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Als sie hereinkam, da dachte er zuerst, sie müsste
ein Traum sein, aber dann gewann die Realität - oder schlicht das
nackte Überleben - die Oberhand, und er fing an, zu stöhnen und zu
betteln und zu flehen, und das alles gebrochen, alles aus einem
tiefen Brunnen der Unwirklichkeit heraus. Das Einzige, was er
deutlich sah, war, dass sie ein dunkelblaues Kleid trug und einen
Hut mit einem Gesteck aus Zweigen aufhatte - ganz genau die
Kleidung, in der er sie sich im Zeugenstand in Denver vorgestellt
hatte.
Sie hatte eine gesunde Gesichtsfarbe, ihre Augen
funkelten lebhaft. Sie war so hübsch, wie Annie Wilkes es wohl
überhaupt sein konnte, und wenn er später versuchte, sich an diese
Szene zu erinnern, dann sah er in aller Deutlichkeit nur die
leuchtenden Wangen und den Hut mit den Zweigen vor sich. Aus einem
letzten Bollwerk geistiger Gesundheit und klarer Urteilsfähigkeit
heraus hatte der rationale Paul Sheldon gedacht: Sie sieht aus
wie eine Witwe, die nach zehnjähriger Trockenzeit gerade zum ersten
Mal wieder gefickt worden ist.
In der Hand hielt sie ein Glas Wasser - ein großes
Glas Wasser.
»Trinken Sie das«, sagte sie und schob ihm eine vom
Aufenthalt draußen noch kühle Hand unter den Nacken, damit er sich
aufrichten und ohne sich zu verschlucken trinken konnte. Er trank
drei gierige Schlucke, die Poren auf der trockenen Wüste seiner
Zunge weiteten sich und tobten unter dem Schock des Wassers, ein
wenig davon rann ihm am Kinn hinab und auf das T-Shirt, das er
anhatte, und dann zog sie es ihm weg.
Er wimmerte und streckte die zitternden Hände
danach aus.
»Nein«, sagte sie. »Nein, Paul. Kleine Schlucke,
sonst werden Sie sich übergeben.«
Nach einer Weile gab sie es ihm zurück und
gestattete ihm zwei weitere Schlucke.
»Die Medizin«, sagte er hustend. Er saugte an
seinen Lippen, strich mit der Zunge über sie, dann saugte er an der
Zunge. Er konnte sich undeutlich daran erinnern, wie er seine
eigene Pisse getrunken hatte, wie warm und salzig sie gewesen war.
»Die Kapseln … Schmerzen … bitte, Annie, bitte, um Gottes willen,
helfen Sie mir, die Schmerzen sind so schlimm …«
»Ich weiß, aber Sie müssen mir zuhören«, sagte sie
und betrachtete ihn mit diesem strengen, aber mütterlichen
Ausdruck. »Ich musste fortgehen und nachdenken. Ich habe lange
nachgedacht, und ich hoffe, ich habe gut nachgedacht. Ich war mir
nicht ganz sicher; meine Gedanken sind häufig durcheinander, das
weiß ich. Ich akzeptiere es. Daher konnte ich mich nicht erinnern,
wo ich all die Male gewesen war, nach denen sie mich immer wieder
fragten. Daher betete ich. Es gibt einen Gott, wissen Sie,
und Er antwortet auf Gebete. Immer. Daher betete ich. Ich sagte:
›Lieber Gott, Paul Sheldon könnte tot sein, wenn ich zurückkomme.‹
Aber Gott sagte: ›Er wird nicht tot sein. Ich verschone ihn, damit
du ihm den Weg weisen kannst, den er gehen muss.‹«
Sie sprach »weisen« fast wie »weinen« aus, aber
Paul konnte sie ohnehin kaum noch hören; sein Blick war starr auf
das Glas Wasser geheftet. Sie gab ihm drei weitere Schlucke. Er
schlabberte wie ein Pferd, rülpste, dann schrie er auf, als Krämpfe
ihn schüttelten.
Während all dessen sah sie ihn gütig an.
»Ich werde Ihnen Ihre Medizin geben und Ihren
Schmerzen ein Ende bereiten«, sagte sie, »aber zuerst müssen Sie
etwas tun. Ich bin gleich wieder da.« Sie stand auf und ging zur
Tür.
»Nein!«, schrie er.
Sie achtete gar nicht darauf. Er lag eingehüllt in
Schmerz im Bett und versuchte, nicht zu stöhnen, aber er stöhnte
dennoch.