***

 

 

 

Marcie schluchzte hinter mir. Sie ließ sich einfach nicht beruhigen. Ich umfasste ihre Hand noch fester, zog sie unerbittlich hinter mir her. Doch wer konnte ihr das verdenken?

Der abartige Geruch haftete an meiner Kleidung, meiner Haut und in den Haaren. Angespannt kaute ich auf den Minzblättchen, doch bei meiner Gabe hatte ich das Gefühl, dass die Wirkung gleich null war. Was ich gefühlt und gerochen hatte, würde mich noch Wochen bis in meine Albträume verfolgen. Der Gestank hatte sich so tief in meine Schleimhäute gefressen, dass ich einen Augenblick fürchtete, ihn niemals wieder abstreifen zu können. Außerdem stieg mit jedem Meter, den wir zurücklegten, die Temperatur weiter an. Die schwüle Hitze, gepaart mit dem abartigen Gestank, stellte meinen Kreislauf auf eine harte Probe. Hinzu kam die Sorge um Marcie. Bereits zum dritten Mal hatte sie sich übergeben, wobei sie zuletzt nur noch ereignislos gewürgt hatte. Sie hatte auch den letzten Rest Wasser von sich gegeben und wurde zusehends schwächer.

»Ich glaube, es funktioniert«, stieß Slow leise hervor. Wir rannten nicht, weil Marcie schon seit einiger Zeit kaum noch Kraft hatte. Der nicht abreißende Tränenfluss tat zu ihrer schlechten körperlichen Verfassung sein Übriges.

»Das will ich auch hoffen, es ist echt abartig«, zischte Lydia, die sich immer wieder gehetzt umsah. Slow dämmte den Lichtstrahl der Taschenlampe mit seinem Leinenshirt.

»Ich kann mich ja selbst kaum riechen, wie sollten die Viecher das dann tun?«, murmelte ich.

Seit wir den furchtbaren Leichentunnel verlassen hatten, bewegten wir uns durch das Schlinger-Territorium. Slow hatte uns erklärt, dass einzig der üble Gestank die Wesen davon abhielt, die Holzbarrikade zur Felsenstadt zu durchbrechen. Der Gedanke war, dass wir nun eine ähnliche Wirkung auf sie hatten.

»Jetzt seid still.« Wieder verharrten wir an einer Weggabelung. Slow lauschte. Seitdem der Krieg in vollem Gange war, hatten sich die Biester tiefer in die Tunnel zurückgezogen. Genau an den Ort, wo wir uns nun aufhielten. Ich spürte deutlich ihre Anwesenheit, die kühle Nähe, meinte sogar, das Kratzen von Klauen auf Fels wahrzunehmen. Sie belauerten uns, dessen war ich mir sicher. Doch worauf warteten sie?

»Wir gehen links«, flüsterte Slow.

Langsam befiel mich das Gefühl, dass er keine Ahnung hatte, welcher Weg der richtige war. Seine Anweisungen kamen immer zögerlicher und wir gingen viel langsamer als noch am Anfang. Ich bezweifelte, dass dies aus Rücksichtnahme auf Marcie geschah.

»Dauert es noch lange?«, schluchzte meine Schwester leise.

»Nein, wir haben es bald geschafft.« Ich hatte diese Worte seit unserem Aufbruch so oft ausgesprochen, dass sie schon automatisch über meine Lippen kamen. Noch ließ sie sich dadurch beruhigen. Besorgt musterte ich meine kleine Schwester von der Seite. Durch das Weinen hatte sie wenigstens wieder etwas Gesichtsfarbe bekommen.

»Ich bin sicher, wir sind bald da«, raunte Sim. Er lief direkt neben mir. Bisher hatte ich diese Tatsache gekonnt ignoriert.

»Ja, bestimmt«, gab ich wenig überzeugt zurück und mied es dabei, ihn anzusehen.

»Kay, was damals geschehen ist. Ich …«

»Glaubst du tatsächlich, dass jetzt der richtige Moment dafür ist?«, flüsterte ich gereizt.

