15
Er sah sie erst am Spätnachmittag wieder. Nach
ihrem Besuch war es ihm unmöglich zu arbeiten. Er machte ein paar
vergebliche Versuche, knüllte das Papier zusammen und gab auf. Es
war sinnlos. Er rollte wieder durch das Zimmer. Als er sich vom
Rollstuhl wieder hinüber ins Bett zog, rutschte eine seiner Hände
ab, und er wäre um ein Haar gestürzt. Sein linkes Bein glitt
herunter, und wenngleich es sein Gewicht trug und ihn vor dem Sturz
bewahrte, waren die Schmerzen unerträglich - ihm war zumute, als
wären ihm mit einem Mal ein Dutzend Nägel in den Knochen geschlagen
worden. Er schrie, griff nach dem Kopfteil und zog sich daran
sicher ins Bett, wobei er sein schmerzendes Bein nachzog.
Jetzt wird sie bestimmt kommen, dachte er
wirr. Sie wird wissen wollen, ob sich Sheldon tatsächlich in
Luciano Pavarotti verwandelt hat oder ob es sich nur so
anhört.
Aber sie kam nicht, und es war ihm unmöglich, die
schrecklichen Schmerzen in seinem linken Bein zu ertragen. Er
rollte sich unbeholfen auf den Bauch, schob einen Arm tief unter
die Matratze und holte eine der Novrilproben heraus. Er schluckte
zwei Kapseln trocken, dann schwebte er für eine Weile davon.
Als er wieder zu sich kam, glaubte er zuerst, er
würde träumen.
Es war zu surreal, wie in jener Nacht, als sie den
Grill hereingerollt hatte. Annie saß auf der Bettkante. Sie hatte
ein mit Novrilkapseln gefülltes Wasserglas auf den Nachttisch
gestellt. In der anderen Hand hielt sie eine Rattenfalle Marke
Victor. Und es war eine Ratte darin - eine ziemlich große mit
struppigem braunem Fell. Die Falle hatte der Ratte das Rückgrat
gebrochen. Ihre Hinterbeine hingen über den Rand der Falle herunter
und zuckten gelegentlich. Blutstropfen hingen an den
Schnurrhaaren.
Dies war kein Traum. Nur ein weiterer Tag mit Annie
allein im Gruselkabinett.
Ihr Atem roch wie eine Leiche, die in verfaultem
Essen verwest.
»Annie?« Er richtete sich auf und ließ den Blick
zwischen ihr und der Ratte hin und her wandern. Draußen war die
Dämmerung hereingebrochen - eine seltsam blaue, regenverhangene
Dämmerung. Regen prasselte ans Fenster. Heftige Windböen
schüttelten das Haus und ließen es ächzen.
Was immer an diesem Morgen nicht mit ihr gestimmt
hatte, heute Abend war es schlimmer. Viel schlimmer. Ihm
wurde klar, dass er sie endlich ohne alle ihre Masken sah - dies
war die wahre Annie, die Annie tief im Innersten. Das Fleisch ihres
Gesichts, das bislang so undurchdringlich und massiv ausgesehen
hatte, hing nun wie lebloser Teig herab. Ihre Augen waren leer. Sie
hatte sich angezogen, aber der Rock war verkehrt herum. Auf ihrer
Haut waren weitere Striemen zu sehen, noch mehr Essensreste auf der
Kleidung. Wenn sie sich bewegte, verströmte sie so viele
verschiedene Gerüche, dass Paul sie nicht zählen konnte. Fast ein
ganzer Ärmel ihres Strickpullovers war mit einer
halb angetrockneten Substanz vollgesogen, die nach Bratensoße
roch.
Sie hielt die Falle hoch. »Wenn es regnet, kommen
sie in den Keller.« Die gefangene Ratte piepste kraftlos und
schnappte nach Luft. Ihre schwarzen Augen, die unendlich viel mehr
Leben enthielten als die der Frau, die sie gefangen hatte, rollten
in den Höhlen. »Ich stelle Fallen auf. Das muss ich. Ich reibe die
Trittbretter mit Schinkenspeck ein. Ich fange immer acht oder neun.
