erinnerung hinunter. Bitte nicht, bitte.
Aber seine Hände schienen einen eigenen Willen zu haben; sie blätterten die Seiten schneller und schneller um.
Zwei weitere kurze Sterbemeldungen im Union-Leader, eine Ende September 1969, die andere Anfang Oktober.
19. März 1970. Diese war aus dem Herald in Harrisburg, Pennsylvania. Eine Rückseite. NEUES KRANKENHAUSPERSONAL. Das Foto eines erkahlenden Mannes mit Brille, der auf Paul den Eindruck machte, als würde er heimlich Popel essen. Der Artikel vermerkte, dass zusätzlich zu einem neuen Pressesprecher (dem erkahlenden Mann mit Brille) zwanzig weitere Mitglieder zur Belegschaft des Riverview-Hospitals gestoßen waren: zwei Ärzte, acht Krankenschwestern, Küchenangestellte, Krankenpfleger und ein Hausmeister.
Annie war eine der Krankenschwestern.
Auf der nächsten Seite, dachte Paul, werde ich die kurze Todesmeldung eines älteren Mannes oder einer älteren Frau sehen, die im Riverview-Hospital in Harrisburg, Pennsylvania, ihr Leben ausgehaucht haben.
Richtig. Ein alter Tattergreis, der an dem ewigen Favoriten, der »Langen Krankheit«, gestorben war.
Gefolgt von einem älteren Mann, der an deren beständiger Gefährtin, der »Kurzen Krankheit« gestorben war.
Gefolgt von einem dreijährigen Kind, das in einen Brunnen gefallen war, sich dabei schwere Kopfverletzungen zugezogen und das man im Koma ins Riverview eingeliefert hatte.
Paul blätterte wie betäubt die Seiten um, während der Wind und der Regen gegen das Haus tobten. Das Muster war unausweichlich. Sie suchte sich einen Job, brachte ein paar Menschen um und zog weiter.
Plötzlich fiel ihm eine Szene aus einem Traum ein, den der bewusste Teil seines Verstandes längst vergessen hatte und der damit das orakelhafte Gefühl eines Déjà-vu-Erlebnisses annahm. Er sah Annie Wilkes in einem langen Schürzenkleid, eine Haube auf dem Kopf, eine Annie, die wie eine Schwester im Londoner Bedlam-Hospital aussah. In einem Arm hielt sie einen Korb. Sie griff hinein. Nahm Sand heraus und schleuderte ihn in die ihr zugewandten Gesichter, an denen sie vorbeiging. Aber dies war nicht der wohltuende Sand des Schlafes, sondern giftiger Sand. Er tötete sie. Wenn er sie berührte, wurden ihre Gesichter weiß, und die Monitore der Maschinen, die ihr flüchtiges Leben überwachten, zeigten eine Nulllinie.
Vielleicht hat sie die Krenmitz-Kinder umgebracht, weil sie Bälger waren … und ihre Zimmerkameradin … vielleicht sogar ihren eigenen Vater. Aber diese anderen?
Dennoch wusste er es. Die Annie in ihm wusste es. Alt und krank. Sie alle waren alt und krank gewesen, abgesehen von Mrs. Simeaux, und als die eingeliefert wurde, war sie ganz sicher kaum noch ein Mensch gewesen. Mrs. Simeaux und das Kind, das in den Brunnen gefallen war. Annie hatte sie umgebracht, weil …
»Weil sie Ratten in der Falle waren«, flüsterte er.
Arme Geschöpfe. Arme, arme Geschöpfe.
Klar. Das war es. In Annies Denkweise untergliederten sich alle Menschen auf der Welt in drei Gruppen: Bälger, arme, arme Geschöpfe … und Annie.
Sie war kontinuierlich westwärts gezogen. Von Harrisburg nach Pittsburgh, nach Duluth, nach Fargo. Dann, 1978, nach Denver. In jedem Fall war das Muster dasselbe: Ein »Willkommen an Bord«-Artikel, in dem Annies Name erwähnt wurde (das »Willkommen an Bord« in Manchester hatte sie wahrscheinlich deshalb verpasst, weil sie nicht wusste, dass die lokale Zeitung solche Artikel brachte, wie Paul vermutete), dann zwei oder drei unauffällige Todesfälle. Danach begann der Zyklus von Neuem.
Bis Denver.