»Ich warte seit einer halben Ewigkeit darauf, alles zu erklären. Als du gesagt hast, dass du mich … liebst, hast du einen Schalter in meinem Inneren umgelegt.«

Schmerz ließ meinen Brustkorb krampfen. Allein bei der Erinnerung daran schoss mir Hitze in die Wangen. »Welche Rolle spielt das noch, Sim?«

»Wahrscheinlich keine.« Der verletzte Unterton war kaum zu überhören. »Aber ich wollte wenigstens richtigstellen, was da geschehen ist. Damals in der Grube, das war ich. In den Höhlen und bei Sascha haben die Minibots aus mir gesprochen.«

Ich biss mir auf die Unterlippe. »Und was ist jetzt mit den Dingern?«

»Keine Ahnung. Sascha meint, sie hätten eine Fehlfunktion.«

Ich blickte ihn offen an. »Wieso sollte ich dir das glauben, Sim? Ich kann dir nicht mehr vertrauen, nach allem, was geschehen ist. Es ist … zu viel passiert.«

Sims Stirn legte sich in Falten, er nickte. »Das verstehe ich. Ich habe auch keine Erwartungen an dich, sondern bin bloß froh, dass ich dir das noch persönlich erklären konnte.«

Wir liefen eine Weile schweigend nebeneinander her. Ich vergaß für den Moment sogar die Schlinger um uns herum.

»Wusstest du, was Sascha vorhatte? Damals sagte sie, ihr hättet den Plan, mich einzutauschen, gemeinsam gefasst«, fragte ich leise.

Sim schüttelte den Kopf. »Nein. Meine Erinnerung reißt an dem Punkt in den Tunneln ab, wo du zu mir sagtest …«

»Ich verstehe schon«, erwiderte ich schnell und unterbrach ihn damit. »Woher weißt du dann, was danach geschehen ist?«

Als Sim auflachte, klang es schmerzerfüllt. »Sascha hat es genossen, mir jedes Detail zu berichten.«

»Könnt ihr beiden jetzt mal eure Klappe halten?«, knurrte Slow. Er fixierte uns wütend über die Schulter hinweg. Ich presste die Lippen aufeinander und versuchte das, was Sim gesagt hatte, zu verarbeiten. Einerseits erleichterten mich seine Worte, andererseits schienen sie nichts zu verändern. Die Verletzung war zu alt, saß zu tief, um sie durch ein paar Worte wieder wettzumachen.

Meine Kiefermuskulatur krampfte, so angespannt kaute ich auf den kläglichen Resten der Minzblätter herum. Der Gestank wallte erneut auf und schürte meine Übelkeit.

Seit ich Sim bei Sascha zurückgelassen hatte, verbot ich mir jeden Gedanken an ihn. Jetzt erneut mit dieser Sache konfrontiert zu werden, überforderte mich in jeglicher Hinsicht. Ihm zu verzeihen, war mindestens genauso absurd, wie sauer auf ihn zu sein. Wie konnte ich ihm die Schuld an etwas geben, worauf er selbst keinen Einfluss gehabt hatte? Dennoch blieb da ein leises, zweifelndes Stimmchen tief in meinem Inneren, das mich, ungeachtet der neuen Informationen, an Sim zweifeln ließ.

»Wartet!« Slow hielt uns zurück. Dann vernahm ich es. Irgendwo in der Dunkelheit vor uns bewegte sich etwas. Ich versuchte meine Nachtsicht zu bemühen, doch das Licht in dieser Entfernung reichte nicht. Slow schaltete seine Taschenlampe aus, und wir waren in absolute Dunkelheit gehüllt. Bevor Marcie etwas sagen konnte, zog ich sie an mich und legte schützend den Arm um sie. Dieses Mal war das Schaben deutlich vernehmbar. Zehn Meter entfernt? Fünfzehn? Ich spürte das Zittern, das durch Marcies Körper ging. Ja, auch sie fühlte es. Diese Viecher hatten eine Aura, die durch Mark und Bein ging.

