***

 

 

 

Es dauerte eine Weile, bis ich den Speisesaal fand. In Sektor 1b befanden sich hauptsächlich die Parzellen der Bewohner, was ein verwirrendes Labyrinth an Gängen ergab. Wie die Pflanzen im Dschungel wuchsen hier Tische und kleine Hocker aus dem glänzend weißen Boden. Jede Tafel bot für sechs Personen Platz. Insgesamt konnten sicherlich Hunderte Menschen hier ihre Mahlzeiten einnehmen. Dennoch war der Raum nur zur Hälfte gefüllt. Auf der linken Seite befanden sich die Ausgabeautomaten. Zufrieden registrierte ich, dass sie so ähnlich aussahen, wie Joff sie mir aufgezeichnet hatte: ein Loch in der Wand, in dessen Inneren sich der Handgelenkscanner für den unter der Haut liegenden Chip befand. Außerdem ein Bildschirm und darunter ein Fach, das sich in regelmäßigen Abständen öffnete, damit man sein Essen entnehmen konnte. Denkbar einfach, und dennoch zweckdienlich. Insgesamt waren zehn dieser Automaten in die Wand eingelassen, doch nur vor vier standen einige weiß gekleidete Menschen an. Verunsichert reihte ich mich in die Schlange ein. Ich spürte deutlich, wie die anderen mein Gesicht anstarrten. Natürlich. Die Verletzungen vom Training mit Chester zierten noch immer meine karamellfarbene Haut, das linke Auge war teilweise zugeschwollen. Ich musste ein übles Bild abgeben. Als eines der Mädchen aus der Nachbarschlange, sie mochte etwa in meinem Alter sein, mich ungläubig ansah, versuchte ich mich an einem Lächeln. Hastig schaute sie weg. Ich seufzte und rutschte in der Reihe auf. Es befanden sich noch zwei Personen vor mir. Abwesend sah ich mich um, versuchte die starrenden Blicke, so gut es ging, zu ignorieren.

Erst registrierte ich es nur nebensächlich, beinahe wie ein Déjà-vu. Ich beobachtete eine Gruppe im hinteren Teil des Speisesaals. Es waren Männer und Frauen unterschiedlichen Alters, die zwei nebeneinanderliegende Tische besetzten und sich lautstark unterhielten. Ich erkannte dieselben goldenen Knöpfe an ihrer Kleidung, wie ich sie schon bei Professor Freyer gesehen hatte. Sie hoben sich vom Einheitsweiß der restlichen Bewohner ab. Dann war da noch etwas anderes. Wie ein Eindruck oder auch ein flüchtiges Bewusstsein, etwas Vertrautes gesehen zu haben. Unruhig betrachtete ich die Gruppe. Ich starrte den jungen Mann an, schnappte nach Luft. Braune Augen, die verwuschelte Kurzhaarfrisur, eine breite Statur und das nur allzu bekannte Gesicht. Das konnte nicht sein.

»Hey! Du! Es geht weiter!«

Ich fuhr heftig zusammen. Ein Mann mit bereits ergrautem Haar blickte mich ungeduldig an. Ich stolperte rückwärts in Richtung des Ausgabeautomaten. Meine Augen suchten wieder die Gruppe mit den goldenen Knöpfen. Ein Teil von ihnen befand bereits auf dem Weg zum Ausgang. Wo war …? Ich entdeckte ihn nicht.

»Langsam reicht es mir. Möglicherweise sollte ich jemanden von der Krankenstation rufen, diese junge Frau ist schwer verwirrt«, sagte der Mann hinter mir laut und hörbar verärgert. Die Gruppe verließ den Speisesaal, ohne dass ich ihn noch einmal erblickte. Vielleicht irrte ich mich. Nein, ich musste mich getäuscht haben, es konnte schließlich nicht sein, dass …

»Entschuldigung«, murmelte ich in Richtung des Mannes und drehte mich hastig zum Automaten um. Meine Gesichtshaut glühte. Vermutlich hatte ich von Chester ein paar Schläge zu viel auf den Kopf bekommen. Ich trat an den Bildschirm.

»Guten Tag, bitte legen Sie Ihr Handgelenk in die Scanneröffnung, damit wir Ihren Chip registrieren können.«

Ich spürte Panik in mir aufsteigen. Noch hatte ich keinen Chip, was das Einscannen unmöglich machte. Warum hatte ich mein Frühstück nicht in der Parzelle zu mir genommen? Ich versuchte ruhig zu bleiben, fühlte deutlich die Blicke des ungeduldigen Mannes in meinem Nacken.

»Jetzt scan schon ein, du …«, grollte er, als ich nur ratlos auf den Bildschirm starrte. Nach einer gefühlten Ewigkeit entdeckte ich das kleine Fragezeichen in der linken unteren Ecke des Screens. Ich berührte es und verschiedene Optionen öffneten sich:

Automat defekt

Falsche Ausgabe

Sondergenehmigung

Ich atmete erleichtert aus und tippte den letzten Punkt an. Es erschien eine Tabelle auf dem Bildschirm, die nach dem Alphabet sortiert war und Namen enthielt. Eilig scrollte ich mich durch die Liste und suchte einen Augenblick nach Kay Moreno. Bis ich begriff, dass ich diesen nicht finden würde. Georgina McCarthy hingegen schon. Schnell tippte ich den Namen an.