Manchmal finde ich andere …«
Dann schaltete sie ab. Schaltete fast drei Minuten
lang ab, während sie die Ratte in der Luft hielt, ein perfekter
Fall wächserner Katatonie. Paul starrte sie an, starrte die
piepsende und zuckende Ratte an und wurde sich bewusst, dass er
tatsächlich gedacht hatte, es könnte nicht mehr schlimmer werden.
Falsch. Verdammt falsch.
Endlich, als er schon anfing zu glauben, sie wäre
ohne Pauken und Trompeten ins Nirwana entschwunden, ließ sie die
Falle sinken und fuhr fort, als hätte sie nie aufgehört zu
reden.
»… die ertrunken in den Ecken liegen. Arme
Geschöpfe.«
Sie betrachtete die Ratte, und eine Träne fiel auf
deren mattes Fell.
»Arme, arme Geschöpfe.«
Sie schloss eine ihrer kräftigen Hände um die Ratte
und zog mit der anderen die Feder zurück. Sie zuckte in ihrer Hand
und drehte den Kopf in dem Versuch, sie zu beißen. Ihr Fiepen war
dünn und schrecklich. Paul presste den Handballen auf seinen
zusammenzuckenden Mund.
»Wie ihr Herz schlägt. Wie sie sich abmüht zu
entkommen! Genau wie wir, Paul. Genau wie wir. Wir denken,
wir wissen so viel, aber in Wirklichkeit wissen wir nicht mehr als
eine Ratte in der Falle - eine Ratte mit gebrochenem Rücken, die
denkt, dass sie immer noch leben will.«
Die Hand, welche die Ratte hielt, wurde zur Faust.
Ihre Augen verloren zu keinem Zeitpunkt diesen leeren, abwesenden
Ausdruck. Paul wollte den Blick abwenden und konnte es nicht. Die
Sehnen auf der Innenseite ihres Armes traten hervor. Unvermittelt
rann ein dünner Blutstrom aus dem Maul der Ratte. Paul hörte, wie
ihre Knochen brachen, dann bohrten sich die dicken Stummel ihrer
Finger in den Körper und verschwanden bis zum ersten Knöchel. Blut
tropfte auf den Boden. Die brechenden Augen des Geschöpfs quollen
aus den Höhlen.
Sie warf den Kadaver in die Ecke und wischte sich
dann die Hände gleichgültig am Laken ab. Lange rote Spuren blieben
zurück.
»Jetzt hat sie Frieden.« Sie zuckte die Achseln,
dann lachte sie. »Ich hole mein Gewehr, ja, Paul? Vielleicht ist
die nächste Welt besser. Für Ratten und für Menschen - nicht dass
zwischen den beiden ein großer Unterschied bestehen würde.«
»Nicht bevor ich fertig bin«, sagte er und betonte
jedes Wort sorgfältig. Das war schwierig, denn ihm war zumute, als
hätte jemand seinen Mund mit Novocain betäubt. Er hatte sie schon
in depressiven Phasen erlebt, aber noch nie etwas
Vergleichbares wie das hier; er fragte sich, ob es ihr schon
jemals so schlecht gegangen war wie jetzt. Dies war der
Zustand, in den Depressive verfielen, bevor sie ihre ganze Familie
erschossen und dann sich selbst; es war die psychotische
Verzweiflung einer Frau, die den Kindern die besten Sachen anzieht,
ihnen ein Eis kauft, sie dann auf die
Brücke führt, jedes unter einen Arm nimmt und springt. Depressive
bringen sich selbst um. Psychotiker, die in der vergifteten Wiege
ihres eigenen Egos gewiegt wurden, wollen allen anderen in ihrer
Nähe einen Gefallen tun und sie mit sich nehmen.
Ich bin dem Tod näher als jemals zuvor in meinem
Leben, dachte er, denn sie meint es ernst. Das Miststück
meint es ernst.
