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Der Lärm, der durch die Höhle schallte, verursachte mir Kopfschmerzen. Hinzu kamen drückende Hitze, Enge und die Vielzahl an Gerüchen. Die Menschen der Kristallstadt drängten sich durch die schmalen Gassen zwischen den Zelten. Kein Einziger schien sich noch in den Domizilen aufzuhalten. Ich roch Angst und Sorge in einer derartigen Intensität, dass sie sogar den Verwesungsgestank, der noch immer an mir haftete, übertrafen. Eine schwer beladene Frau schob sich an mir vorbei. Sie konnte den Stapel mit Kleidung, Gefäßen und Leinensäckchen kaum überblicken, war anscheinend hilflos dem Menschenstrom ausgeliefert, der sie weiter vorantrieb.
»Hey! Stehen bleiben!« Doc griff nach ihrem Arm und hinderte sie daran weiterzugehen. Sie blickte ihn aus schreckensgeweiteten Augen an. »Nicht mehr als eine Tasche! Eine!«
Die Frau reagierte nicht, sondern starrte bloß. Doc stöhnte entnervt. Er stieß zwischen zwei Fingern einen schrillen Pfiff aus, der mich zusammenfahren ließ. Einer seiner Männer begann sich durch die Menge zu kämpfen. Als er bei uns ankam, musste Doc gegen das umliegende Stimmengewirr anschreien. »Helfen Sie ihr bitte!«
Er nickte und wir schauten dabei zu, wie die verwirrte Frau aus dem Getümmel geführt wurde. »Das ist ein verdammtes Irrenhaus hier!« Doc schüttelte den Kopf und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. »Los, weiter!«
Wir kamen nur langsam voran, mussten uns durch die Menge hindurchdrängen. Bald schon war mir schwindelig von den extremen Gefühlen, die in der Luft lagen.
»Da ist es!« Wir erreichten das große Besprechungszelt, vor dem mehrere Wachen standen. Als wir sie passierten, ließ ich erleichtert die Menschenmassen hinter mir.
Müde Augen blickten mich an und wurden komplettiert durch den unverkennbaren Leichengeruch unserer Reise. »Hast du sie gefunden?!« Marcie war sogleich bei mir und schloss die Arme um mich. Auch wenn es wehtat, sie weiterhin anlügen zu müssen, war ihre Nähe wie Balsam für meine Seele.
»Nein, leider nicht. Aber wir finden unsere Eltern, okay?« Die Zuversicht im Gesicht meiner Schwester schwand. Ich wich ihrem vorwurfsvollen Blick aus und schaute zu Slow. Flor schmiegte sich in seine Arme. Sie hatte aufgehört zu weinen, aber ihre Finger krallten sich noch immer in die schmutzige Kleidung ihres großen Bruders. Auch wenn er sich bereits wieder fing, hatten die Tränen helle Spuren in seinem verschmutzten Gesicht zurückgelassen. Er lächelte mir zu, in seinem Ausdruck stand pure Erleichterung. Ich konnte ihn so gut verstehen.
Sim saß an dem ausladenden Besprechungstisch, vor ihm Brot, Wasser und eine große Schale mit Gemüseeintopf. Gierig schaufelte er die Lebensmittel in sich hinein. Wer konnte es ihm verdenken? Seinem optischen Zustand nach zu urteilen, musste es ewig her sein, dass er etwas zu sich genommen hatte. Lydia saß ihm gegenüber, ihr Gesicht war zu einer angewiderten Maske erstarrt, während sie dabei zusah, wie die Hälfte der Suppe über sein Kinn tropfte.
»Kay, es tut mir leid. Ich habe keine Ahnung, wo der Stamm sein könnte«, sagte Doc und erinnerte mich daran, warum ich dieses Zelt überhaupt verlassen hatte. In meiner Magengegend bildete sich wieder dieser schmerzhafte Knoten. »Aber sie können nicht weg sein, sicherlich sind sie irgendwo in der Menge verschollen. Heute Morgen bei der letzten Ankündigung habe ich sie noch gesehen.«
Ich schüttelte den Kopf. »Wir werden sie nicht finden, weil sie schon losgezogen sind.«
»Was?« Doc musterte mich ungläubig.