»Vielen Dank, Georgina McCarthy. Ihre Mahlzeit wird sofort ausgegeben. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt in Sektor 1b«, sagte der Automat freundlich. Die Klappe öffnete sich und ich nahm ein rotes Tablett entgegen. Erst jetzt fiel mir auf, dass diese bei den Leuten im Speisesaal unterschiedliche Farben hatten. Die meisten waren orange, viele weiß. Meines schien beinahe das Einzige in diesem grellen Rot zu sein. Darauf standen lediglich ein Becher mit einer orangefarbenen Flüssigkeit und ein Teller mit einem braunen, flachen Rechteck. Der Mann hinter mir hatte die Arme vor der Brust verschränkt und warf mir einen bissigen Blick zu, als ich an ihm vorbeieilte. Ich suchte mir einen Platz im hinteren Bereich der Halle. Skeptisch roch ich an der orangefarbenen Flüssigkeit. Ein süßlicher Geruch, der eine unverkennbar chemische Note enthielt. Ich rümpfte die Nase, bewegte die Substanz vorsichtig. Sie war so dickflüssig, dass sie erst am Rand klebte und dann zäh daran herunterfloss. Es kostete mich alle Überwindung, den Becher anzusetzen und das Getränk meine Kehle hinunterlaufen zu lassen. Doch wie schon beim Duschen hatte ich auch hier keine Wahl. Jede Nahrungsaufnahme wurde genau kontrolliert. Man erwartete von mir, dass ich alles, was mir zur Verfügung gestellt wurde, zu mir nahm. Der Geschmack klebte an meinem Gaumen. Ich schluckte mehrmals, presste die Lippen aufeinander, um ein Würgen zurückzuhalten. Abartig. Tränen stiegen mir in die Augen. Ich blinzelte sie eilig weg. Ein Schütteln ging durch meinen Körper.

»Ziemlich widerlich, was?«

Erschrocken blickte ich die junge Frau an. Sie war dunkelblond, hatte blaue Augen und zwinkerte mir freundlich zu. Außerdem fiel mir ihre sehr zierliche Figur auf und die ungewöhnlich spitze Nase. Ich hatte nicht bemerkt, dass sie mir gegenüber Platz genommen hatte.

»Mein Name ist Juli. Ich wollte nicht stören, aber ich hab dich gesehen und da dachte ich: ›Hey, sie sieht einsam aus‹. Da hab ich mich hierhingesetzt. Wenn dich das stört, musst du das einfach sagen, dann geh ich wieder. Die meisten wollen morgens gern allein sitzen, ich rede lieber und habe Gesellschaft, man ist schließlich tagsüber oft genug isoliert«, sagte sie, ohne Luft zu holen, in einem Tempo, bei dem mir schwindelig wurde. Ich konnte nur nicken, als sie schon wieder zu sprechen begann: »Du hast ein rotes Tablett, du wirst sicher operiert. Ich hoffe, es ist nichts Schlimmes. Wenn, tut mir das sehr leid. Denn ich mein, wer wird schon gerne aufgeschnitten? Ich auf jeden Fall nicht. Aber es geht bestimmt ganz schnell und du wirst gar nichts merken.« Das Mädchen prostete mir mit einem Becher zu, der auch jene orangefarbene Flüssigkeit enthielt, und leerte ihn in einem Zug. Sie schüttelte sich.

»Ich werde mich niemals an diese verdammte Nährflüssigkeit gewöhnen. Die schmeckt echt widerwärtig. Aber ich weiß ja, sie hat den Zweck, dass wir gesund bleiben, und das ist unerlässlich. Also es ist nicht nur für uns wichtig, sondern auch für die Führung, sie wollen ja schließlich nur das Beste. Das glaube ich auf jeden Fall. Denn mir geht es irgendwie gut, ergo kann es ja auch nicht so schlecht hier sein. Aber nicht, dass ich das jemals in Frage gestellt hätte. Ich bin gerne hier.« Sie griff nach dem rechteckigen braunen Ding, das ich noch immer nicht einschätzen konnte, und biss davon ab. Fasziniert starrte ich sie an. Ich hatte noch nie jemanden kennengelernt, der innerhalb so kurzer Zeit so viele Worte von sich gab. Kauend blickte sie mich an. »Und?«

»Was?«, fragte ich und klang leicht heiser.

»Wie heißt du? Oder hast du das schon gesagt? Ich meine, du hättest es noch nicht gesagt, aber ich bin morgens auch immer etwas verwirrt, weil …«

»Georgina«, sagte ich und unterbrach ihr Geplapper. Dann griff ich ebenfalls nach dem seltsamen Lebensmittel und biss hinein. Ein merkwürdiger Geschmack machte sich in meinem Mund breit. Nicht so ekelhaft wie das Getränk, aber auch nicht lecker, eher neutral. Ja, es war eine neutrale Substanz, die sich nur nach mehrfachem Kauen hinunterschlucken ließ. Verstört betrachtete ich die bröselige Konsistenz, die in Verbindung mit Speichel zu einer klebrigen Masse wurde.

