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Als ich die Augen aufschlug, pochte Wut durch meinen Körper. Immer wieder gingen mir Gerrits Worte durch den Kopf und stachelten meine Enttäuschung von Neuem an. Ich riss mir die Brille vom Kopf, richtete mich schneller auf, als der Stuhl es tat.
»Du hättest ja ruhig mal Bescheid sagen können«, murmelte eine verschlafene Stimme neben mir. Überrascht blickte ich zu Juli. Ich hatte die Oase ohne sie verlassen, weil ich die fröhliche Stimmung um mich herum nicht mehr ertragen hatte.
»Du warst auf einmal weg«, entgegnete ich und rutschte von dem Sessel.
»Aber … wir hatten noch eine halbe Stunde Zeit.«
Ich presste die Lippen aufeinander. Wahrscheinlich war der vorwurfsvolle Ton von ihr vollkommen gerechtfertigt, doch in diesem Augenblick trieb er meine Wut an.
»Lass gut sein, ja?«
Dann ließ ich sie einfach stehen. Mit jedem Schritt, den ich hinter mich brachte, lasteten Gerrits Worte schwerer auf meiner Seele. Das war nicht der Junge, den ich von früher kannte. Er hätte sich niemals dem System und der Führung gebeugt. Der Gerrit von damals hätte nicht zugelassen, dass Marcie etwas geschah.
Als ich den Flur zu meiner Parzelle entlanglief, rannte ich. In diesem Moment war alles vergessen; das Auge, Professor Freyer. Einzig die Wut auf meinen ehemals besten Freund beherrschte mein Sein und Handeln. Als ich meine Parzelle betrat, nahm ich die mechanische Stimme, die mich begrüßte, kaum wahr. Ich steuerte direkt das Badezimmer an, erreichte mit wenigen Schritten den großen Duschkopf. Es war eine rein intuitive Handlung. Ich wollte die Worte wegspülen, als könnte ich die Enttäuschung einfach im Abfluss verschwinden lassen. Erwartungsvoll schloss ich die Augen. Lauwarmes Wasser prasselte auf meinen Körper, tränkte meine mit Ziernähten bestickte Tunika und ließ sie schwer an meinen Gliedern hängen.
Ich wollte jeden Gedanken an Gerrit ertränken.
Professor Freyers durchdringenden Blick aus meinem Gedächtnis streichen.
Meine Sorge um Joff wegwaschen.
Mich nicht mehr daran erinnern, dass wir vermutlich alle einer großen Bedrohung gegenüberstanden.
Ich …
Der Wasserstrahl versiegte.
»Fehler im System. Bitte legen Sie Ihre Kleidung ab.«
Ein Schrei entkam meinen Lippen. Ich ballte die Hände zu Fäusten und starrte unbestimmt in den Raum. Die Stimme blieb still. Es vergingen Minuten, bis ich zitternd begann, mich aus der nassen Kleidung zu schälen. Sie landete klatschend auf dem Boden. Abermals ließ ich das Wasser auf mich herabregnen, und zum ersten Mal war mir die Tatsache egal, dass dabei Unmengen davon auf meine Haut trafen und unnütz im Boden verschwanden. Heute Abend hatte ich meinen besten Freund verloren. Und das nicht an irgendwen, sondern an die Führung des Centro, diejenigen, mit denen wir beide niemals übereingestimmt hatten.
Mechanisch trocknete ich mich ab, trug den Puder auf meine Haut auf und verließ das Bad. Als ich mein Nachtzeug aus der Klappe entnahm, erklang die Computerstimme:
»Georgina McCarthy, es bittet jemand um Einlass.«
»Was?«
Doch statt zu antworten, wiederholte sie nur sie Aussage. Eilig streifte ich mir die Nachtkleidung über. »Öffnen«, sagte ich und hoffte damit die richtige Anweisung zu geben. Die Tür öffnete sich. Ein Mädchen mit blondem Haar erschien. Ich hatte sie noch nie zuvor gesehen.
»Georgina McCarthy?«, fragte sie mit piepsiger Stimme.
»Ich … ähm … ja?«
Sie streckte mir einen Stapel Kleidung entgegen. »Unser Transportsystem für die Wäsche funktioniert zurzeit nur eingeschränkt, ich bringe Ihnen die Kleidung für den morgigen Tag.«
Verwirrt ging ich ihn ihre Richtung und nahm ihr den Stapel ab. »Danke.«
»Bitte sehr. Ich wünsche Ihnen eine angenehme Nachtruhe.«
Damit verschwand sie. Mit gerunzelter Stirn musterte ich den Wäschehaufen, trug ihn in Richtung meines Bettes und stutzte, als es knisterte. Ich hob die Tunika an und fand darunter einen Zettel, der auf der Hose platziert war. Was …?