Anfangs schien das Muster wieder dasselbe zu sein. Er fand den NEUZUGÄNGE-Artikel, dieses Mal aus dem hausinternen Mitteilungsblatt des Hospitals von Denver ausgeschnitten, in dem auch Annies Name erwähnt wurde. Ihrer ordentlichen Handschrift konnte er entnehmen, dass die Krankenhauszeitung Die Trage hieß. »Großartiger Name für eine Krankenhauszeitung«, sagte Paul zu dem leeren Zimmer. »Es überrascht mich, dass niemand darauf gekommen ist, sie Die Stuhlprobe zu nennen.« Er wieherte erneut sein ängstliches Lachen hinaus, ohne es zu bemerken. Er blätterte um und fand die erste Todesanzeige aus den Rocky Mountain News. Laura D. Rothberg. Lange Krankheit. 21. September 1978. Hospital von Denver.
Aber dann brach das Muster vollkommen auseinander.
Die nächste Seite verkündete keinen Todesfall, sondern eine Hochzeit. Das Foto zeigte Annie nicht in ihrer Schwesternkluft, sondern in einem weißen, spitzenbesetzten Kleid. Neben ihr, ihre Hand in seiner, stand ein Mann namens Ralph Dugan. Dugan war Physiotherapeut. DUGAN-WILKES-HOCHZEIT lautete die Überschrift des Zeitungsausschnitts. Rocky Mountain News, 2. Januar 1979. Dugan war eine recht unbeachtliche Erscheinung, abgesehen von einem: Er sah wie Annies Vater aus. Wenn man Dugans Schnurrbart abrasierte - was sie wahrscheinlich gleich nach Ende der Flitterwochen von ihm verlangt hatte -, war die Ähnlichkeit wirklich bemerkenswert.
Paul blätterte mit dem Daumen die verbleibenden Seiten von Annies Buch durch und dachte, Ralph Dugan hätte sein Horoskop - ups, sollte Horrorskop heißen - besser durchlesen sollen, als er Annie seinen Heiratsantrag machte.
Ich glaube, es ist sehr gut möglich, dass ich irgendwo in diesen verbleibenden Seiten einen kurzen Artikel über dich finden werde. Manche Leute haben eine Verabredung in Samarra; ich glaube, du könntest eine mit einem Bündel Wäsche oder einer toten Katze auf der Treppe gehabt haben. Einer toten Katze mit einem hübschen Namen.
Aber er irrte sich. Der nächste Zeitungsausschnitt war ein NEUZUGÄNGE-Artikel aus der Zeitung von Nederland. Nederland war ein kleiner Ort westlich von Boulder. Nicht zu weit von hier entfernt, schätzte Paul. Einen Augenblick konnte er Annie in der kurzen Mitteilung voller Namen nicht finden, dann wurde ihm klar, dass er nach dem falschen Namen suchte. Sie war da, aber sie war Teil einer sozialgeschlechtlichen Gemeinschaft mit Namen »Mr. und Mrs. Ralph Dugan« geworden.
Pauls Kopf schnellte hoch. Kam da ein Auto? Nein … nur der Wind. Ganz sicher der Wind. Er las weiter in Annies Buch.
Ralph Dugan hatte im Arapahoe-County-Hospital wieder begonnen, den Schwachen, Lahmen und Blinden zu helfen; wahrscheinlich kehrte Annie in den altehrwürdigen Beruf der Krankenschwester zurück, die den Verletzten Hilfe und Trost zuteilwerden ließ.
Jetzt fängt das Morden an, dachte er. Die einzige Frage ist, kommt Ralph gleich zu Beginn, in der Mitte oder am Schluss?
Aber er irrte sich wieder. Statt einer Todesanzeige zeigte die nächste Seite die Fotokopie einer Makleranzeige. In der linken oberen Ecke der Anzeige befand sich das Foto eines Hauses. Paul erkannte es lediglich anhand des angebauten Stalles - schließlich hatte er das Haus nie von außen gesehen.
Darunter stand in Annies ordentlicher Handschrift: Anzahlung bezahlt am 3. März 1979. Papiere überreicht am 18. März 1979.
Ein Haus für den Ruhestand? Das bezweifelte Paul. Sommerwohnsitz? Nein - diesen Luxus hätten sie sich nicht leisten können. Also …?
