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Die Stunde verging. Irgendwie und endlich verging
die Stunde.
Er lag im Bett und schwitzte und zitterte
gleichzeitig. Aus dem Nebenzimmer hörte er zuerst die Stimmen von
Hawkeye und Hot Lips, dann die Discjockeys von WKRP, diesem wilden
und verrückten Rundfunksender in Cincinnati. Ein Sprecher pries
Ginsu-Messer an, nannte eine 800er-Telefonnummer und informierte
die Zuschauer in Colorado, die es kaum noch erwarten konnten, ein
Set Ginsu-Messer zu kaufen, dass der telefonische Kundendienst sich
nun bereithielt.
Auch Paul Sheldon hielt sich bereit.
Als die Uhr im Nebenzimmer acht schlug, erschien
sie prompt wieder und brachte zwei Kapseln und ein Glas
Wasser.
Er stützte sich erwartungsvoll auf die Ellbogen,
während sie sich auf das Bett setzte.
»Vor zwei Tagen habe ich endlich Ihr neues
Buch bekommen«, sagte sie zu ihm. Eis klirrte in dem Glas. Es war
ein nervtötendes Geräusch. »Miserys Kind. Gefällt mir … Es
ist so gut wie alle anderen. Besser! Das beste!«
»Danke«, brachte er heraus. Er konnte den Schweiß
auf der Stirn spüren. »Bitte meine Beine große Schmerzen …«
»Ich habe gewusst, dass sie Ian heiraten
würde«, sagte sie und lächelte verträumt, »und ich glaube, dass
Geoffrey und Ian irgendwann wieder Freunde werden. Werden
sie doch, oder?« Aber sie fuhr sofort fort: »Nein, nicht verraten!
Ich möchte es selbst herausfinden. Es muss eine Weile halten. Es
dauert immer so lange, bis ein neues herauskommt.«
Die Schmerzen pulsierten in seinen Beinen und
spannten sich wie ein Stahlreif um seinen Unterleib. Er hatte sich
selbst dort unten berührt und glaubte, dass sein Becken unversehrt
war, aber es fühlte sich dennoch verdreht und fremdartig an.
Unterhalb der Knie schien nichts intakt zu sein. Er wollte
es nicht sehen. Er sah die verdrehten, klumpigen Formen, die sich
unter dem Laken abzeichneten, und das genügte ihm.
»Bitte! Miss Wilkes! Die Schmerzen …«
»Nennen Sie mich Annie. Das tun alle meine
Freunde.«
Sie gab ihm das Glas. Es war kühl und feucht
beschlagen. Die Kapseln behielt sie. Die Kapseln in ihrer Hand
waren die Flut. Sie war der Mond, und sie hatte die Gezeiten
gebracht, welche die Pfähle überschwemmen würden. Sie führte sie zu
seinem Mund, den er auf der Stelle weit öffnete … und dann zog sie
sie zurück.
»Ich habe mir die Freiheit genommen, in Ihre Tasche
zu sehen. Das macht Ihnen doch nichts aus, oder?«
»Nein. Selbstverständlich nicht. Die Medizin
…«
Die Schweißperlen auf seiner Stirn fühlten sich
abwechselnd heiß und kalt an. Würde er schreien? Er hielt es nicht
für ausgeschlossen.
»Ich habe darin ein Manuskript gefunden«, sagte
sie. Sie hielt die Kapseln in der rechten Hand, die sie jetzt ganz
langsam kippte. Sie fielen in ihre linke Hand. Er folgte ihnen mit
den Augen. »Es heißt Schnelle Autos. Kein
Misery-Roman, das weiß ich.« Sie sah ihn ein klein wenig
missbilligend an - aber, wie schon zuvor, nicht ohne eine Spur von
Liebe. Es war ein mütterlicher Blick. »Im neunzehnten
Jahrhundert gab es keine Autos, ob nun schnell oder langsam!« Sie
kicherte über ihren kleinen
Scherz. »Ich habe mir auch die Freiheit genommen, ein wenig darin
zu blättern … Das stört Sie doch hoffentlich nicht?«
»Bitte«, stöhnte er. »Nein, aber bitte …«
Sie neigte die linke Hand. Die Kapseln rollten,
zögerten, dann fielen sie mit einem kaum hörbaren Klickern wieder
in ihre rechte Hand.
»Und wenn ich es lesen würde? Würde es Ihnen etwas
ausmachen, wenn ich es lesen würde?«
»Nein …« Seine Knochen waren zerschmettert. Seine
Beine waren mit eiternden Glassplittern gespickt. »Nein …« Er
verzog das Gesicht - wie er hoffte - zu einem Lächeln. »Nein,
selbstverständlich nicht.«
»Denn ohne Ihre Einwilligung würde ich so etwas
selbstverständlich niemals tun«, sagte sie ernst. »Dazu respektiere
ich Sie zu sehr. Tatsächlich liebe ich Sie, Paul.« Plötzlich und
auf beunruhigende Weise wurde sie purpurrot. Eine der Kapseln fiel
ihr aus der Hand und auf die Bettdecke. Paul griff danach, aber sie
war schneller. Er stöhnte, aber sie beachtete es nicht. Nachdem sie
die Kapsel an sich genommen hatte, wurde sie wieder abwesend und
sah zum Fenster. »Ihren Verstand«, sagte sie. »Ihre
Kreativität. Das habe ich gemeint.«
In seiner Verzweiflung sagte er, weil ihm nichts
anderes einfiel: »Ich weiß. Sie sind mein größter Fan.«
Dieses Mal lief sie nicht nur einfach warm, sie
leuchtete auf. »Das ist es!«, rief sie aus. »Genau
das ist es! Und es macht Ihnen nichts aus, wenn ich es in
dieser Eigenschaft lese, nicht wahr? Mit aller Liebe eines … eines
Fans? Auch wenn mir Ihre anderen Bücher nicht so gut gefallen wie
die Misery-Romane?«
»Nein«, sagte er und schloss die Augen.
Meinethalben kannst du Papierhüte aus den Manuskriptseiten
falten, wenn du möchtest, aber … bitte … ich sterbe hier
…
»Sie sind so gütig«, sagte sie sanft. »Ich
habe immer gewusst, dass Sie das sein würden. Als ich Ihre
Bücher gelesen habe, da wusste ich es. Ein Mann, der Misery
Chastain erfinden konnte, der sie sich erst ausdenken und ihr dann
Leben einhauchen konnte, der kann nicht anders sein.«
Plötzlich waren ihre Finger in seinem Mund, eine
schockierend intime Geste, aber auf schmutzige Weise höchst
willkommen. Er saugte die Kapseln zwischen ihnen heraus und
schluckte sie, noch bevor sie ihm das Wasserglas an den Mund halten
konnte.
»Wie ein Baby«, sagte sie, aber er konnte sie nicht
sehen, weil er die Augen geschlossen hatte, und nun spürte er, wie
seine Tränen zu fließen begannen. »Aber gütig. Ich möchte Sie so
vieles fragen … möchte so vieles wissen.«
Die Federn ächzten, als sie aufstand.
»Wir werden hier sehr glücklich sein«, sagte sie,
und wenngleich ein Blitzschlag des Entsetzens in Pauls Herz fuhr,
öffnete er immer noch nicht die Augen.