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Nach der Amputation seines Daumens folgte eine Zeit, während der Pauls größte Leistung, abgesehen von der Arbeit an seinem Roman, die war, seinen Kalender weiterzuführen. In dieser Hinsicht war er beinahe krankhaft geworden, manchmal verbrachte er mehr als fünf Minuten damit, benommen dazusitzen und rückwärts zu zählen, um sich zu vergewissern, dass er nicht irgendwie einen Tag vergessen hatte.
Ich werde so schlimm wie sie, dachte er einmal.
Sein Verstand entgegnete müde: Na und?
Nach dem Verlust seines Fußes war ihm die Arbeit am Buch vergleichsweise gut von der Hand gegangen - während der Zeit, die Annie so affektiert seine »Rekonvaleszenzzeit« nannte. Nein - vergleichsweise gut war falsche Bescheidenheit, wenn es jemals so etwas gegeben hatte. Für einen Mann, dem es einst unmöglich gewesen war, zu schreiben, wenn er keine Zigaretten mehr hatte oder wenn er Rücken- oder Kopfschmerzen hatte, die über ein bloßes dumpfes Unwohlsein hinausgingen, war es ihm erstaunlich gut von der Hand gegangen. Es wäre schön gewesen, sich in dem Wissen zu sonnen, wie heroisch er gewesen war, aber er vermutete, dass es ihm einzig und allein um die Realitätsflucht gegangen war, denn die Schmerzen waren wirklich grässlich gewesen. Als der Heilungsprozess schließlich begann, kam es ihm so vor, als wäre das »Phantomjucken« des Fußes, der gar nicht mehr da war, sogar schlimmer als die Schmerzen. Die Sohle des fehlenden Fußes plagte ihn am meisten. Immer wieder wachte er in der Nacht auf, um mit dem rechten großen Zeh die Luft zehn Zentimeter unterhalb jener Stelle zu kratzen, wo sein Körper auf dieser Seite nun endete.
Aber er hatte sich dennoch wieder an die Arbeit gemacht.
Erst nach der Daumenektomie und dem bizarren Geburtstagskuchen, der wie ein übrig gebliebenes Requisit aus Was geschah wirklich mit Baby Jane? erschien, füllte sich der Papierkorb wieder zunehmend mit zusammengeknüllten Seiten. Verlier einen Fuß, stirb fast, geh wieder an die Arbeit. Verlier einen Daumen und gerate dann in seltsame Schwierigkeiten. Sollte es nicht eigentlich umgekehrt sein?
Nun, da war das Fieber - er hatte eine Woche mit Fieber im Bett verbracht. Aber es war eine vergleichsweise nebensächliche Angelegenheit gewesen; die höchste Temperatur, die er gehabt hatte, war 38,2 gewesen, und das war nicht gerade der Stoff, aus dem packende Melodramen waren. Das Fieber war wahrscheinlich mehr durch seinen allgemein heruntergekommenen Zustand verursacht worden als von einer spezifischen Infektion, und ein pupsiges altes Fieber war kein Problem für Annie; neben ihren anderen Mitbringseln hatte Annie auch die Antibiotika Keflex und Ampicillin in ihrem Vorrat. Sie verabreichte ihm welches, und es ging ihm besser … so gut es einem eben unter diesen bizarren Umständen überhaupt gehen konnte. Aber etwas stimmte nicht. Ihm schien eine lebenswichtige Zutat abhandengekommen zu sein, und als Folge dessen war die Mischung deutlich weniger wirksam geworden. Er versuchte, die Schuld auf das fehlende N zu schieben, aber damit hatte er sich auch vorher herumärgern müssen, und was war schon ein fehlendes N verglichen mit einem fehlenden Fuß und jetzt, als weitere Attraktion, einem fehlenden Daumen?
Was für Gründe auch immer, etwas hatte den Traum gestört, etwas verkleinerte den Umkreis des Lochs im Papier, durch das er sah. Einst - er hätte Stein und Bein geschworen, dass es so war! - war dieses Loch so groß wie die Röhre des Lincoln-Tunnels gewesen. Jetzt hatte es bestenfalls noch die Größe eines Astlochs im Bretterzaun, durch das ein Passant auf dem Gehweg eine besonders interessante Baustelle betrachten konnte. Man musste sich anstrengen und winden, um überhaupt etwas zu sehen, und meistens spielten sich die wirklich interessanten Sachen außerhalb des Sichtfeldes ab … was nicht überraschte, wenn man bedachte, wie winzig dieses Sichtfeld war.