Nun, vielleicht war es nur ein Fantasiegespinst - aber wie wäre es damit: Vielleicht liebt sie den alten Ralph Dugan wirklich. Vielleicht ist ein Jahr verstrichen, und sie kann immer noch nichts Bedummdusseltes an ihm riechen. Etwas hat sich ganz sicher verändert; keine Todesanzeigen seit …
Er blätterte zurück, um nachzusehen.
Seit Laura Rothberg im September 1978. Sie hatte etwa zu der Zeit, als sie Ralph kennenlernte, mit dem Töten aufgehört. Aber das war damals, und die Zeit vergeht; jetzt steigt der Druck allmählich wieder an. Die depressiven Phasen kommen wieder. Sie sieht diese alten Menschen … unheilbar krank … und sie denkt, was für arme, arme Geschöpfe sie doch sind, und vielleicht denkt sie: Es ist diese Umgebung, die mich deprimiert. Meilenlange gekachelte Flure, und der Geruch und das Quietschen von Kreppsohlen und die Geräusche von Menschen, die Schmerzen leiden. Wenn ich von hier weg könnte, würde alles wieder gut werden.
Daher waren Ralph und Annie offenbar aufs Land zurückgekehrt.
Er blätterte die Seite um und blinzelte.
Auf den unteren Teil der Seite stand gekritzelt: 23. AUG. 1980 LECK MICH AM ARSCH!
Das Papier war dick, aber an manchen Stellen war es unter der wütenden Hand gerissen, die den Kugelschreiber geführt hatte.
Es war die Spalte SCHEIDUNGEN in der Nederlander Zeitung, aber er musste sie umdrehen, um sich sicher zu sein, dass Annie und Ralph dazugehörten; sie hatte das Blatt verkehrt herum eingeklebt.
Ja, da waren sie. Ralph und Annie Dugan. Scheidungsgrund: seelische Grausamkeit.
»Geschieden nach kurzer Krankheit«, murmelte Paul und sah wieder auf, als er glaubte, ein Auto näher kommen zu hören. Der Wind, nur der Wind … dennoch sollte er in sein Zimmer zurückkehren, wo er in Sicherheit war. Nicht nur wurden die Schmerzen in seinen Beinen immer schlimmer; er war kurz davor, endgültig die Fassung zu verlieren.
Aber er beugte sich wieder über das Buch. Auf eine unheimliche Weise war es einfach zu gut, um es wegzulegen. Es war wie ein Roman, der so widerwärtig war, dass man ihn einfach zu Ende lesen musste.
Annies Ehe hatte auf eine weitaus legalere Art und Weise ihr Ende genommen, als er erwartet hatte. Man konnte durchaus sagen, dass die Scheidung tatsächlich nach kurzer Krankheit erfolgt war. Eineinhalb Jahre eheliche Wonnen waren eigentlich nicht so viel.
Sie hatten das Haus im März gekauft, und das war ein Schritt, den man eigentlich nicht unternahm, wenn man spürte, dass eine Ehe in die Brüche ging. Was war geschehen? Paul wusste es nicht. Er hätte sich eine Geschichte ausdenken können, aber das wäre eben nichts weiter als eine Geschichte gewesen. Aber als er den Zeitungsausschnitt dann noch einmal las, fiel ihm etwas auf, was einen Hinweis geben konnte: Angela Ford von John Ford. Kirsten Frawley von Stanley Frawley. Danna McLaren von Lee McLaren. Und …
Ralph Dugan von Anne Dugan.
Es gibt diesen Brauch in Amerika, richtig? Niemand redet groß darüber, aber er existiert. Männer machen bei Mondschein ihren Antrag; Frauen reichen die Scheidung ein. So ist es nicht immer, aber meistens. Was können wir also aus dieser grammatikalischen Feinheit lernen? Angela sagte: »Bleib mir bloß weg, Jack!« Kirsten sagte: »Mach einen neuen Plan, Stan.« Danna sagt: »Fick dich ins Knie, Lee!« Und was sagt Ralph, der einzige Mann, der zuerst aufgeführt wird? Wahrscheinlich sagte er nur: »Lasst mich bloß hier raus!«
»Vielleicht hat er die tote Katze auf der Treppe gesehen«, sagte Paul.
