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Ich rannte. Die Warnleuchten an den Decken blinkten rot und verbreiteten in den Tunneln eine beängstigende Atmosphäre. Kurz nach Auslösen des Alarms hatte eine Durchsage eingesetzt, die die Leute dazu aufforderte, Ruhe zu bewahren und ihre Parzellen nicht zu verlassen. Als die Schleuse in Sicht kam, suchten meine Augen die Wände nach dem Fluchtweg ab. Irgendwo hier musste doch …?
Wertvolle Sekunden verstrichen, bis ich den verborgenen Durchgang entdeckte. Die Platte, die ihn verschloss, war locker dagegengelehnt. Mein Atem ging rau und schnell, als ich sie beiseiteschob und hineinglitt. Ob sie mich schon entdeckt hatten? Allein der Gedanke trieb mir den Schweiß auf die Stirn. Der Alarm dröhnte durch meinen Schädel. Ich musste hier raus, und der einzige Weg, der mir einfiel, war der Schacht, durch den Joff geflüchtet war. Ich drückte die Platte auf, die das Ende des Schachtes markierte, und schlüpfte zurück in Sektor 1b. Gerade als ich mich aufrichtete, packte jemand fest meine Schulter. Ein anderer riss meinen linken Arm nach hinten und hielt ihn in einem Hebel gefangen. Ich keuchte vor Schmerz.
»Georgina!« Ich blickte auf und sah direkt in das Raubtiergrinsen von Professor Freyer. Er musterte mich von oben bis unten. »Wir haben Sie bereits erwartet.«
Professor Freyer lief vor mir auf und ab. Er schwieg und hatte dabei die Hände locker hinter dem Rücken ineinander verschlungen. Der Stuhl, auf dem ich saß, war leicht von dem großen Schreibtisch seines Büros zurückgeschoben worden, sodass er jetzt vollkommen frei im Raum stand. Meine Hände waren nicht gefesselt. Doch welche Rolle spielte das? Er wusste genauso gut wie ich, dass meine Chancen, aus »dem Auge« zu fliehen, gegen Null gingen.
»Wissen Sie, Georgina, ich habe ausgesprochen gute Instinkte. Ein Punkt, der ausschlaggebend für meine hohe Position innerhalb des Centro ist.« Er blieb stehen und sah mich direkt an. Ich fühlte mich wie ein in die Ecke getriebenes Beutetier. »Seit dem Moment, als ich über Ihre Ankunft in Sektor 1 informiert wurde, verfolgt mich ein stetiges Ziehen in der Magengegend. Wissen Sie?«
Professor Freyer schaute mich an, als müsste ich genau wissen, was er meint. Er rieb sich über den Bauch, wie um ein unangenehmes Gefühl zu vertreiben. Anschließend begann er schlendernd seinen Weg durch den kleinen Raum fortzusetzen.
»Als Sie dann vor mir standen und mich aus Ihren unschuldigen blauen Augen ansahen, wollte ich einfach glauben, dass ich mich täusche.« Er schnalzte mit der Zunge, schüttelte den Kopf. »Vergeblich. Manchmal bin ich von meinem eigenen Willen, das Gute im Menschen zu sehen, enttäuscht. Eine Schwäche, die ich leider nicht ablegen kann.«
Wäre die Situation nicht so beängstigend, hätte ich laut aufgelacht. Allein der Gedanke, dass dieser Mensch etwas Gutes tat oder dachte, war absurd. Als er in Gelächter ausbrach, fuhr ich zusammen.
Er stach mit dem Zeigefinger in die Luft. »Was glauben Sie, seit wann mir klar war, dass Sie eine Betrügerin sind?«
Ich schluckte trocken, fürchtete, keinen Ton herauszubekommen, selbst wenn ich eine Antwort wüsste. Meine Kehle war wie zugeschnürt. Professor Freyers Blick fraß sich in meinen. Das Grinsen wirkte wie eine Drohgebärde. Ja, er genoss dieses Spiel.
»Also ich meine natürlich nicht dieses Gefühl, sondern den Augenblick, wo ich mir absolut sicher war!«
Er rechnete anscheinend mit einer Antwort; weiter zu schweigen, war in diesem Augenblick nicht mehr möglich. Mein Magen krampfte, vor Panik wurde mir übel. »Als … der Alarm losging?«
»Papperlapapp!« Professor Freyer machte eine wegwerfende Geste. »Ich bin schockiert, wie sehr Sie mich unterschätzen.« Mit diesen Worten lief er um seinen Schreibtisch und tippte gegen den Flatscreen. »Schicken Sie das Mädchen rein.«
Ich drehte mich nicht um, als das Surren der Tür erklang.
