18
Sobald es dunkel war, sagte sie, wollte sie den
Polizeiwagen zu ihrem Lachplatz fahren. Neben der Blockhütte befand
sich ein Anbau, wo sie das Auto sicher verstecken konnte. Sie war
der Meinung, die einzige Gefahr einer Entdeckung bestand auf der
Route 9, aber selbst dort würde das Risiko gering sein - sie musste
dort nur vier Meilen zurücklegen. Sobald sie die 9 verließ, würde
sie auf Nebenstraßen in die Berge fahren, von denen viele gar nicht
mehr benutzt wurden, weil grasendes Vieh dort oben eine Seltenheit
wurde. Ein paar dieser Straßen, sagte sie, waren durch Tore
abgesperrt - sie und Ralph hatten Schlüssel dafür bekommen, als sie
das Haus gekauft hatten. Sie mussten nicht danach fragen, die
Besitzer des Landes zwischen der Straße und der Hütte gaben sie
ihnen. Sie nannten es Nachbarschaftshilfe, sagte sie Paul
und schaffte es, ein freundliches Wort mit ungeahnten Nuancen zu
versehen: Argwohn, Verachtung, bittere Belustigung.
»Jetzt, wo ich gesehen habe, wie wenig man Ihnen
vertrauen kann, würde ich Sie gern mitnehmen, um Sie im Auge zu
behalten, aber das geht nicht. Ich könnte Sie im Kofferraum des
Polizeiwagens hochbringen, aber Sie wieder herunterzubekommen wäre
unmöglich. Ich werde mit Ralphs Geländemotorrad zurückfahren
müssen. Wahrscheinlich falle ich herunter und breche mir meinen
bedummdusselten Hals!«
Sie lachte fröhlich, um zu zeigen, was für ein Witz
das für sie wäre, aber Paul stimmte nicht mit ein.
»Wenn das geschehen würde, Annie, was würde
dann aus mir werden?«
»Mit Ihnen wäre alles in Ordnung, Paul«, sagte sie
heiter. »Herrje, Sie sind so ein Sorgenpinsel!« Sie ging zu einem
der Kellerfenster und blieb einen Moment dort stehen, sah hinaus
und schätzte ab, wie weit der Tag fortgeschritten war. Paul sah sie
missvergnügt an. Wenn sie vom Motorrad ihres Mannes fiel oder von
einer dieser unbefestigten Bergstraßen abkam, dann wäre mit ihm
schwerlich alles in Ordnung. Er glaubte nämlich, dass er dann hier
unten einen erbärmlichen Tod sterben würde, und wenn das geschehen
war, wäre er eine willkommene Mahlzeit für die Ratten, die
augenblicklich zweifellos diese unliebsamen Zweibeiner
betrachteten, die in ihr Reich eingedrungen waren. Die Tür der
Vorratskammer hatte jetzt auch ein Kreig-Schloss, und der Riegel an
der Kellerluke war fast so dick wie sein Handgelenk. Die
Kellerfenster waren, wie um Annies Paranoia widerzuspiegeln (und
daran war nichts Seltsames, überlegte er; spiegelten nicht alle
Häuser nach einer Weile die Persönlichkeit ihrer Besitzer wider?),
wenig mehr als schmutzige
Schießscharten, etwa fünfzig Zentimeter lang und fünfunddreißig
breit. Er glaubte, selbst in Bestform hätte er sich da nicht
hindurchzwängen können, und in Bestform war er ganz und gar nicht.
Es gelang ihm vielleicht, eines aufzubrechen und um Hilfe zu rufen,
wenn sich jemand hier zeigte, bevor er verhungert war, aber das war
ein schwacher Trost.
Die ersten Wogen des Schmerzes flossen wie
vergiftetes Wasser seine Beine hinunter. Und das Verlangen. Sein
Körper schrie nach Novril. Es war das Muss, oder nicht? Klar
doch.
Annie kam zurück und nahm die dritte Flasche Pepsi.
»Ich bringe Ihnen noch ein paar, bevor ich gehe«, sagte sie. »Im
Augenblick brauche ich den Zucker. Es macht Ihnen doch nichts aus,
oder?«
»Selbstverständlich nicht. Meine Pepsi ist Ihre
Pepsi.«
Sie drehte den Verschluss von der Flasche und trank
mit gierigen Schlucken. Das Geräusch, das sie dabei machte, ließ
Paul an einen Song denken: Chug-a-lug, chug-a-lug, make ya want
to holler hi-de-ho. Von wem war das? Roger Miller, richtig?