»Misery?«, fragte sie, fast als hätte sie das Wort
noch nie vorher gehört - aber ganz kurz hatte der flüchtige Funke
des Lebens in ihren Augen geglommen, oder nicht? Er glaubte es
zumindest.
»Misery, ja.« Er dachte verzweifelt darüber nach,
wie er fortfahren sollte. Jedes mögliche Vorgehen schien voller
Fallstricke zu sein. »Ich stimme Ihnen zu, dass die Welt
größtenteils ein ziemlich beschissener Ort ist«, sagte er und fügte
dann geistlos hinzu: »Besonders wenn es regnet.«
O du Idiot, hör auf, dummes Zeug zu
reden!
»Ich meine, ich hatte in den vergangenen Wochen
ziemliche Schmerzen und …«
»Schmerzen?« Sie sah ihn mit bleicher, tiefer
Verachtung an. »Sie haben keine Ahnung, was Schmerzen sind. Nicht
die geringste Ahnung, Paul.«
»Nein … wahrscheinlich nicht. Verglichen mit
Ihnen.«
»Das stimmt.«
»Aber - ich möchte dieses Buch zu Ende schreiben.
Ich möchte miterleben, wie alles ausgeht.« Eine Pause. »Und ich
möchte auch, dass Sie bleiben und es miterleben. Es hat keinen
Sinn, ein Buch zu schreiben, wenn niemand da ist, der es liest.
Verstehen Sie, was ich meine?«
Er lag mit klopfendem Herzen da und betrachtete
dieses schreckliche Steingesicht.
»Annie? Verstehen Sie mich?«
»Ja …« Sie seufzte. »Ich möchte wissen, wie
alles ausgeht. Ich glaube, das ist das Einzige auf der Welt,
das ich immer noch möchte.« Langsam, offenbar ohne zu merken, was
sie tat, fing sie an, das Blut der Ratte von ihren Fingern zu
saugen. Paul biss die Zähne zusammen und sagte sich grimmig, dass
er sich nicht übergeben würde, nicht übergeben,
nicht übergeben. »Es ist, als würde ich auf das Ende
eines Serials warten.«
Sie drehte sich plötzlich um, und das Blut auf
ihren Lippen sah wie Lippenstift aus.
»Ich will es Ihnen noch einmal anbieten, Paul. Ich
kann mein Gewehr holen. Ich kann dem allen für uns beide ein Ende
machen. Sie sind kein Dummkopf. Sie wissen, dass ich Sie niemals
von hier fortgehen lassen kann. Das ist Ihnen schon eine Weile
klar, nicht wahr?«
Du darfst deine Augen nicht abwenden. Wenn sie
sieht, dass du deine Augen abwendest, wird sie dich hier, auf der
Stelle, umbringen.
»Ja. Aber alles hat ein Ende, Annie, nicht wahr?
Wir alle sehen irgendwie dem Ende entgegen.«
Die Spur eines Lächelns in ihren Mundwinkeln; sie
berührte sein Gesicht kurz und zärtlich.
»Ich glaube, Sie denken an Flucht. Wie eine Ratte
in der Falle auch, auf ihre eigene Weise, dessen bin ich mir
sicher. Aber Sie werden nicht entkommen, Paul. Wenn dies eine Ihrer
Geschichten wäre, dann vielleicht, aber das ist es nicht. Ich kann
Sie hier nicht weggehen lassen … aber ich könnte mit Ihnen
gehen.«
Und plötzlich, für einen Augenblick, dachte er
daran zu sagen: Also gut, Annie - nur zu. Machen wir dem allen
ein Ende. Dann aber erhob sich sein Lebenswille - und der war
trotz alledem noch ziemlich stark in ihm - und tobte und vertrieb
die momentane Schwäche. Schwäche, genau das war es. Schwäche und
Feigheit. Glücklicherweise oder unglücklicherweise hatte er nicht
die Krücke der Geisteskrankheit, auf die er sich lehnen
konnte.