»Juli! Es freut mich, dass Sie es einrichten konnten!«
Mein Herz pochte gegen meinen Brustkorb. Juli rang die Finger ineinander, als sie neben mich trat. Sie hatte den Blick starr auf den Boden gerichtet. Ich erkannte deutlich das Zittern, das durch Ihren Körper ging.
»Natürlich, Professor Freyer. Sie haben mich schließlich gerufen, und wenn Sie mich rufen, dann komme ich. Steht vollkommen außer Frage, dass alles Priorität hat, was mit Ihnen …«
»Na, na, Juli, holen Sie erst mal Luft. Über die Sache mit dem Plappern hatten wir doch schon gesprochen, nicht wahr?« Juli errötete. »Ich weiß, das fällt Ihnen schwer, aber versuchen Sie die Informationen, die sie weitergeben wollen, in so wenig Sätze wie möglich zu verpacken. Damit würden Sie Ihren Mitmenschen einen außerordentlich großen Dienst erweisen.«
Julis Hände krampften sich so fest ineinander, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. »Natürlich, Sir.«
»Braves Mädchen.« Professor Freyer wandte sich wieder an mich. »Nun, ist Ihnen jetzt klar, woher ich meine Sicherheit erlangte, was Ihren Fall betrifft? Da waren einfach zu viele Ungereimtheiten, die letztendlich sogar unserer leicht beschränkten Miss Juli aufgefallen sind.«
Mir fiel der gestrige Abend im Intranet ein. Die merkwürdigen Blicke, die Juli mir zugeworfen hatte. Natürlich hatte sie meine Wissenslücken bemerkt, doch aus irgendeinem Grund hatte ich nicht damit gerechnet, dass sie mich verraten würde. Ich versuchte von der Seite ihren Blick zu erhaschen, doch sie wich mir aus.
»Natürlich waren das jeweils für sich genommen nur Indizien, doch wenn man das Gesamtbild betrachtete, wurde auf einmal alles logisch. Sie sind übergelaufen.« Er grinste siegessicher. »Wann hatten Sie gedacht, würde es rauskommen?« Er überbrückte den Abstand zwischen uns und stützte sich mit beiden Händen auf den Lehnen meines Stuhls ab. Warmer Atem blies mir ins Gesicht.
»Was … meinen Sie?«, brachte ich mühsam hervor. Jeder Versuch, stark zu klingen, scheiterte an meiner zitternden Stimme.
Professor Freyer lachte freudlos. »Stellen Sie sich nicht dumm, Georgina! Sie haben schließlich mehr im Kopf als unser zwitscherndes Mädchen hier!«
»Keine Ahnung, wovon Sie sprech…«
Seine Hände gruben sich fest in meinen Hals, ich kippte nach hintenüber. Der Stuhl wurde beiseitegestoßen, als Freyer und ich gemeinsam am Boden landeten. Ich japste nach Luft. Sein Gesicht war rot angelaufen. Das höhnische Grinsen war blankem Hass gewichen.
»Ich habe genug, Georgina!«
Er umfasste meinen Hals noch immer, ließ aber leicht locker, sodass ich meinen Kopf anheben konnte. Anschließend donnerte er ihn fest auf den harten Boden. Sterne tanzten vor meinen Augen. In Panik gruben sich meine Hände in sein Hemd, verkrallten sich darin, wollten ihn wegschubsen, doch er fixierte mich mit seinem ganzen Körpergewicht.
»Keiner wird Sie vermissen!«
Die Stimme klang verzerrt.
»Betrügerin!«
Wieder donnerte mein Hinterkopf auf den Boden. Seine Finger drückten mir dabei die Luftröhre ab. Allmählich verließ mich meine Kraft.
»Verräterin!«
Wieder kollidierte ich mit dem Untergrund. Schwärze drohte mich mit sich zu reißen. Da war keine Luft mehr in meiner Lunge. Der Druck seiner Hände machte das Atmen unmöglich. Der pure Wahnsinn starrte mir aus Freyers Augen entgegen. Seine Beherrschtheit war wie weggewischt. Und gerade als ich spürte, wie ich den Kampf um mein Leben zu verlieren drohte, verdrehte mein Peiniger die Augen, japste und sackte schwerfällig zur Seite. Jemand stieß einen schrillen Laut aus, als er dumpf auf dem Boden neben mir aufkam. Ich richtete mich auf, legte beide Hände auf meinen lädierten Hals. Bevor ich richtig begriff, was hier geschehen war, zerrte jemand an meinem Arm. Mir wurde schwindelig, mein Hals schmerzte.
