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Ich werde nicht schreien!
Er saß jetzt hellwach am Fenster und war sich
völlig darüber im Klaren, dass der Polizeiwagen, den er in Annies
Einfahrt sah, so wirklich war, wie es sein linker Fuß einst gewesen
war.
Schrei! Gottverdammt, schrei!
Er wollte es, aber seine Konditionierung war
zu stark - einfach zu stark. Er konnte nicht einmal den Mund
öffnen. Er versuchte es und sah im Geiste die braunen
Betadintropfen von der Messerklinge spritzen. Er versuchte es und
hörte das Knirschen der Axt auf dem Knochen, das leise
Flopp, als das Streichholz in ihrer Hand den Bernz-O-matiC
entzündete.
Er versuchte, den Mund zu öffnen, und konnte es
nicht.
Versuchte, die Hände zu heben. Konnte es
nicht.
Ein schreckliches Stöhnen entrang sich seinen
zusammengepressten Lippen, und seine Hände trommelten leicht und
planlos auf dem Brett zu beiden Seiten der Royal, aber mehr konnte
er nicht tun, er schien nicht imstande, sein Schicksal energischer
in die Hand zu nehmen. Nichts, was ihm bisher zugestoßen war -
abgesehen vielleicht von dem Augenblick, als er gesehen hatte, wie
sich sein linkes Bein bewegte, der linke Fuß aber nicht -, war so
schrecklich gewesen wie diese Unfähigkeit, sich zu bewegen, es war
die Hölle. In Wirklichkeit dauerte es nicht lange; vielleicht fünf
Sekunden, sicher nicht länger als zehn. Aber in Paul Sheldons Kopf
schien es Jahre zu dauern.
Dort, direkt vor seinen Augen, befand sich die
Rettung: Er musste nur das Fenster zertrümmern und die
Konditionierung überwinden, mit der das Miststück seine Zunge
gelähmt hatte, und Helfen Sie mir, helfen Sie mir, retten Sie
mich vor Annie! Retten Sie mich vor der Göttin! schreien.
Gleichzeitig schrie eine andere Stimme: Ich bin
brav, Annie! Ich werde nicht schreien! Ich bin brav, ich bin brav,
um der Göttin willen! Ich verspreche, dass ich nicht schreien
werde, aber schneide mir bitte nichts mehr ab! Hatte er
gewusst, hatte er vor dieser Situation wirklich und wahrhaftig
gewusst, wie schlimm sie ihn unter der Knute hatte, wie viel
seines inneren Selbst - seines Willens und seiner Seele - sie ihm
genommen hatte? Er wusste, dass er unablässig terrorisiert worden
war, aber hatte er gewusst, wie viel von seiner eigenen subjektiven
Realität, die einst so stark gewesen war, dass er sie als
selbstverständlich betrachtet hatte, ausgelöscht worden war?
Er wusste eines mit ziemlicher Sicherheit - es war
wesentlich mehr mit ihm nicht in Ordnung als nur die Lähmung seiner
Zunge, ebenso wie mit dem, was er geschrieben hatte, wesentlich
mehr nicht in Ordnung war als die fehlende Type oder das Fieber
oder die Fehler in der Kontinuität oder selbst der Verlust seines
Schneids. Die Wahrheit hinter allem war so einfach in ihrer
Grausamkeit; so schrecklich einfach. Er starb Stück für Stück, aber
das Sterben war nicht so schlimm, wie er immer gefürchtet hatte.
Aber er schwand auch, und das war eine furchtbare Sache,
denn das war idiotisch.
Nicht schreien!, kreischte die Stimme der
Panik dessen ungeachtet, während der Polizist die Tür seines Autos
öffnete und ausstieg und dabei seinen Smokey-Bear-Hut
zurechtrückte. Er war jung, kaum älter als zwei- oder
dreiundzwanzig, und er hatte eine Sonnenbrille auf, die so schwarz
und flüssig wirkte wie eine Rohöllache. Er verharrte, um die
Bügelfalten seiner khakifarbenen Uniformhose zurechtzuzupfen, und
kaum dreißig Meter von ihm entfernt starrte ein Mann mit blauen
Augen, die aus seinem blassen und stoppelbärtigen Greisengesicht
quollen, ihn hinter einem Fenster an, stöhnte zwischen
zusammengepressten Lippen und klopfte sinnlos mit den Händen auf
einem über einen Rollstuhl gelegten Brett.
nicht schreien
(doch schreien)
schreie und es ist vorbei schreie und es hat ein
Ende
(niemals niemals hat es ein Ende bis ich tot bin
dieser Junge ist kein Gegner für die Göttin)
Paul, bei Jesus Christus, bist du schon tot?
Schrei, du feiges Stück Scheiße! SCHREI DIR DIE LUNGE AUS
DEM HALS!
Seine Lippen öffneten sich mit einem leisen
reißenden Laut. Er saugte Luft in die Lunge und schloss die Augen.
Er hatte keine Ahnung, was und ob überhaupt etwas herauskommen
würde - bis es kam.
»AFRIKA!«, schrie Paul. Nun schossen seine
zitternden Hände wie aufgeschreckte Vögel in die Höhe und pressten
sich gegen seinen Kopf, als wollten sie sein explodierendes Gehirn
festhalten. »Afrika! Afrika! Helfen Sie mir! Helfen Sie mir!
Afrika!«