Seltsam, was der Verstand so alles ausspuckte.
Wirklich urkomisch.
»Ich lege ihn ins Auto und fahre es zu meinem
Lachplatz hinauf. Ich nehme all seine Sachen mit. Ich fahre sein
Auto in den Schuppen und begrabe ihn und seine … Sie wissen schon,
seine Fetzen … oben im Wald.«
Er sagte nichts. Er dachte an Bossie, die muhte und
muhte und muhte, bis sie nicht mehr muhen konnte, weil sie tot war,
und eine weitere große Wahrheit über das Leben hier am Western
Slope war: Tote Kühe muhen nicht.
»Ich habe eine Kette für die Einfahrt. Die werde
ich anbringen. Wenn die Polizei kommt, wird das vielleicht Verdacht
erwecken, aber ich erwecke lieber ihren Verdacht, als zu riskieren,
dass sie bis zum Haus fahren und hören, wie Sie ein großes
bedummdusseltes Spektakel veranstalten. Ich habe mir überlegt, ob
ich Sie knebeln soll, aber Knebel sind gefährlich, besonders dann,
wenn man Drogen nimmt, die die Atmung beeinträchtigen können. Oder
Sie müssen sich vielleicht übergeben. Oder Ihre Nebenhöhlen
verstopfen, weil es hier unten so feucht ist. Wenn Ihre Nebenhöhlen
verstopfen und Sie können nicht durch den Mund atmen …«
Sie sah weg und schaltete ab; sie war so stumm wie
die Steine der Kellerwand, so leer wie die erste Flasche Pepsi, die
sie getrunken hatte. Make ya want to holler hi-de-ho. Und
hatte Annie heute hi-de-ho gebrüllt? Worauf du dich verlassen
kannst. O Brüder, Annie hatte hi-de-ho gebrüllt, bis der ganze Hof
pupsig war. Er lachte. Sie machte keine Anzeichen, dass sie ihn
gehört hatte.
Dann kam sie langsam wieder.
Sie blickte sich blinzelnd nach ihm um.
»Ich werde einen Zettel durchs eins der Glieder der
Absperrung stecken«, sagte sie langsam, während sie ihre Gedanken
wieder sammelte. »Etwa fünfunddreißig Meilen von hier ist eine
Stadt. Sie heißt Steamboat Heaven, ist das nicht ein komischer Name
für eine Stadt? Die haben dort diese Woche den größten Flohmarkt
der Welt, so nennen sie es jedenfalls. Das gibt es dort jeden
Sommer. Es sind immer eine Menge Leute dort, die Keramiksachen
verkaufen. Ich werde auf den Zettel schreiben, dass ich dort bin,
in Steamboat Heaven, um Keramiksachen zu kaufen. Ich
schreibe, dass ich über Nacht dort bleiben werde. Und wenn mich
später jemand fragt, wo ich gewesen bin, damit sie es nachprüfen
können, dann werde ich sagen, es gab keine guten Keramiksachen
dort, daher bin ich wieder zurückgefahren. Aber ich wurde müde. Das
werde ich sagen. Ich sage, ich habe unterwegs angehalten, um ein
Nickerchen zu machen, weil ich Angst hatte, am Steuer
einzuschlafen. Ich sage, ich wollte nur ein kurzes Nickerchen
machen, aber ich war so müde, dass ich die ganze Nacht
durchgeschlafen habe.«
Paul war fassungslos, wie weit ihre
Durchtriebenheit ging. Plötzlich wurde ihm klar, dass Annie genau
das tat, was er nicht konnte: Sie spielte Kannst du? im
wirklichen Leben. Vielleicht, dachte er, schreibt sie
deshalb keine Bücher. Sie muss es gar nicht.