Lydia lachte wissend und erhob sich.
»Akina lässt sich nicht dafür benutzen, deinen Krieg zu führen, Doc. Das hat sie nie. Sie sind schon auf dem Weg ins Centro und wollen ihren eigenen Kampf.« Ich sagte diese Dinge, ohne zu wissen, ob sie der Wahrheit entsprachen, dennoch war ich mir sicher. Ob das Wissen meiner Intuition entsprang oder von unserer inneren Verbundenheit herrührte, wusste ich nicht.
»Das ist doch Schwachsinn. Wir haben alles geplant. Das Einfallen in die Kuppel verfolgt eine Strategie. Erst die Kämpfer und Kämpferinnen, dann die Männer und den Abschluss bilden die Frauen mit den Kindern, Kranken und Alten. Wir verfügen kaum über Waffen, deswegen ist die schiere Masse unsere einzige Möglichkeit, sie zu überwältigen. Wir …«
»Doc.« Ich hob beide Hände in unterbrechender Geste. Lächelte zögerlich. »Ich weiß, mir musst du das nicht sagen. Nicht noch mal.«
Er biss sich auf die Unterlippe und lief einige gehetzte Schritte im Zelt auf und ab. »Aber was ist, wenn sie das Centro warnen und unser ganzer Plan hinfällig wird?« Doc fuhr sich durch die Haare.
»Was hast du erwartet? Akina war von Anfang an immer nur ihr eigener Stamm wichtig. Was mit den anderen Leuten geschieht, ist dieser Person egal«, sagte Lydia. Sie stand mit vor der Brust verschränkten Armen da. Ich warf ihr einen durchdringenden Blick zu. Welche Entscheidung Akina auch immer getroffen hatte, ich kannte sie gut genug, um zu wissen, dass ihr Handeln stets einen plausiblen Grund hatte.
»Es ist ein Volk von Kriegern. Mach dir keine Sorgen, Akina wird nichts tun, was deine Mission gefährdet.«
Doc fixierte mich mit skeptischer Miene, schwieg jedoch. Er wirkte nicht bloß angespannt, sondern gehetzt, als würde die Last des gesamten Plans auf seinen Schultern ruhen.
Gerade als ich etwas Aufbauendes zu ihm sagen wollte, betrat Chester das Zelt. »Da draußen geht die Welt unter«, brachte er keuchend hervor, während ihm der Schweiß über die Stirn lief. Als er mich ansah, strahlte er. Chester war es gewesen, der unsere kleine Gruppe in den Tunneln aufgegriffen hatte. Ich lächelte, es tat gut ihn wiederzusehen.
»Läuft es denn wie geplant?«, fragte Doc.
Sofort nahm Chesters Gesicht wieder diesen angespannten Ausdruck an. »Langsam, aber wir kommen voran. Vorne am Aufstieg sortieren wir die Leute, soweit es geht. Ich habe veranlasst, dass einige Zelte abgebaut werden, um Platz zu schaffen. Sie können nicht die ganze Zeit stehen, bis wir endlich in Richtung Centro aufbrechen. Ich denke, das alles wird sich noch bis in die Nacht hinziehen. Nani und ihre Küchenfeen versorgen die Menschen mit Wasser und Nahrung. Es könnte schneller vorangehen, aber wahrscheinlich darf man nicht zu viel erwarten. Sie haben Angst.«
Doc nickte geistesabwesend. »Wie viele Kämpfer haben wir?«
»Ich habe alles mobilisiert, was möglich ist. Wir kommen auf etwa achtzig. Aber gut die Hälfte davon ist nur eingeschränkt ausgebildet.« Chester schaute Doc ernst an.
»Wie sieht es mit Waffen aus?«
»Ein paar Gewehre aus dem Centro, aber wir haben kaum Munition. Wir werden uns hauptsächlich mit Knüppeln und improvisierten Messern verteidigen müssen. Ich setze eher auf die Kampfkraft der vollständig ausgebildeten Bewohner.« Mit diesem Satz blickte Chester mich an. Es lag etwas Flehendes in seinen Augen. Ich schwieg.