»Wenn ich los sage, rennen wir«, flüsterte Slow.

Erneut erklang das Schaben. Schwere Schritte folgten, die sich langsam in unsere Richtung bewegten. Meine Muskeln spannten sich. Statt Angst erwachte in meinem Inneren der Wille zu kämpfen. Wenn es darauf ankäme, würde ich meine Schwester verteidigen. Ich hatte schon einmal gegen diese Biester gekämpft, und nichts hielt mich davon ab, es wieder zu tun. Sand knirschte, anschließend wurde es still. Niemand rührte sich. Dann erklangen schnüffelnde Laute, die in meinem Kopf ein deutliches Bild von witternden Nüstern formten. Ich verspürte keinerlei Angst, vielmehr eine ungeduldige Anspannung. Im selben Moment leuchtete das Licht der Taschenlampe auf.

Etwa fünf Meter vor uns stand ein Biest mit gefährlichen, unterarmlangen Krallen. Dieses Exemplar glich denen, die ich bereits kannte; haarlose, durchscheinende Haut, schwarze, faustgroße Augen und diese unnatürlich dünnen Glieder. Marcie schluchzte angstvoll, was das Viech dazu veranlasste, ein schrilles Kreischen auszustoßen. Keiner von uns wagte es, sich zu bewegen.

Ein Schrei erfüllte den Tunnel, tief und laut. Slow breitete die Arme aus und tat einen Satz in Richtung Monster. Ich brauchte einen Moment, bis ich verstand, dass der Aufschrei von ihm herrührte. Staub wirbelte auf. Zu meinem Erstaunen stieß der Schlinger einen keuchenden Laut aus, musterte Slow und verschwand dann fluchtartig aus dem Lichtkegel.

Ich blickte ihn perplex an. »Was war denn das?«

Wir lauschten. In dem Gang vor uns herrschte Stille.

Slow fuhr sich durchs Haar. »Ein verdammter Versuch.«

»Du wusstest nicht, dass das funktioniert?«, fragte Sim amüsiert.

»Nein. Aber hat doch geklappt.«

Meiner Kehle entrang sich ein leises Lachen. Sim blickte mich an, erst irritiert, dann grinsend, schließlich brach auch er in gedämpftes Gelächter aus. Lydia presste sich die Hand auf den Mund und steckte nun auch Slow an. Marcie beobachtete uns voll Unverständnis. Wir lachten und keiner konnte aufhören. Immer wieder, wenn der schreiende Slow vor meinem inneren Auge auftauchte, musste ich von Neuem kichern. Als ich Sim dabei ansah, begann sich gegen meinen Willen etwas tief in meinem Inneren zu rühren. Mit ihm gemeinsam zu lachen tat mir viel zu gut. Ich riss mich von seinem Anblick los, drängte die aufwallenden Gefühle zurück und verfluchte meinen Körper für diese Reaktion. Während ich mir Tränen aus den Augen wischte, blickte ich zu Slow. Er hatte den Strahl der Taschenlampe auf eine der Wände gerichtet und begann sie zu untersuchen.

»Slow? Was ist?«

Als er mich ansah, grinste er breit. »Wir sind richtig. Noch etwa eine Wegstunde in diese Richtung, und wir sind in der Kristallstadt.«

Jetzt sah ich es auch. Jemand hatte etwas auf das schwarze Felsgestein gepinselt. Ein weißer Kreis mit einem Pfeil darunter, eine Eins und der Buchstabe »h«.

»Sicherheit, in dieser Richtung, etwa eine Stunde Fußmarsch«, erklärte Slow die Zeichen. »Die Felsenstädter sind alle Tunnel abgegangen und haben versucht, Fluchtwege einzuzeichnen, falls sich jemand hier unten verläuft.«

Hoffnung keimte in mir auf. Ich drückte Marcies Hand und schenkte ihr ein Lächeln.

Sie strahlte mich kindlich an. »Dann sind wir bald bei Mama und Papa?«

»Ja, Marcie. Jetzt haben wir es fast geschafft.«

Centro 03 - Das Ende
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