Juli lächelte. »Freut mich, Georgina. Ich freu mich wirklich, also echt. Normal nehmen immer alle Reißaus, sobald ich komme. Dabei tue ich ihnen gar nichts. Naja.« Sie holte Luft. Auch ich verspürte den Drang zu flüchten, doch ich widerstand ihm. Wenn ich jemanden gebrauchen konnte, der unbedacht derart viel redete, dann jetzt. Außerdem empfand ich bei ihren letzten Worten Mitleid.

»Du bist neu in 1b, oder?«, fragte sie. Überrascht stellte ich fest, dass das alles war und nicht noch drei oder vier geplapperte Sätze hinterherkamen. Sie biss sich auf die Unterlippe.

»Ich bin neu in dem Sektor, ja«, antwortete ich ausweichend. Juli legte den Kopf schief und musterte mich. Eilig aß ich den Rest des Rechtecks und fühlte, obwohl ich merkwürdigerweise satt war, eine leichte Übelkeit.

»Und woher dann? Also wenn du nicht magst, dann musst du natürlich auch nichts sagen. Das war dir sicher klar, aber ich sage es trotzdem noch mal dazu. Damit du dich nicht gezwungen fühlst oder so. Also ich komme von hier und bin in den Informatiklaboren beschäftigt. Kümmere mich darum, dass die Essensausgabegeräte funktionieren. Bist du zufrieden? Hat alles geklappt? Das ist mir echt wichtig. Ich mach meinen Job nämlich echt gern.«

Hinter meiner Stirn begann ein unangenehmer Kopfschmerz zu pochen.

Die Augen der jungen Frau weiteten sich. »Ich rede schon wieder zu viel, oder? Das tut mir so leid. Manchmal«, sie stieß schnaubend Luft aus, »kommt es einfach alles auf einmal aus mir raus.« Sie sackte in sich zusammen und ich musste unwillkürlich lächeln.

»Schon okay«, sagte ich. »Ich werde heute operiert und mir ist etwas mulmig.«

Ein mitfühlender Ausdruck trat auf ihr Gesicht und irgendwie wirkte der so ehrlich, dass er mich innerlich berührte.

»Du hast bestimmt keine Schmerzen. Also ich hab noch nie von jemandem gehört, der danach Probleme hatte. Weil die machen das echt gut und eigentlich muss man sich da keine Sorgen machen. Aber ich verstehe natürlich, wenn du dir trotzdem welche machst. Aber du musst mir das einfach glauben, ja?«

Ich stieß ein atemloses Lachen aus. »Danke.«

»Bitte.« Sie lächelte, wrang die Hände ineinander.

Zögerlich erhob ich mich. »Ich muss dann leider los«, sagte ich, nahm das Tablett und blickte mich etwas unschlüssig um.

»Am Ausgang ist eine Klappe, da schmeißt du es einfach rein. Die Tabletts laufen dann durch eine Waschstraße und werden gereinigt und sortiert. Das passiert alles hinter den Wänden. Eine Freundin von mir ist für die Konfiguration zuständig. Also eigentlich ist es keine Freundin, sondern mehr eine Kollegin. Also ich meine, ich glaube, sie wäre nicht sehr begeistert, wenn ich sie als Freundin bezeichnen würde.«

»Danke, sehen wir uns dann morgen?«

Julis Augen traten leicht hervor, ihre Wangen röteten sich. Einen Moment schien es, als würde sie gleich platzen. »Wir können uns auch heute Abend sehen. Also ich esse hier, eigentlich nie auf meinem Zimmer. Ich bin nicht gern allein. Wenn du Lust hättest, dich mit mir zu treffen, dann wäre ich so glücklich. Wirklich. Das wäre … Ich bin um sechs hier.« Ihre Stimme überschlug sich fast, so schnell sprach sie.

Ich räusperte mich. »Alles klar, dann bis um sechs!«, sagte ich und hoffte, dass mein Eingriff dies auch möglich machte. Oder Professor Freyer meinem Aufenthalt nicht vorzeitig ein Ende setzte.

»Super! Tschüss, Georgina! Hat mich echt gefreut. Also wirklich. Ich drücke dir die Daumen für deinen Eingriff, obwohl ich das eigentlich nicht brauch. Weil, also es passiert ja nichts Schlimmes. Denke ich auf jeden Fall.«

Ich lächelte, nickte noch einmal und wandte mich eilig ab. Sie würde sicher niemals aufhören zu reden, wenn ich länger stehen blieb. Am Ausgang trat ich an die Schleuse und schob mein Tablett in den Schlitz, von dem Juli gesprochen hatte. Als ich zu ihr herübersah, saß sie noch immer da. Sie strahlte über das ganze Gesicht und winkte hektisch. Ich hob zögerlich die Hand, grinste verhalten. Wenn ich mir da mal nicht eine Last ans Bein gebunden hatte, die ich gerade jetzt nicht auch noch gebrauchen konnte.

Centro 03 - Das Ende
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