Nächste Seite. Wieder ein NEUZUGÄNGE-Artikel. Dieser aus der Camera in Boulder, Colorado. Auf dem Rasen des Hospitals von Boulder standen ein Dutzend neue Belegschaftsmitglieder. Annie stand in der zweiten Reihe, ihr Gesicht war ein blasser weißer Kreis unter der Haube mit dem schwarzen Streifen. Die Eröffnung einer weiteren Vorstellung. Das Datum darunter war der 9. März 1981. Sie hatte wieder ihren Mädchennamen angenommen.
Boulder. Das war dort, wo Annie wirklich übergeschnappt war.
Er blätterte die Seiten immer schneller um, sein Entsetzen wuchs, die beiden Gedanken, die sich immer wiederholten, waren: Warum, in Gottes Namen, haben sie nicht eher einen Verdacht gehabt? und Wie, in Gottes Namen, ist sie immer wieder davongekommen?
10. März 1981 - lange Krankheit. 14. Mai 1981 - lange Krankheit. 23. Mai - lange Krankheit. 9. Juni - kurze Krankheit. 15. Juni - kurz. 16. Juni - lang.
Kurz. Lang. Lang. Kurz. Lang. Lang. Kurz.
Die Seiten stotterten ihm durch die Finger. Er nahm den leichten Geruch trockenen Papierleims wahr.
»Gütiger Himmel, wie viele hat sie umgebracht?«
Wenn es stimmte, dass jede Todesanzeige in diesem Buch einem Mord entsprach, dann hatte sie bis Ende 1981 mehr als dreißig Menschen auf dem Gewissen … und alles ohne ein einziges Mucken seitens der Behörden. Selbstverständlich waren die meisten Opfer alt, die anderen schwer verletzt, aber dennoch … man sollte meinen …
1982 war Annie dann schließlich gestrauchelt. Der Ausschnitt aus der Camera vom 14. Januar zeigte ihr leeres, steinernes Gesicht als Rasterbild unter folgender Schlagzeile: NEUE OBERSCHWESTER DER SÄUGLINGSSTATION. So weit, so gut.
Am 29. Januar hatten die Todesfälle auf der Säuglingsstation begonnen.
Annie hatte die ganze Geschichte in ihrer fein säuberlichen Art notiert. Paul hatte keine Mühe, ihr zu folgen. Wenn die Leute, die dir ans Leder wollen, dieses Buch gefunden hätten, Annie, dann wärst du jetzt im Gefängnis - oder im Irrenhaus -, und zwar bis ans Ende aller Tage.
Die ersten beiden Todesfälle unter den Säuglingen hatten keinen Verdacht erweckt - der Artikel über den ersten sprach von schweren Geburtsschäden. Aber Babys, mit Geburtsschäden oder ohne, waren keine alten Tattergreise, die an Nierenversagen starben, oder Unfallopfer, die gerade noch lebend eingeliefert wurden, trotz nur noch halb vorhandener Köpfe oder lenkradgroßer Löcher in den Eingeweiden. Und dann hatte sie angefangen, die gesunden wie die kranken umzubringen. Er vermutete, dass sie, während sie immer tiefer in die Psychose abglitt, begonnen hatte, sie alle als arme, arme Geschöpfe zu sehen.
Mitte März 1982 hatte es fünf Todesfälle in der Säuglingsstation des Hospitals von Boulder gegeben. Ermittlungen wurden eingeleitet. Am 24. März nannte die Camera als möglichen Missetäter »verunreinigte Säuglingsnahrung«. Eine »zuverlässige Quelle im Krankenhaus« wurde zitiert, und Paul fragte sich, ob die Quelle nicht möglicherweise Annie Wilkes selbst gewesen war.
Im April war ein weiteres Baby gestorben. Zwei im Mai.
Dann, die Titelseite der Denver Post vom 1. Juni:
OBERSCHWESTER DER SÄUGLINGSSTATION ZUM TOD DER SÄUGLINGE VERHÖRT
»Bis jetzt« noch keine Anklage erhoben,
sagt die Sprecherin der Polizeistelle
Von Michael Leith
 
Annie Wilkes, die neununddreißigjährige Oberschwester der Säuglingsstation des Hospitals von Boulder, wurde heute hinsichtlich des Todes von acht Säuglingen verhört - Sterbefälle, die im Verlauf mehrerer Monate auftraten. Alle Todesfälle fanden nach Miss Wilkes’ Anstellung statt.
