***

 

 

 

»Marcie!« Ich packte sie am Kragen und zog kräftig daran. Sie stieß einen gurgelnden Laut aus, als ich sie grob abbremste. »Du sollst stehen bleiben.«

»Ich will aber zu Mama«, jammerte sie und riss sich von mir los. Sie blickte mich trotzig an, begann zu weinen. Ich seufzte.

»Was geht denn hier vor?«, erklang eine grollende Stimme. Der Grenzwächter mit der roten Armbinde, den der andere Farnwarth genannt hatte, schob sich zwischen den Leuten hindurch, die uns nun interessiert musterten.

»Ähm …«

»Ich will zu meiner Mama«, stieß Marcie trotzig hervor. Farnwarth musterte meine Schwester skeptisch, versuchte vermutlich ihr Alter mit ihren Worten in Einklang zu bringen.

»Wo ist denn deine Mutter?«

»Da drinnen.« Marcie deutete auf die Menschengruppe.

»Sie ist nur müde und hat Angst«, versuchte ich es vorsichtig.

»Und wer sind Sie?« Nun erforschte sein strenger Blick auch mich.

»Ihre Schwester.«

»Und wo sind eure Eltern?« Der Grenzwächter zückte ein Datenterminal, das an seinem Gürtel befestigt war. Mein Magen krampfte.

»Da drinnen«, sagte Marcie in weinerlichem Tonfall.

Die Miene des Mannes wurde weicher. »Na, na. Das kriegen wir schon hin, Mädchen. Sagt mir eure Namen, und wir schauen, was wir …«

»Grenzwächter Farnwarth?«

Ich fuhr herum, als ich Slows Stimme vernahm. Er und die anderen schlenderten lässig in unsere Richtung. Mein Herz setzte einen Schlag aus.

»Wer seid ihr denn jetzt? Ich dachte, der Sektor sei geräumt?«, stieß der Grenzwächter entnervt hervor und blickte sich um, als suchte er einen Schuldigen.

»Wir sind die Nachzügler«, sagte Slow und blieb direkt neben mir stehen.

»Was?« Farnwarth schüttelte den Kopf. »Ich weiß nichts von irgendwelchen Nachzüglern.«

»Einer der Grenzwächter hat uns mit der letzten Sektorenbahnen hierhergeschickt.« Slows Gesicht war ernst.

Hinter Farnwarth begannen die Leute sich wieder durch die Metalltür zu drängen. Anscheinend hatten sie das Interesse an uns verloren. Er tippte unruhig auf seinem Tablet herum, schnaubte schließlich. »So ein Schwachsinn, hier wurde keiner registriert in den letzten Minuten. Ihr müsst …«

»Liebe Bewohner, bitte begeben Sie sich nun alle in Kuppel 3. Die Tore schließen in fünf Minuten.«

Die Computerstimme hallte aus dem Durchgang zu uns herüber. Grenzwächter Farnwarth stöhnte. »Das ist ein verdammtes Chaos hier. Los, geht rein und lasst eure Chips später registrieren, sonst könnt ihr die Schiffe nicht betreten, verstanden?«

»Danke, Sir.«

»Ja, ja. Hinein mit euch.«

Als wir an ihm vorbeigingen und uns hinter den anderen Bewohnern einreihten, hätte ich vor Erleichterung beinahe laut ausgeatmet.

»Aua!« Erst jetzt bermerkte ich, dass ich Marcies Hand etwas zu fest gedrückt hatte.

»Du bleibst jetzt bei mir, verstanden? Es – wird – nicht – weggelaufen.«

Meine Schwester blickte mich aus großen, glasigen Augen an. Ihre Unterlippe zitterte verräterisch.

Ich seufzte. »Marcie, es tut mir leid, okay? Es ist einfach ganz wichtig, dass du bei mir bleibst. Ich will nicht, dass du dich hier verläufst. Verstehst du das? Du musst jetzt ein großes Mädchen sein.«

Einen Moment glaubte ich schon, dass meine kleine Ansprache rein gar nichts genützt hätte. Ihre Wangen röteten sich, sie schniefte und die erste Träne lief über ihr Gesicht. Doch dann schien sie sich zu fangen. Ihr Ausdruck wurde ernst. »Na gut.«

Ich lächelte erleichtert und ließ ihre Hand etwas lockerer.

»Was ist das hier?«, erklang Lydias Stimme leise, nah an meinem linken Ohr. Die Kuppel war größer, als sie von außen anmutete. Es war diejenige, die sich am nächsten an den Berg schmiegte. Die Halle, die sich uns nun offenbarte, bestand auf der linken Seite aus dem Kuppelgebilde und ging dann fließend in behauenes Felsgestein über. Und doch ließ sich die wahre Größe der Höhle nur grob abschätzen, da ein großer blickdichter Vorhang einen Teil verbarg. Die Leute hatten sich in dem Abschnitt versammelt, der von der Kuppel geschützt wurde. Überall befanden sich bewaffnete Grenzwächter, die sich aufmerksam umsahen. Ich spürte ihre Blicke auf mir haften und hoffte inständig, dass keiner allzu genau hinsah. Nach meiner Flucht aus Sektor 1 wäre sicherlich niemand gut auf mich zu sprechen. Auch hier waren diese mobilen Kühlaggregate aufgebaut, die kontinuierlich kalte Luft pumpten. Dennoch verspürte man einen deutlichen Temperaturanstieg, der sicherlich auch der Enge geschuldet war.

