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Paul sah die letzte Zeile ungläubig an, dann hob
er die Royal hoch - er hatte damit weitergemacht, sie wie eine
seltsame Hantel hochzustemmen, wenn sie nicht im Zimmer war, Gott
allein wusste, warum - und schüttelte sie erneut. Die Typen
klapperten, dann fiel ein weiteres Stück Metall auf das Brett, das
ihm als Schreibtisch diente.
Draußen konnte er das Dröhnen von Annies hellblauem
Rasenmähertraktor hören - sie verpasste dem Rasen einen
ordentlichen Schnitt, damit diese bedummdusselten Roydmans in der
Stadt nichts zu tratschen haben würden.
Er setzte die Schreibmaschine ab, dann hob er sie
so an, dass er diese neue Überraschung herausfischen konnte. Er
betrachtete sie im hellen Licht der Nachmittagssonne, das durch das
Fenster hereinfiel. Sein ungläubiger Gesichtsausdruck wollte nicht
weichen.
Aus dem leicht mit Druckfarbe verschmierten Metall
am Kopf der Type ragte Folgendes heraus:
E
e
Damit es noch mehr Spaß machte, hatte die alte
Royal nun den häufigsten Buchstaben der englischen Sprache
ausgespuckt.
Paul sah auf den Kalender. Das Bild zeigte eine
blumenübersäte Wiese, und der Monat war der Mai, aber Paul hatte
sich auf einem Blatt Papier seinen eigenen Kalender angelegt, und
laut diesem war es der 21. Juni.
Roll out those lazy hazy crazy days of
summer - mögen diese trägen, diesigen, verrückten Sommertage
nie zu Ende gehen, dachte er säuerlich und warf die Type in die
ungefähre Richtung des Papierkorbs.
Nun, was mache ich jetzt?, dachte er, aber
er wusste natürlich, was als Nächstes kam. Handschrift. Das kam als
Nächstes.
Aber jetzt nicht. Wenngleich er noch vor wenigen
Sekunden lodernd gebrannt hatte wie ein Haus, das in Flammen steht,
und begierig darauf gewesen war, Ian, Geoffrey und den stets für
einen Lacher guten Hezekiah in den Hinterhalt der Bourkas zu
befördern, damit die ganze Gruppe für das mitreißende Finale hinter
das steinerne Antlitz der Göttin transportiert werden konnte, war
er plötzlich müde. Das Loch im Papier hatte sich mit einem
unerbittlichen Knall geschlossen.
Morgen. Er würde morgen mit der Hand
weiterschreiben.
Scheiß auf die Handschrift, Paul. Beschwere dich
bei der Geschäftsleitung.
Aber das würde er nicht tun. Annie war zu sonderbar
geworden.
Er lauschte dem monotonen Dröhnen des Rasenmähers,
sah ihren Schatten und erinnerte sich - wie so oft, wenn er daran
dachte, wie sonderbar Annie wurde - gleichzeitig an die Axt, die
hochgehoben wurde und dann herniedersauste; das Bild ihres
schrecklich gleichgültigen, tödlichen, mit seinem Blut
verschmierten Gesichts. Alles war deutlich.
Jedes Wort, das sie gesprochen hatte, jedes Wort, das er geschrien
hatte, das Knirschen der Axt, als sie aus dem durchtrennten Knochen
herausgezogen wurde, das Blut an der Wand. Alles kristallklar. Und
wie so oft versuchte er, diese Gedanken allesamt zu verdrängen,
aber wie meistens war er wieder einen Moment zu spät.
Da es bei der entscheidenden Wendung in der
Handlung von Schnelle Autos darum ging, dass Tony Bonasaro
einen verhängnisvollen Autounfall hatte, als er einen letzten
verzweifelten Versuch unternahm, der Polizei zu entkommen (und das
führte zum Epilog, der aus einem brutalen Verhör bestand, welches
der Partner des verstorbenen Lieutenant Gray in Tonys Krankenzimmer
durchführte), hatte Paul eine Reihe von Unfallopfern interviewt. Er
hatte immer wieder dasselbe gehört. Es kam manchmal in
unterschiedlicher Verpackung, aber letztlich lief es immer wieder
auf dasselbe hinaus: Ich erinnere mich daran, wie ich ins Auto
eingestiegen bin, und ich erinnere mich daran, wie ich hier
aufgewacht bin. Alles andere ist wie ausradiert.
Warum hatte ihm das nicht passieren können?
Weil Schriftsteller sich an alles
erinnern, Paul. Besonders an die Schmerzen. Ziehe einen
Schriftsteller bis auf die Haut aus, deute auf seine Narben, und
über die kleinen wird er dir die Geschichte erzählen. Die großen
bescheren ihm Romane, aber keinen Gedächtnisverlust. Ein wenig
Talent ist ganz schön, wenn man Schriftsteller werden will, aber
die einzig wirklich erforderliche Fähigkeit ist die, sich an die
Geschichte jeder einzelnen Narbe zu erinnern.
Kunst besteht aus der Beharrlichkeit der
Erinnerung.
Wer hatte das gesagt? Thomas Szasz? William
Faulkner? Cyndi Lauper?
Der letzte Name weckte einige Assoziationen, unter
den gegebenen Umständen unglückliche und schmerzvolle: die
Erinnerung an Cyndi Lauper, die sich durch »Girls Just Want to Have
Fun« kiekste, so deutlich, dass er sie beinahe hören konnte: Oh
daddy dear, you’re still number one / But girls, they wanna have
fu-un / Oh when the workin day is done / Girls just wanna have
fun. Plötzlich wünschte er sich einen Rock-and-Roll-Hit mehr,
als er sich jemals eine Zigarette gewünscht hatte. Es musste nicht
Cyndi Lauper sein. Jeder wäre ihm recht gewesen. Herrgott, sogar
Ted Nugent hätte ausgereicht.
Die Axt sauste hernieder.
Das Sirren der Axt.
Nicht daran denken, Paul.
Aber das war dumm. Er befahl sich, nicht daran zu
denken, und dabei wusste er die ganze Zeit, dass es da war, wie ein
Knochen im Hals. Wollte er ihn dort stecken lassen, oder wollte er
ein Mann sein und das beschissene Ding auskotzen?
Eine andere Erinnerung drängte sich ihm auf; es war
wie ein Oldies-Wunschkonzert für Paul Sheldon. Diese war von Oliver
Reed als der verrückte, aber aalglatte und betörende
Wissenschaftler in David Cronenbergs Film Die Brut. Reed
beschwor seine Patienten im Institut für Psychoplasmatik (ein Name,
den Paul Sheldon köstlich komisch fand), sie mögen »alles
durchgehen! Gehen Sie alles bis zum Ende durch!«.
Nun … manchmal war das vielleicht kein schlechter
Rat.
Ich bin einmal durchgegangen. Das
reicht.
Eine verdammte Scheiße war das. Wenn es genügte,
einmal alles durchzugehen, dann wäre er ein verdammter
Staubsaugervertreter geworden wie sein Vater.
Dann geh es durch, Paulie. Geh es ganz durch,
Paul. Fang mit Misery an.
Nein.
Doch.
Leck mich.
Paul lehnte sich zurück, legte die Hände vor die
Augen und fing an, es durchzugehen, ob es ihm gefiel oder
nicht.
Alles durchzugehen.