»Danke«, sagte er, »aber ich möchte vollenden, was
ich begonnen habe.«
Sie seufzte und stand auf. »Also gut. Ich vermute,
ich muss das gewusst haben, denn wie ich sehe, habe ich Ihnen
Tabletten mitgebracht, wenngleich ich mich nicht daran erinnern
kann.« Sie lachte - ein kurzes, irres Kichern, das aus dem
erschlafften Gesicht zu kommen schien, als hätte ein Bauchredner
den Laut verursacht. »Ich muss eine Weile weggehen. Wenn ich es
nicht tue, wird es einerlei sein, was Sie oder ich wollen. Weil ich
dann Dinge tue. Ich habe einen Ort, wo ich hingehe, wenn mir so
zumute ist. Ein Ort in den Bergen. Haben Sie je die
Onkel-Remus-Geschichten gelesen, Paul?«
Er nickte.
»Erinnern Sie sich, wie Meister Lampe dem Fuchs
Patzig von seinem Lachplatz erzählt?«
»Ja.«
»So nenne ich meinen Platz oben in den Bergen.
Meinen Lachplatz. Erinnern Sie sich, wie ich sagte, ich wäre von
Sidewinder zurückgekommen, als ich Sie gefunden habe?«
Er nickte.
»Nun, das war eine Lüge. Ich habe geschwindelt,
weil ich Sie nicht kannte. In Wahrheit kam ich von meinem
Lachplatz zurück. Dort hängt ein Schild über der Tür, auf dem
steht genau das. ANNIES LACHPLATZ steht darauf. Manchmal lache ich
wirklich, wenn ich dort bin.
Aber meistens schreie ich einfach nur.«
»Wie lange werden Sie fort sein, Annie?«
Sie schritt verträumt zur Tür. »Kann ich nicht
sagen. Ich habe Ihnen Tabletten gebracht. Ihnen wird es gut gehen.
Nehmen Sie zwei alle sechs Stunden. Oder sechs alle vier Stunden.
Oder alle auf einmal.«
Aber was soll ich essen?, wollte er sie
fragen, tat es aber nicht. Er wollte nicht, dass sie ihre
Aufmerksamkeit wieder ihm zuwandte - überhaupt nicht. Er wollte,
dass sie verschwand. Hier mit ihr zusammen zu sein war, als befände
er sich in der Gegenwart des Todesengels.
Er lag lange Zeit starr und steif im Bett und
lauschte ihren Bewegungen, erst im Obergeschoss, dann auf der
Treppe, dann in der Küche, und die ganze Zeit rechnete er damit,
dass sie es sich doch noch anders überlegen und mit dem Gewehr
zurückkommen würde. Er entspannte sich nicht einmal, als er hörte,
wie die Seitentür zugeschlagen und abgeschlossen wurde, gefolgt von
platschenden Schritten draußen. Sie konnte das Gewehr ebenso gut im
Cherokee liegen haben.
Der Motor von Old Bessie keuchte, sprang
schließlich an. Annie gab Gas und ließ den Motor aufheulen. Die
Scheinwerfer wurden eingeschaltet, ihre Lichtkegel erhellten einen
silbernen Vorhang aus Regen. Die Lichter verschwanden die Zufahrt
hinunter. Sie schwangen herum, wurden schwächer, dann war Annie
verschwunden. Dieses Mal fuhr sie nicht bergab in Richtung
Sidewinder, sondern in die andere Richtung, ins Hochland.
»Sie fährt zu ihrem Lachplatz«, krächzte Paul und
begann selbst zu lachen. Sie hatte ihren; er war bereits an seinem.
Sein ungestümer Heiterkeitsausbruch endete abrupt, als sein Blick
auf den zerquetschten Kadaver der Ratte in der Ecke fiel.
Ein Gedanke kam ihm.
»Wer sagt denn, dass sie mir nichts zu essen
dagelassen hat?«, fragte er das Zimmer, und dann fing er an, noch
heftiger zu lachen. In dem leeren Haus hörte sich Paul Sheldons
Lachen an wie das eines Irren in der Gummizelle.