Auf die Frage, ob Miss Wilkes festgenommen wurde, sagte Tamara Kinsolving, die Pressesprecherin der Polizeistelle, dies sei nicht geschehen. Auf die Frage, ob Miss Wilkes aus freien Stücken gekommen war, um Informationen zu dem Fall zu geben, antwortete Mrs. Kinsolving: »Ich würde sagen, das war nicht der Fall. Die Lage ist etwas ernster.« Gefragt, ob Wilkes eines Verbrechens angeklagt worden sei, antwortete Mrs. Kinsolving: »Nein, noch nicht.«
Der Rest des Artikels war ein Abriss von Annies Laufbahn. Es war offensichtlich, dass sie häufig umgezogen war, aber nirgends wurde erwähnt, dass die Patienten aller Krankenhäuser, in denen sie gearbeitet hatte - nicht nur in Boulder -, besonders leicht ins Gras bissen, wenn sie in der Nähe war.
Er betrachtete das beiliegende Foto fasziniert. Annie in Haft. Großer Gott, Annie in Haft; die Göttin nicht gestürzt, aber wankend … wankend …
Sie ging in Begleitung einer kräftigen Polizistin eine Treppe hinauf, ihr Gesicht leer und ausdruckslos. Sie trug ihre Schwesterntracht und weiße Schuhe.
Nächste Seite: WILKES AUF FREIEM FUSS - KEIN WORT BEIM VERHÖR.
Sie war davongekommen. Irgendwie war sie davongekommen. Es wurde Zeit für sie, zu verduften und sich anderswo niederzulassen - Idaho, Utah, Kalifornien vielleicht. Stattdessen ging sie wieder zur Arbeit. Und anstatt einer NEUZUGÄNGE-Meldung von irgendwo weiter westlich sah er eine riesige Schlagzeile aus den Rocky Mountain News vom 2. Juli 1982:
Der Schrecken geht weiter:
DREI WEITERE SÄUGLINGE STERBEN
IM HOSPITAL VON BOULDER
Zwei Tage später nahmen die Behörden einen puerto-ricanischen Pfleger fest, den sie neun Stunden später wieder freiließen. Dann, am 19. Juli, meldeten die Denver Post und die Rocky Mountain News beide Annies Festnahme. Anfang August fand eine kurze Vorverhandlung statt. Am 9. September stand sie wegen Mordes an einem einen Tag alten Mädchen mit Nachnamen Christopher vor Gericht. Nach dem Christopher-Mädchen kamen sieben weitere Mordfälle. Der Artikel betonte, dass einige von Annies mutmaßlichen Opfern sogar schon so alt gewesen waren, dass sie richtige Namen bekommen hatten.
Zwischen den Artikeln über die Verhandlung befanden sich Leserbriefe aus den Zeitungen von Boulder und Denver. Paul wurde klar, dass Annie lediglich die feindseligsten ausgeschnitten hatte - diejenigen, die ihren verbitterten Standpunkt betonten, demzufolge der Mensch ein Homo balgus war -, aber sie waren durchaus vielseitig in ihren Schmähungen. In einem jedoch schien Einigkeit zu herrschen: Hängen war noch zu gut für Annie Wilkes. Ein Berichterstatter taufte sie die Drachenlady; dieser Name haftete ihr während der ganzen Verhandlung an. Die meisten schienen der Meinung zu sein, dass man die Drachenlady mit glühenden Mistgabeln zu Tode stechen sollte, und die meisten deuteten weiter an, dass sie sich herzlich gern freiwillig zu dieser Tätigkeit melden würden.
Neben einen solchen Brief hatte Annie in einer zittrigen und irgendwie kläglichen Handschrift, die so gar nicht ihrer sonstigen sehr bestimmten Schrift glich, geschrieben: Stöcke Steine werden meine Knochen brechen Worte können mich nicht verletzen.
