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Der vorausschauende Teil seines Verstandes sah sie
schon, bevor er wusste, dass er sie sah, und musste sie bereits
verstanden haben, bevor er wusste, dass er sie verstand - weshalb
sonst hätte er so harte, unheilvolle Bilder mit ihr assoziiert?
Wann immer sie das Zimmer betrat, musste er an die Gottheiten
denken, welche von abergläubischen Afrikanern in den Romanen von H.
Rider Haggard angebetet wurden, und an Steine, und an
Untergang.
Die Vorstellung von Annie Wilkes als afrikanisches
Götzenbild aus Sie oder König Salomons Diamanten war
albern und auf seltsame Weise zutreffend zugleich. Sie war eine
große Frau, die, abgesehen von der beachtlichen, aber abweisenden
Rundung ihres Busens unter dem grauen Strickpullover, den sie immer
trug, überhaupt keine weiblichen Kurven zu haben schien - keine
konturierte Rundung von Hüften oder Pobacken oder auch nur Waden
unter der endlosen Abfolge von Wollröcken, die sie im Haus trug
(sie zog sich in ihr unsichtbares Schlafzimmer zurück und zog Jeans
an, wenn sie Arbeiten draußen zu erledigen hatte). Ihr Körper war
groß, jedoch nicht großzügig. Sie vermittelte ein Gefühl von
Verklumpungen und Barrieren anstatt von einladenden Öffnungen oder
gar offenen Stellen oder Nischen.
Am meisten aber vermittelte sie ihm das
beunruhigende Gefühl von Festigkeit, als besäße sie
keinerlei Blutgefäße oder innere Organe; als wäre sie nur von einer
Seite zur anderen und von oben bis unten eine massive Annie Wilkes.
Mehr und mehr war er davon überzeugt, dass ihre Augen, die sich zu
bewegen schienen, lediglich aufgemalt
waren und sich nicht mehr bewegten als die Augen von Porträts,
deren Blicke einen in dem Zimmer, in dem sie hängen, scheinbar in
jeden Winkel verfolgen. Er hatte den Eindruck, würde er die ersten
beiden Finger einer Hand zum V formen und in ihre Nasenlöcher
bohren, so würde er kaum mehr als wenige Millimeter eindringen
können, bevor er gegen ein solides (wenn auch etwas nachgiebiges)
Hindernis stoßen würde, ja, dass sogar ihr grauer Strickpullover
und die altmodischen Hausröcke und verblichenen Jeans für draußen
Teile dieses massiven, faserigen, blutgefäßlosen Körpers waren.
Daher war der Eindruck, sie könnte ein Götzenbild in einem
leidenschaftlichen Roman sein, eigentlich keineswegs überraschend.
Wie eine Göttin gab sie ihm nur eines: ein Gefühl des Unbehagens,
welches sich zunehmend zum Entsetzen hin steigerte. Alles andere
nahm sie, ebenfalls wie eine Göttin.
Nein, Moment, das war nicht ganz fair. Sie
gab in der Tat noch etwas anderes. Sie gab ihm die
Tabletten, welche die Flut über die Pfähle hinwegspülen
ließen.
Die Tabletten waren die Flut; Annie Wilkes war die
lunare Macht, die sie ihm in den Mund drückte wie Strandgut, das
auf einer Welle angeschwemmt wurde. Alle sechs Stunden brachte sie
ihm zwei, anfangs tat sich ihre Anwesenheit lediglich als ein
Fingerpaar kund, welches in seinem Mund herumstocherte (und er
lernte recht bald, begierig an diesen stochernden Fingern zu
saugen, obschon sie einen bitteren Geschmack hatten), später dann
kam sie in ihrem Strickpullover und einem von ihren halben Dutzend
Röcken, für gewöhnlich mit einer Taschenbuchausgabe eines seiner
Romane unter dem Arm. Nachts erschien sie ihm in einem fusseligen
rosa Morgenrock, ihr Gesicht
glänzend durch irgendeine Creme (er konnte den Hauptbestandteil
dieser Creme ganz eindeutig erkennen, wenngleich er die Flasche
niemals gesehen hatte, aus der sie sie entnahm; der schafartige
Geruch von Lanolin war stark und aufdringlich), und rüttelte ihn
aus seinem betäubten, traumbedrängten Schlaf, die Tabletten in
einer Hand; der pockennarbige Mond rekelte sich im Fenster über
einer ihrer massiven Schultern.
Nach einer Weile - nachdem seine Besorgnis zu groß
geworden war, um sie noch länger zu missachten - gelang es ihm
herauszufinden, was sie ihm einflößte. Es war ein schmerzstillendes
Mittel auf Codeinbasis namens Novril. Der Grund dafür, dass sie ihm
die Bettpfanne so selten bringen musste, war nicht nur der, dass er
von einer Diät lebte, die fast ausschließlich aus Flüssigkeit und
Gelee bestand (zuvor, als er sich in der Wolke befand, hatte sie
ihn intravenös ernährt), sondern auch, dass Novril bei Patienten,
die es einnahmen, zu Verstopfung führte. Eine weitere Nebenwirkung
deutlich ernsterer Natur war Atemlähmung bei empfindlichen
Patienten. Paul war nicht besonders empfindlich, auch wenn er fast
achtzehn Jahre lang starker Raucher gewesen war, aber sein Atem
hatte trotzdem zumindest einmal aufgehört (vielleicht noch
öfter, in dem Nebel, an den er sich nicht erinnern konnte). Das
war, als sie ihn Mund zu Mund beatmet hatte.
Es konnte sich um einen Zwischenfall gehandelt
haben, wie sie sich eben manchmal zutragen, aber später begann er
zu argwöhnen, dass sie ihn mit einer versehentlichen Überdosis fast
umgebracht hatte. Sie hatte nicht so viel Ahnung von dem, was sie
tat, wie sie selbst glaubte. Das war nur eines der Dinge an Annie,
das ihm Angst machte.
Etwa zehn Tage nachdem er aus der dunklen Wolke
aufgetaucht war, fand er drei Dinge fast gleichzeitig heraus. Das
erste war, dass Annie Wilkes über einen erheblichen Vorrat an
Novril verfügte (tatsächlich hatte sie eine Vielzahl der
verschiedensten Medikamente). Das zweite war, dass er von Novril
abhängig war. Das dritte war, dass Annie Wilkes auf gefährliche
Weise verrückt war.