»Wir müssen uns rechts halten und dann irgendwie an den äußeren Rand gelangen«, murmelte Slow, der plötzlich neben mir auftauchte. Er deutete auf das Metallgerüst. Die Menschen schoben und drückten, wodurch wir langsam, aber stetig vorankamen. Marcies Hand fühlte sich feucht an. Die Vielzahl der Gerüche hier drinnen ergab einen anstrengenden Gefühlsbrei, der mir Kopfschmerzen bereitete; Angst, Sorge, Erleichterung, sogar Fröhlichkeit. Es war grotesk.

»Scheiße. Kay, siehst du das?« Slow deutete auf den kleinen Spalt zwischen Metall und Felsgestein, an dem die Kuppel auf die Höhle traf. Ich kniff die Augen zusammen. Tatsächlich sah ich ein rotes Blinken und direkt daneben zwei Grenzwächter.

»Da kommen wir nicht ran«, zischte ich. Uns trennten nur noch wenige Meter von den beiden bewaffneten Männern.

»Wir müssen es versuchen«, entgegnete Slow. Wir kamen etwa zwei Meter vor ihnen zum Stehen, drängten uns nah aneinander. Die Leute sahen alle in dieselbe Richtung. Eine leere Bühne, die direkt am vorderen Rand der Kuppel aufgebaut war. Als mir Sims Geruch in die Nase stieg, schlug mein Herz gegen meinen Willen schneller. Er stand direkt hinter mir, sodass ich seine Körperwärme spüren konnte. Mir wurde noch heißer und in der Magengegend setzte ein Kribbeln ein, für das ich mich einen Augenblick lang hasste. Es war verrückt, dass er noch immer derartige Gefühle in mir auslöste. Ich versuchte Abstand zwischen uns zu bringen, doch in dem Menschengewühl war dies kaum möglich. Also konnte ich nur Marcie enger an mich ziehen, die vor mir stand.

»Die Tore schließen jetzt. Bitte bewahren Sie Ruhe. Dies alles geschieht zu Ihrer Sicherheit.«

Ein dröhnender Alarm folgte auf die Computerstimme. Laut und sich immer wiederholend. Marcie presste sich die Hände fest auf die Ohren. Beruhigend streichelte ich ihre Oberarme und beobachtete, wie sich der Zugang, durch den wir vorhin getreten waren, langsam schloss. Ein Weiterer befand sind ein Stück weiter hinten. Metall knarrte und ein dumpfes Geräusch erklang, als die Tore einrasteten. Sofort erfüllten mich beklemmende Gefühle. Eine Hand legte sich auf meine Schulter. Sim. Es fühlte sich an, als würde mein Herz sich erst überschlagen und dann plötzlich stehen bleiben. Ich wagte es nicht, mich zu ihm umzudrehen.

»Alles wird gut«, flüsterte er und sorgte so dafür, dass sich die feinen Härchen in meinem Nacken aufrichteten. Ich presste die Lippen fest aufeinander, erstarrte.

»Liebe Bewohner. Vielen Dank für Ihr Erscheinen. Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit jetzt bitte auf die Bühne und begrüßen Sie eben die Menschen, denen Sie das alles hier zu verdanken haben.«

Die Menge verstummte. Jeder streckte sich, um etwas erkennen zu können. Weiß gekleidete Grenzwächter waren die Ersten, die die Bühne betraten. Im Gleichschritt stampften sie über die Plattform und blieben anschließend im hinteren Bereich stehen. Ihre Mimik war kühl und starr.

Dann kamen sie. Ihre Kleidung war vollständig golden, was sonderbare Lichtreflexe zurückwarf. Es waren Zweiteiler, die aus einer Hose und einem Hemd bestanden. Ich wusste nicht, wen oder was ich erwartet hatte, aber diejenigen, die ich sah, waren denkbar unspektakulär. Sie waren ungefähr im selben Alter, hatten die siebzig eindeutig überschritten. Es waren drei Männer und zwei Frauen, die sich nun vor der Menge aufbauten. Sie ernteten heftigen Applaus.

»Sind sie das? Die Führung?«, flüsterte Doc aufgeregt. Er stand links von mir.

»Es scheint fast so«, murmelte ich.

Einer von ihnen trat einen Schritt vor, lächelte und winkte der Menge zu. Als er Luft holte, um das Wort zu erheben, stieß Slow mich von der Seite an.

»Die Grenzwächter sind weg, lass uns nach der Bombe schauen«, wisperte er.

Centro 03 - Das Ende
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