»Ihre berechnete Schlafzeit, um ausreichende Erholung zu erlangen, erreicht in fünf Minuten ihr unterstes Limit. Bitte begeben Sie sich zu Ihrer Schlafmöglichkeit.«
Ich fuhr zusammen, den Zettel fest umklammert. Wie betäubt tat ich, was das Gerät mir befahl. Das Licht erlosch.
»Nachtlicht einschalten.«
Sofort erhellte der Bereich um mein Bett. Ich drehte mich auf die Seite, zog die Bettdecke über mich und entfaltete mit zitternden Fingern das Stück Papier.
Geh morgen Nacht um 3:00 Uhr an die Schleuse zu Sektor 1c. Das Auge wird für eine halbe Stunde abgeschaltet, aus Wartungsgründen. Teile deinem Parzellensystem mit, dass du die Krankenstation aufsuchen musst. G.
Mein Herz klopfte unregelmäßig. Ein atemloses Auflachen kam über meine Lippen. Ich presste den Zettel an meine Brust.
Mitten in der Nacht war auf den Gängen lediglich die Notbeleuchtung eingeschaltet. Meine Schritte klangen furchtbar laut, obwohl ich versuchte, so geräuschlos wie möglich voranzukommen. Der Tag hatte sich ewig in die Länge gezogen und bis drei Uhr hatte ich kein Auge zugetan. Ich schlich den Gang in Richtung der Schleuse von Sektor 1c. Meine Muskeln waren gespannt bis in den letzten Winkel meines Körpers. Jedes Geräusch ließ mich erstarren. Was, wenn Gerrit gelogen hatte und das Auge weiterhin aktiviert war? Wie sehr hasste er mich? Genug, um mir eine Falle zu stellen? Ich schüttelte den Kopf, als könnte ich den Gedanken so loswerden.
Als ich ankam, war ich schweißgebadet. Ich wusste nicht, wie lange ich gebraucht hatte. Wieder regte sich in meinem Inneren diese skeptische kleine Stimme: Du bist zu spät. Die halbe Stunde ist um.
»Hey«, flüsterte jemand. Ich zuckte zusammen. Gerrit schälte sich aus dem Schatten rechts von der Schleuse. Sein strenger, strafender Blick ruhte auf mir.
»Gerrit, ich …«
»Sei still, wir müssen uns beeilen.« Bevor ich etwas erwidern konnte, griff er nach meiner Hand. Doch er betätigte nicht den Bildschirm neben der Schleuse, sondern zerrte mich zu der linken Wand, etwa einen Meter entfernt. Ich musterte ihn, während er an der Fläche herumhantierte. Ein leises Zischen erklang, und auf einmal war da, wo sich eben noch glattes Weiß befunden hatte, ein rechteckiges Loch.
»Ein Wartungsgang«, flüsterte Gerrit und bedeutete mir, ihm zu folgen.
In gedrungener Haltung kamen wir nur langsam vorwärts. Gerrits Geruch schlug mir entgegen. Auch wenn meine Gabe noch nicht so ausgeprägt gewesen war, als wir uns das letzte Mal gesehen hatten, war ich mir sicher, dass er sich verändert hatte. Ich roch unterdrückte Wut und eine Spur von verbissenem Ehrgeiz, wie ich ihn schon bei Professor Freyer wahrgenommen hatte.
Als Gerrit plötzlich verharrte, prallte ich gegen ihn, was einen grummelnden Laut zur Folge hatte. »Pass doch auf.«
Wir traten aus dem Tunnel, es sah genauso aus wie auf der anderen Seite. Irgendwie hatte ich mir eine offensichtliche Veränderung erhofft bei einem Sektor, der dermaßen gut bewacht wurde.
»Also.« Gerrit klang atemlos. Er blickte sich mehrfach um. Doch in dem matt beleuchteten Gang herrschte absolute Stille. »Ich tue das hier nicht für dich, sondern für Marcie. Es ist mir auch egal, was du mit den Informationen anstellst, wenn du hier raus bist.«
»Hier raus?«
»Der Gang, durch den wir gekommen sind, ist kameraüberwacht, wenn das System nicht heruntergefahren ist. Es dauert keine fünf Minuten, bis sie dich entdecken, dann musst du abhauen, verstanden?«
»Aber wie …?«
»Deinem Freund scheint die Flucht ja auch geglückt zu sein, also dürfte es für dich kein Problem sein.«
Damit wandte er mir den Rücken zu und ließ mich stehen.
»Gerrit … ich kann nicht verschwinden«, flüsterte ich, als ich zu ihm aufschloss.
»Du musst.«
»Das geht nicht, ich …«
Gerrit fuhr herum, packte mich an den Schultern. »Jetzt pass mal auf, Kay. Ich riskiere mit der Aktion hier alles, verstanden? Ich mache es, weil Marcie und Doc es verdienen, die Wahrheit zu erfahren, und damit ich dich vom Hals habe, klar? Du – hast – hier – nichts – zu – suchen.«
Ich schluckte. Gerrit ließ mich los, wandte sich nach rechts und legte seine Hand auf die weiße Wand.