»Du musst aufstehen!« Julis Stimme war schrill, ihre Augen weit aufgerissen. Panik stand in ihren Gesichtszügen. Stolpernd kam ich auf die Beine und stützte mich auf den Knien ab. Erneut keimte Schwindel in meinem Inneren auf.
Juli zerrte an meinem Arm. »Wir haben keine Zeit!«
Ich blickte sie verwirrt an.
Die zierliche Person tänzelte aufgeregt vor mir auf und ab. »Komm!«
Irritiert beobachtete ich, wie sie sich an der linken Wand zu schaffen machte. Sie hielt ein kleines Gerät in der Hand, das sie dagegenlegte. Schließlich erklang ein Zischen und eine Platte öffnete sich. Juli stieß einen zufriedenen Laut aus, ließ das Gerät los. Es haftete weiterhin an der Wand neben der Öffnung.
»Was machst du da?«, fragte ich mit rauer Stimme. Mein Hals schmerzte.
»Ich helfe dir!«, stieß sie hervor, hockte sich auf den Boden und blickte in den dunklen Gang, der sich offenbarte.
»Aber wieso …?«
»Du musst da rein!«, sagte sie schnell und deutete in den Schacht. Ich schüttelte den Kopf und ging neben ihr in die Hocke. In dem Tunnel verliefen Rohre und Kabel. Es war gerade genug Platz, um in gedrungener Haltung voranzukommen.
»Sie warten da auf dich!«
»Wer?« Ich verstand noch immer nicht.
»Die Leute, zu denen du gehörst. Sie haben mich um Hilfe gebeten, und ich … hör mal, Georgina – oder wie auch immer du heißt –, es tut mir leid, dass ich dich verraten habe. Ich wollte das nicht, aber es ging nicht anders. Sonst wären wir nicht hier gelandet und ich könnte dir jetzt auch nicht helfen. Das hier ist einer der letzten sicheren Fluchtwege.« Ihre Stimme klang weinerlich. »Ich habe nicht viele Freunde, genau genommen bist du die Erste, und …«
Ich zog sie an mich und umarmte sie. Leises Schluchzen erklang an meiner Schulter. »Mach dir keine Sorgen, ich verzeihe dir!«, sagte ich und meinte es auch so. Als ich mich von ihr löste, wischte sie sich fahrig durchs Gesicht.
»Du musst dem Gang folgen, sie erwarten dich dort. Das hat zumindest der Mann gesagt, der mich gestern im Intranet getroffen hat. Ich sorge hier dafür, dass dir keiner folgt.«
»Was? Schwachsinn, Juli! Du kommst mit!«
Sie schluchzte. »Nein, das geht doch nicht, ich …«
»Natürlich geht das! Du kommst mit!« Ich griff nach ihrem Arm, den sie mir sanft entzog.
»Jemand muss den Schachtöffner von der Wand lösen und den Code ändern, damit sie dir nicht folgen können. Es ist okay.«
»Wir können nicht …«
In diesem Moment öffnete sich die Tür und zwei bewaffnete Grenzwächter stürmten in den Raum. Juli drückte mich in Richtung des Schachtes.
»Stehen bleiben!«
Ich drängte mich in das Innere. Krabbelte so weit hinein, dass genug Platz entstand, damit Juli mir folgen konnte. Gerade als ich mich umdrehte, sah ich noch, wie die Platte vor die Öffnung geschoben wurde. Absolute Dunkelheit umgab mich.
»Juli?«, wisperte ich, obwohl ich längst wusste, dass sie mir nicht gefolgt war. Dann erklangen Schüsse und ein spitzer Aufschrei, der etwas Endgültiges in sich hatte.
»Juli!« Ich robbte zurück, bis ich gegen die Wand stieß, und hämmerte dagegen. Es geschah nichts. »Nein, nein, nein, nein«, murmelte ich wieder und wieder, tastete im Dunkeln nach einem Spalt. Es musste doch irgendeinen Weg zurück geben. Ich musste Juli helfen. Mein Atem ging keuchend, raue Schluchzer kamen über meine Lippen.