»Das ist immerhin was.«
»Doc.« Chester hob beide Augenbrauen. »Gib uns noch eine Woche mehr und ich kann eine Mannschaft aufstellen, die wirklich bereit ist, und nicht bloß einen Haufen Leute, die meinen kämpfen zu können. Ich weiß, du willst die Menschen retten, aber vielleicht gibt es ja noch einen anderen Weg.«
»Chester, du leistest tolle Arbeit und ich bin froh, dass ich dich habe, aber du hast keine Ahnung, wovon du sprichst. Wir bekommen keine zweite Chance.«
»Aber ich könnte ein Team reinschicken, das die Flucht der oberen Sektoren verhindert. Sie sabotiert. Dann hätten wir mehr Möglichkeiten.«
Docs Lippen wurden schmal und er schüttelte den Kopf. »Zu riskant. Wir haben keine Zeit mehr.«
Chester seufzte und sah mich hilfesuchend an. »Kay, du kannst doch sicher …?«
»Nein! Kay wird dir jetzt nicht helfen!«, donnerte Docs Stimme durch den Raum. Chester schwieg und sah betroffen aus. Im Zelt war es vollkommen ruhig.
»Was hat das alles zu bedeuten? Etwas stimmt doch hier nicht. Ich führe niemanden da raus, wenn die Mission ohnehin zum Scheitern …«
»Es – ist – alles – in – Ordnung«, sagte Doc. Chester starrte ihn finster an, schnaubte und verließ hastig das Zelt.
»Vielleicht hat er recht. Wenn wir da reingehen und Zeit für die Leute gewinnen können, dann müssten wir nicht …«
»Jetzt fang du nicht auch noch an«, unterbrach er mich. »Wie wollt ihr das denn machen? Die Bomben entschärfen und die Flucht so weit sabotieren, dass wir Zeit gewinnen? Schwachsinn.«
Ich biss mir auf die Unterlippe und beobachtete Doc, wie er im Zelt auf und ab lief.
»Bomben?«, quietschte meine Schwester plötzlich. Offenkundige Angst schlug mir aus ihrer Richtung entgegen und überschattete den Leichengeruch ihrer Haut. Sie mochte geistig auf dem Stand eines kleinen Mädchens sein, aber das Wort Bombe verstand auch sie.
Ich warf Doc einen strengen Blick zu und legte den Arm um Marcie
»Es tut mir leid«, murmelte er und schob sich die Brille auf der Nase zurecht. »Wie sicher seid ihr euch da eigentlich?«
Doc blickte zu Slow hinüber, der Flor hochhob und sich neben Sim am Tisch niederließ.
»Nahezu hundertprozentig. Sascha weiß schon seit Wochen, dass sich das Centro auf die Evakuierung vorbereitet, und Jordan persönlich hat die Leute angeleitet, die … Dinger zu platzieren«, sagte Slow.
»Verdammt«, zischte Doc. »Könnt ihr irgendwie rausfinden, wo die … sind?«
»Ich habe letzte Woche einige Pläne gesehen. Nur flüchtig. Sascha hat nur einen kleinen Kreis eingeweiht. Anscheinend sind sie an den Metallstreben des Kuppelgerüsts befestigt. Es sind insgesamt acht Stück, zeitgesteuert. Aber wann genau sie hochgehen sollen, kann ich dir nicht sagen.«
Doc schnaubte. »Das ist ja alles sehr vage.«
»Aber es ist das, was wir haben«, erwiderte Slow und zuckte mit den Schultern.
»Es gefällt mir nicht.«
»Uns auch nicht«, sagte Sim. »Aber Fakt ist, wenn wir uns nicht darum kümmern, sind wir alle verloren. Dann sprengt Sascha unsere einzige Fluchtmöglichkeit in die Luft.«
»Meint ihr, sie wird da sein?«, fragte ich
Sim lachte bitter auf. »Sascha wird sich ihr eigenes Feuerwerk nicht entgehen lassen. Du kannst darauf wetten, dass sie dort sein wird. Allein schon, weil sie sich denken kann, dass wir auftauchen.«
»Vielleicht sollten wir erst einmal klarstellen, wer überhaupt ›wir‹ ist«, sagte Doc.