Praktisch gesehen, lag es auf der Hand, was nach der Daumenektomie und dem anschließenden Fieber geschehen war. Die Sprache des Buchs war wieder schwülstig und überladen geworden - es war noch keine Selbstparodie, noch nicht, aber es bewegte sich unablässig in diese Richtung, und er schien es nicht verhindern zu können. Ständig schlichen sich Fehler ein, so verstohlen wie Ratten, die in Kellerecken hausten: Über dreißig Seiten hinweg war aus dem Baron der Vicomte aus Miserys Suche geworden. Er musste das überall korrigieren.
Es spielt keine Rolle, Paul, sagte er sich oft in diesen letzten Tagen, bevor die Royal erst das T und dann das E ausspuckte, das verdammte Ding ist fast fertig. Das war es. Die Arbeit daran war eine Tortur, und wenn er es fertig hatte, bedeutete das das Ende seines Lebens. Dass Letzteres mittlerweile attraktiver zu sein schien als das Erstere, sagte wahrscheinlich schon alles über den sich ständig verschlechternden Zustand seines Körpers, seines Verstandes, seiner Seele. Das Buch freilich machte trotz alldem Fortschritte, scheinbar unabhängig davon. Die Fehler waren ärgerlich, aber nebensächlich. Er hatte mehr Probleme mit der Überzeugungskraft als jemals zuvor - das Spiel Kannst du? war zu einer konzentrierten Anstrengung geworden und machte keinen Spaß mehr. Dennoch machte das Buch Fortschritte, trotz der schrecklichen Dinge, die Annie ihm angetan hatte, und er konnte darüber jammern, wie etwas - vielleicht sein Schneid - zusammen mit dem Viertelliter Blut ausgelaufen war, den ihn der Verlust seines Daumens gekostet hatte, aber es war immer noch eine verdammt gute Geschichte, sein weitaus bester Misery-Roman bisher. Die Handlung war melodramatisch, aber gut konstruiert, auf ihre eigene bescheidene Weise recht amüsant. Wenn er jemals anderswo als in der streng limitierten Annie-Wilkes-Edition (Erste Auflage: 1 Exemplar) veröffentlicht werden sollte, dann würde er wahrscheinlich weggehen wie warme Semmeln. Ja, er ging davon aus, dass er ihn zu Ende bringen würde, wenn die gottverdammte Schreibmaschine durchhielt.
Ich dachte, du wärst so stark, dachte er einmal, nach einer seiner zwanghaften Trainingseinheiten im Schreibmaschine-Stemmen. Seine Arme zitterten, der Stumpf seines Daumens juckte fiebrig, seine Stirn war von einem feinen Schweißfilm überzogen. Du warst der zähe junge Revolvermann, der es dem lahmen alten Scheißdreck von einem Sheriff schon zeigen wollte, nicht wahr? Aber du hast bereits eine Type verloren, und ich sehe, dass einige der anderen, zum Beispiel das T, das E und vielleicht das G langsam merkwürdig aussehen … manchmal neigen sie sich in die eine Richtung, manchmal in die andere, manchmal stehen sie ein wenig zu hoch auf der Zeile, manchmal ein wenig zu tief. Ich glaube manchmal, der lahme alte Scheißdreck wird gewinnen, mein Freund. Ich glaube, der lahme alte Scheißdreck wird dich besiegen … und es könnte sein, dass das alte Miststück das gewusst hat. Das könnte der Grund sein, weshalb sie mir den linken Daumen genommen hat. Wie das alte Sprichwort sagt, sie ist vielleicht verrückt, aber sie ist nicht dumm.
Er sah die Schreibmaschine mit müder Eindringlichkeit an.
Mach schon. Komm und geh kaputt. Ich werde es dennoch zu Ende schreiben. Wenn sie mir einen Ersatz besorgen möchte, dann danke ich ihr von Herzen, aber wenn nicht, dann werde ich es auf einem verdammten Notizblock zu Ende schreiben.
Was ich auf keinen Fall tun werde, ist schreien.
Ich werde nicht schreien.
Ich.
Ich werde nicht.
Sie
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