»Ich werde so schnell wie möglich zurückkommen,
denn die Polizei wird hierher kommen«, sagte sie. Diese
Aussicht schien Annies unheimliche Gelassenheit nicht im Mindesten
zu erschüttern, wenngleich Paul nicht glauben konnte, dass sie in
einem Teil ihres Verstandes nicht auch wusste, wie nahe das Ende
des Spiels jetzt herangerückt war. »Ich nehme nicht an, dass sie
noch heute Nacht kommen werden - es sei denn vielleicht, um
vorbeizufahren -, aber sie werden kommen. Sobald sie sich
sicher sind, dass er wirklich verschwunden ist. Sie werden seine
Strecke abfahren und nach ihm suchen und versuchen herauszufinden,
wo er haltgemacht hat, wo man ihn gesehen hat. Denken Sie nicht
auch, Paul?«
»Ja.«
»Ich sollte zurück sein, bevor sie kommen.
Wenn ich gleich in der Morgendämmerung mit dem Motorrad losfahre,
dann schaffe ich es vielleicht, noch vor Mittag wieder hier zu
sein. Ich müsste sie eigentlich überholen können. Denn wenn er von
Sidewinder gekommen ist, dann wird er unterwegs an vielen Stellen
angehalten haben, bevor er hierher kam.
Wenn sie kommen, dann dürften Sie wieder in Ihrem
Zimmer sein, kuschelmuschelgemütlich. Ich werde Sie nicht fesseln
oder knebeln oder so etwas, Paul. Sie können sogar zusehen, wenn
ich hinausgehe und mit ihnen rede. Denn nächstes Mal werden es zwei
sein, denke ich. Mindestens zwei, glauben Sie nicht auch?«
Paul glaubte es auch.
Sie nickte zufrieden. »Aber ich kann auch mit
zweien fertigwerden, wenn es sein muss.« Sie tätschelte den
Khakibeutel. »Ich möchte, dass Sie immer an die Pistole des Jungen
denken, wenn Sie zusehen, Paul. Denken Sie daran, dass sie die
ganze Zeit hier drinnen sein wird, wenn die Polizisten morgen oder
übermorgen kommen und ich mit ihnen rede. Ich werde den Beutel
nicht zumachen. Es macht nichts, wenn Sie sie sehen, Paul,
aber wenn die Polizisten Sie sehen - entweder durch Zufall
oder weil Sie morgen etwas Ähnliches wie heute versuchen -, wenn
das passiert, Paul, dann werde ich die Pistole aus dem Beutel holen
und zu schießen anfangen. Sie tragen schon die Verantwortung für
den Tod dieses Jungen.«
»Bockmist«, sagte Paul und wusste, sie würde ihm
dafür wehtun, aber es war ihm einerlei.
Sie tat es nicht. Sie lächelte nur ihr gelassenes
mütterliches Lächeln.
»Oh, Sie wissen es«, sagte sie. »Ich mache mir
nicht vor, dass es Sie kümmern könnte, ganz und gar nicht,
aber Sie
wissen es. Ich mache mir nicht vor, dass es Sie kümmern
würde, wenn wegen Ihnen zwei weitere Menschen sterben, wenn
Sie sich etwas davon versprechen … aber es würde Ihnen nichts
nutzen, Paul. Denn wenn ich zwei umbringen muss, dann werde ich
direkt vier umbringen. Sie … und uns. Und wissen Sie was? Ich
glaube, es liegt Ihnen noch etwas an Ihrer eigenen Haut.«
»Nicht viel«, sagte er. »Ich will Ihnen die
Wahrheit sagen, Annie - mit jedem Tag, der vergeht, möchte ich
meine Haut mehr und mehr loswerden.«
Sie lachte.
»Oh, das habe ich schon einmal gehört. Aber
wenn sie nur sehen, wie man Hand an ihre pupsigen alten
Beatmungsgeräte legt! Das ist etwas ganz anderes! Ja! Wenn sie
das sehen, dann fangen sie an, zu schreien und zu heulen,
und werden zu richtigen Bälgern!«
Nicht, dass dich das jemals abgehalten hätte,
was, Annie?
»Wie dem auch sei«, sagte sie, »ich wollte Sie nur
wissen lassen, wie die Dinge liegen. Wenn es Sie wirklich nicht
kümmert, dann können Sie sich die Lunge aus dem Hals schreien, wenn
sie kommen. Es liegt ganz bei Ihnen.«
Paul sagte nichts.