»Ich gehe auf jeden Fall mit dem ersten Schwung«, meinte Sim. »Es ist immerhin auch teilweise meine Schuld.«
»Schwachsinn. Deine Schwester ist diejenige, die dafür verantwortlich ist, und sonst niemand. Außerdem bist du geschwächt und musst dich dringend untersuchen lassen«, sagte ich schnell und warf ihm einen strengen Blick zu.
Etwas in Sims Mimik wurde weich. »Ich hätte sie aber aufhalten können. Meine Kraft reicht aus, um das hier endlich zu Ende zu bringen.«
»Ich auch«, sagte Lydia und verschränkte die Arme vor der Brust. »Versuch gar nicht erst, es mir auszureden.«
»Die Pläne habe nur ich gesehen, daher bin ich auf jeden Fall ganz vorne mit dabei«, schaltete sich nun auch Slow ein.
Ich schnaubte genervt. »Du kannst uns das Gesehene auch aufzeichnen. Flor braucht dich!« Ich konnte es nicht akzeptieren, dass meine Freunde ihr Leben so offensiv aufs Spiel setzten. Nicht jetzt, wo es fast vorbei war.
»Und was ist mit Marcie? Sie braucht dich jetzt mehr denn je. Aber ich nehme an, du willst trotzdem kämpfen?« Slow musterte mich abwartend.
»Meine Schwester benötigt ärztliche Hilfe, sie ist bei Doc besser aufgehoben als bei mir. Und der wird ja wohl mit den Frauen und Kindern den Schluss bilden. Ich möchte, dass Marcie mit ihnen geht.«
Doc blickte mich beleidigt an. »Nein, nein, nein, Kay. Dieses Mal nicht. Ich werde das Feld anführen.«
Ich blickte ihn fassungslos an. »Was?«
Er räusperte sich, seine Wangen bekamen ein tiefes Rot. »Du hast schon richtig gehört. Schließlich bin ich derjenige, der die Leute da rausschickt.«
»Aber du bist kein Kämpfer, und Marcie …«
»Meinst du, ich könnte sie durch meine bloße Anwesenheit heilen? Ich nehme kaum medizinische Ausrüstung mit. Auch dann nicht, wenn ich mit den Frauen und Kindern gehen würde. Deiner Schwester geht es gut, Kay. Sie hat große Erinnerungslücken, aber abgesehen davon, dass sie sehr mager ist, ist sie körperlich vollkommen in Ordnung. Die Bedrohung ist nicht akut, ich habe keinerlei aktive Minibot-Signale gemessen. Abgesehen davon stellt sich die Frage, ob es nicht vielleicht besser ist, dass sie sich an das letzte Jahr nicht erinnern kann. Wer weiß, was sie Furchtbares erlebt hat?«
»Doc hat recht. Das Einzige, was sie jetzt braucht, bist du«, ergänzte Slow leise.
»Dann kommt sie in der Vorhut mit.«
»Was?« Ich wusste nicht genau, wer alles gesprochen hatte, die Frage war auf jeden Fall mehrstimmig durch das Zelt geschallt.
»Ihr habt mich schon verstanden. Marcie bleibt bei mir. Ich habe sie so lange gesucht und endlich wieder zurück. Und auf keinen Fall werde ich darauf verzichten, diese verdammte Sache zu beenden. Dafür haben wir alle zu viel verloren, dafür habe ich zu viel verloren.«
Ich sah deutlich den Unwillen in Docs Gesicht, aber er schwieg. Keiner sagte etwas, vermutlich weil sie wussten, dass ich recht hatte. Jetzt war der Zeitpunkt, wo sich alles auflösen würde. Irgendwo tief in meinem Inneren war ich mir sicher, am Ende des Spiels angelangt zu sein. Jeder Schritt, den man jetzt tat, würde über Gewinnen oder Verlieren entscheiden.
»Nebenan steht eine Waschwanne bereit und frische Kleidung. Ihr solltet dieses stinkende Zeug schnellstmöglich loswerden«, sagte Doc und verließ das Zelt. Damit war es beschlossen.