Es war offensichtlich, dass Annies großer Fehler gewesen war, nicht aufzuhören, als den Leuten allmählich klar wurde, dass irgendetwas nicht stimmte. Das war ein schlimmer Fehler, aber unglücklicherweise nicht schlimm genug. Die Göttin wankte nur. Die Anklage beruhte lediglich auf Indizien und war stellenweise so dünn, dass man durch sie eine Zeitung lesen konnte. Der Staatsanwalt am Bezirksgericht hatte einen Handabdruck auf dem Gesicht und Hals des Christopher-Mädchens, zu dem Annies Hand passte, komplett mit dem Abdruck des Amethystrings, den sie am Ringfinger der rechten Hand trug. Der Staatsanwalt hatte außerdem eine Liste mit ihren Aufenthaltszeiten in der Säuglingsstation, die grob mit den Todesdaten übereinstimmten. Aber immerhin war Annie die Oberschwester, daher kam und ging sie ständig. Die Verteidigung konnte Dutzende Fälle anführen, in denen Annie die Station betreten hatte und nichts Ungewöhnliches geschehen war. Paul war der Meinung, genauso könnte man argumentieren, dass niemals Meteore auf der Erde einschlugen, indem man fünf Tage als Beweis heranzog, an denen kein einziger auf den Nordfeldern von Bauer John niedergegangen war; aber er begriff dennoch den Eindruck, den diese Ausführungen bei den Geschworenen hinterlassen haben mussten.
Die Anklage versuchte, ihr Netz so gut es ging zu knüpfen, aber der Handabdruck mit dem Ring war im Grunde genommen der einzige handfeste Beweis, den sie vorweisen konnte. Die Tatsache, dass der Staat Colorado überhaupt beschlossen hatte, Annie unter Anklage zu stellen, wenngleich die Chance einer Verurteilung aufgrund der Indizien so gering war, erfüllte Paul mit einer Vermutung und einer Gewissheit. Die Vermutung war, dass Annie während ihrer ersten Vernehmung Aussagen gemacht hatte, die extrem deutlich, vielleicht sogar belastend gewesen waren; ihrem Verteidiger war es gelungen, die Protokolle dieses Verhörs aus der Hauptverhandlung herauszuhalten. Die Gewissheit war, dass Annies Entscheidung, bei der Vorverhandlung für sich selbst auszusagen, außerordentlich unklug gewesen war. Diese Aussage nämlich hatte der Verteidiger nicht unterdrücken können (wenngleich er sich bei dem Versuch beinahe entzweigerissen hatte), und obschon Annie in den drei Tagen im August, die sie »oben in Denver im Zeugenstand« verbracht hatte, kein Wort gestanden hatte, hatte sie seiner Meinung nach eigentlich alles zugegeben.
Auszüge aus den Protokollen, die sie in ihr Buch eingeklebt hatte, enthielten ein paar echte Juwelen:
Ob sie mich traurig stimmten? Selbstverständlich stimmten sie mich traurig, wenn man bedenkt, in was für einer Welt wir leben.
 
Ich habe nichts, dessen ich mich schämen müsste. Ich schäme mich niemals. Was ich tue, das ist endgültig, ich blicke niemals auf so etwas zurück.
 
Ob ich die Beerdigung von einem von ihnen besucht habe? Selbstverständlich nicht. Ich finde Beerdigungen düster und deprimierend. Außerdem glaube ich nicht, dass Babys eine Seele haben.
 
Nein, ich weine niemals.
 
Ob es mir leidtat? Ich schätze, das ist eine philosophische Frage, oder nicht?
 
Selbstverständlich verstehe ich die Frage. Ich verstehe alle Ihre Fragen. Ich weiß, dass Sie alle es auf mich abgesehen haben.
Wenn sie bei der Hauptverhandlung darauf bestanden hätte, für sich selbst auszusagen, dachte Paul, dann hätte ihr Verteidiger sie wahrscheinlich erschossen, um sie zum Schweigen zu bringen.
Der Fall kam am 13. Dezember 1982 vor die Geschworenen. Er sah ein erstaunliches Foto aus den Rocky Mountain News, ein Foto von Annie, die ruhig in der Untersuchungszelle saß und Miserys Suche las. IN DER MISERE?, fragte die Bildunterschrift. NICHT DIE DRACHENLADY. Annie liest gelassen, während sie auf das Urteil wartet.
Und dann, am 16. Dezember, die großen Schlagzeilen: DRACHENLADY UNSCHULDIG. In dem Artikel wurde einer der Geschworenen, der anonym bleiben wollte, zitiert: »Ich habe große Zweifel, was ihre Unschuld anbelangt, ja. Unglücklicherweise habe ich auch Zweifel, was ihre Schuld betrifft. Ich hoffe, sie wird wegen einem der anderen Fälle nochmals angeklagt. Vielleicht kann die Anklage dort stichhaltigere Beweise vorlegen.«
Alle wussten, dass sie es getan hat, aber niemand konnte es beweisen. Und so ist sie ihnen durch die Finger geschlüpft.