»Wenn sie kommen, dann werde ich draußen in der
Einfahrt stehen und sagen, ja, ein Polizist war hier. Ich werde
sagen, er kam gerade, als ich nach Steamboat Heaven aufbrechen
wollte, um mir die Keramiksachen anzusehen. Ich werde sagen, dass
er mir Ihr Bild gezeigt hat. Ich werde sagen, dass ich Sie nicht
gesehen habe. Dann wird mich einer von Ihnen fragen: ›Das war
letzten Winter, Miss Wilkes, wie können Sie sich so sicher sein?‹
Und ich werde
sagen: ›Wenn Elvis Presley noch am Leben wäre und Sie ihn letzten
Winter gesehen hätten, würden Sie sich dann noch daran
erinnern?‹ Und er wird sagen, ja, wahrscheinlich, aber was hat das
mit den Kaffeepreisen in Borneo zu tun, und ich werde sagen, Paul
Sheldon ist mein Lieblingsschriftsteller und dass ich Ihr Bild
schon oft gesehen habe. Das muss ich sagen, Paul. Wissen Sie,
warum?«
Er wusste es. Ihre Durchtriebenheit setzte ihn
immer mehr in Erstaunen. Er dachte, das sollte sie eigentlich
nicht, jetzt nicht mehr, aber dennoch war es so. Er erinnerte sich
an die Bildunterschrift unter dem Foto, das Annie in der
Untersuchungszelle zeigte, das Bild, das während der Zeit zwischen
dem Ende der Verhandlung und der Rückkehr der Geschworenen
aufgenommen worden war. Er erinnerte sich Wort für Wort daran:
IN DER MISERE? NICHT DIE DRACHENLADY. Annie liest gelassen,
während sie auf das Urteil wartet.
»Also dann«, fuhr sie fort. »Ich werde sagen, dass
der Polizist alles in sein Buch geschrieben und sich bedankt hat.
Ich sage ihnen, dass ich ihn auf eine Tasse Kaffee hereingebeten
habe, obwohl ich in Eile war, und sie werden mich fragen, warum.
Ich werde sagen, möglicherweise wusste er von meinen früheren
Problemen, und ich wollte ihm die Gewissheit geben, dass hier alles
bestens ist. Aber er sagte Nein, er müsste weiter. Daher fragte ich
ihn, ob er eine kalte Pepsi mit auf den Weg nehmen wollte, weil der
Tag so heiß war, und er sagte, ja, danke, das wäre sehr
freundlich.«
Sie trank die zweite Pepsi aus und hielt die leere
Plastikflasche zwischen sich und ihn. Durch das Plastik hindurch
sah ihr Auge riesig und verzerrt aus, das Auge eines
Zyklopen. Die Seite ihres Kopfes nahm eine wellige, gewölbte Form
wie ein Wasserkopf an.
»Ich werde etwa zwei Meilen aufwärts halten und
diese Flasche in den Straßengraben werfen«, sagte sie. »Aber zuvor
werde ich selbstverständlich seine Finger darauf drücken.«
Sie lächelte ihn an - ein trockenes, speichelloses
Lächeln.
»Fingerabdrücke«, sagte sie. »Dann werden sie
wissen, dass er an meinem Haus vorbeigefahren ist. Jedenfalls
werden sie es glauben, und das ist genauso gut, nicht,
Paul?«
Seine Bestürzung wuchs.
»Sie fahren also weiter die Straße hinauf, aber sie
werden ihn nicht finden. Er wird wie vom Erdboden verschluckt sein.
Wie diese Swamis, die auf ihren Flöten blasen, bis ein Seil aus dem
Korb aufsteigt, und dann klettern sie an diesem Seil hoch und sind
verschwunden. Puff!«
»Puff«, sagte Paul.
»Natürlich werden sie nicht lange brauchen, bis sie
zurückkommen. Ich weiß das. Wenn sie jenseits meines Hauses außer
einer leeren Flasche keine Spur mehr von ihm finden, dann werden
sie beschließen, sich doch noch einmal eingehender mit mir zu
beschäftigen. Schließlich bin ich ja verrückt, nicht wahr? Das
stand in allen Zeitungen. Völlig plemplem!
Aber zuerst werden sie mir glauben. Ich glaube
nicht, dass sie gleich hereinkommen und das Haus durchsuchen wollen
- anfangs nicht. Sie werden anderswo suchen und andere
Möglichkeiten durchdenken, bevor sie wieder hierherkommen.
Wir werden also etwas Zeit haben. Vielleicht eine Woche.«
Sie sah ihn ruhig an.
»Sie werden schneller schreiben müssen, Paul«,
sagte sie.