Auf den folgenden drei oder vier Seiten wurde der Fall weiter behandelt. Der Staatsanwalt sagte, Annie würde ganz sicher in einem der anderen Fälle angeklagt werden. Drei Wochen später sagte er, das habe er nie gesagt. Anfang Februar 1983 gab das Büro des Staatsanwalts eine Presseerklärung ab, wonach der Fall der Kindermorde im Hospital von Boulder weiter verfolgt würde, der Fall gegen Annie Wilkes jedoch abgeschlossen war.
Durch die Finger geschlüpft.
Ihr Mann hat weder für die eine noch für die andere Seite ausgesagt. Ich frage mich, was der Grund dafür war?
Das Buch hatte noch mehr Seiten, aber er erkannte daran, wie dicht die meisten aufeinanderlagen, dass er schon fast am Ende von Annies bisheriger Geschichte angekommen war. Gott sei Dank.
Die nächste Seite war aus der Sidewinder Gazette vom 19. November 1984. Wanderer hatten die verstümmelte und teilweise zerstückelte Leiche eines jungen Mannes im östlichen Teil des Grider-Wildlife-Reservats gefunden. In der Zeitung der folgenden Woche wurde er als Andrew Pomeroy identifiziert, dreiundzwanzig Jahre alt, aus Cold Stream Harbor, New York. Pomeroy war im September des Vorjahres von New York aufgebrochen, um per Anhalter nach L.A. zu reisen. Am 15. Oktober hatten seine Eltern zum letzten Mal von ihm gehört. Er hatte ein R-Gespräch aus Julesburg mit ihnen geführt. Die Leiche war in einem ausgetrockneten Bachbett gefunden worden. Die Polizei vermutete, dass der Junge möglicherweise am Highway 9 ermordet und während des Tauwetters im Frühling in das Naturschutzgebiet gespült worden war. Der Gerichtsmediziner sagte, die Wunden seien ihm mit einer Axt zugefügt worden.
Paul überlegte, nicht ganz ohne Grund, wie weit das Grider-Wildlife-Reservat von hier entfernt war.
Er blätterte die Seite um und sah den letzten Zeitungsausschnitt - jedenfalls bisher -, und plötzlich bekam er keine Luft mehr. Es war, als wäre er, nachdem er grimmig durch den fast unerträglichen Nekrolog der vorhergehenden Seiten gewatet war, nun auf seine eigene Todesanzeige gestoßen. Nicht ganz, aber …
»Aber nahe genug für den ersten Versuch«, sagte er mit leiser, heiserer Stimme.
Es war aus dem Newsweek. In der Spalte ›Übergänge‹. Zwischen der Scheidung einer Fernsehschauspielerin und dem Tod eines Stahlmagnaten aus dem Mittleren Westen fand er folgende Meldung:
VERMISST GEMELDET: Paul Sheldon, 42, Romanautor, am besten bekannt durch seine Serie von Abenteuerromanen über die begehrenswerte, hitzköpfige, nicht kleinzukriegende Misery Chastain; von seinem Agenten Bryce Bell. »Ich glaube, es geht ihm gut«, sagte Bell, »aber ich wünschte, er würde sich bei mir melden und mir so meine Sorgen nehmen. Und seine geschiedenen Frauen wünschten, er würde sich bei ihnen melden und ihnen vor allem ihre finanziellen Sorgen nehmen.« Sheldon wurde zuletzt vor sieben Wochen in Boulder, Colorado, gesehen, wohin er gefahren war, um einen neuen Roman zu vollenden.
Der Ausschnitt war zwei Wochen alt.
Vermisst gemeldet, das ist alles. Nur vermisst gemeldet. Ich bin nicht tot; es ist nicht so, als wäre ich tot.
Aber es war, als wäre er tot, und plötzlich brauchte er seine Medizin, weil es nicht nur seine Beine waren, die schmerzten. Alles schmerzte. Er legte das Buch sorgfältig wieder an seinen Platz zurück und rollte zum Gästezimmer.
Draußen wehte der Wind heftiger, als er es bisher getan hatte, er klatschte kalten Regen gegen das Haus, und Paul zuckte davor zurück, stöhnend und voller Angst, und er versuchte mit aller Verzweiflung, sich zusammenzunehmen und nicht in Tränen auszubrechen.
Sie
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