»Hallo Gerrit Jansen. Wünschen Sie Zutritt in das Archiv?«
»Ja, bitte.«
Die Tür öffnete sich. Der Raum, den wir betraten, war klein, höchstens fünf Quadratmeter. Das Inventar bestand aus einem weißen Drehstuhl, einem großen, in der Wand eingelassenen Bildschirm und einer Intranetbrille, die darunter hing. Sonst war das Archiv vollkommen leer.
»Setz dich«, befahl Gerrit und deutete auf den Stuhl. Etwas perplex tat ich, was er von mir verlangte. Eigentlich sollte ich wütend sein, ihm meine Meinung sagen, doch ich fühlte mich kraftlos. Er wollte, dass ich ging. Und zwar nicht heute oder morgen, sondern jetzt gleich. Dabei ließ er mir nicht einmal die Wahl. Diese Entscheidung war bereits gefallen, als ich meine Parzelle verlassen hatte. Jetzt gab es kein zurück mehr. In meinem Inneren herrschte solch ein Durcheinander, dass ich nicht einmal in der Lage war, wütend auf Gerrit zu sein.
»Ich erbitte Systemzugriff auf die Rückblickdateien des letzten Jahres.« Er berührte mit der flachen Hand den Bildschirm und erweckte ihn zum Leben. Eine Liste erschien, die Gerrit kurz überflog. Schließlich nickte er. »Ich melde für die nächsten zehn Minuten einen Gast an, der diesen Systembereich nutzt.«
»Genehmigt, Gerrit Jansen.«
Er blickte mich an, presste die Lippen aufeinander. Erneut schlug mir eine Welle der Wut entgegen. Wie konnte er bloß so sauer auf mich sein?
»Gerrit, bitte, das, was damals gewesen ist, tut mir echt leid. Bei Kandras fühlte ich mich wie zu Hause angekommen und musste …«
Gerrit lachte auf und es klang so verbittert, dass ich augenblicklich verstummte. »Du glaubst wirklich, es geht darum?«
»Worum denn dann?«
Schmerz vermischt mit Wut ergab eine Geruchsmischung, die bitter schmeckte. Gerrit schüttelte den Kopf, verschränkte die Arme vor der Brust. »Kay, kannst du dich daran erinnern, worum ich dich gebeten habe, als ihr zu dieser Kamikaze-Aktion aufgebrochen seid?« Die Worte klangen mühevoll beherrscht. Ich dachte nach. Damals war so viel geschehen, aber mir wollte nicht einfallen, was er meinen könnte.
»Meine Eltern.« Er spuckte die Worte aus, als wären sie etwas Abartiges. Dann fiel es mir ein. Der Zettel, den er mir in die Hand gedrückt hatte, und die Aufgabe, seine Eltern zu retten.
»Gerrit, ich habe den Dschungel nie verlassen. Sim hat mich verraten und dann bin ich zum Stamm und habe …«
»Ich weiß. Schließlich bin ich der Idiot, der dir gefolgt ist und dich dann glückselig bei deinen neuen Freunden gefunden hat. Ich bin der Sohn, der seine Eltern im Stich ließ, um eine vollkommen sinnlose Mission zu starten, für jemanden, der gar nicht gerettet werden wollte. Anstatt ins Centro zu gehen und meine Eltern davor zu bewahren, in die Luft gejagt zu werden!« Er war immer lauter geworden. Jetzt war es pure Wut, die ihn umgab.
»Sie sind …?« Ich schluckte, wagte es nicht, es offen auszusprechen. Meine Finger krallten sich in die Lehne des Drehstuhls.
»Tot. Erledigt. Hinüber.« Jedes Wort drang gleich einem Peitschenhieb aus seinem Mund. Ich sah deutlich, dass es ihm schwerfiel, sich zu beherrschen. »Genau wie Candis, die bei dem lächerlichen Versuch draufging, ihren geliebten Sim zu retten.«
»Candis ist tot?«, flüsterte ich.
Gerrit stieß ein bitteres Lachen aus. »Ja. Überrascht dich das? Erschossen von Jordans Leuten, kurz bevor wir die Felsenstadt betreten konnten.«
»Gerrit, ich wusste nicht …«
»Wenn interessiert das?!«, schrie er. Ich zuckte zusammen und beobachtete, wie er sich die Stirn massierte.
»Es tut mir unendlich leid«, wisperte ich.
»Halt die Klappe.« Gerrit schloss die Augen, atmete tief durch. Als er sie schließlich wieder öffnete, blickte er mich entschlossen an. Ohne etwas zu sagen, legte er die Hand auf den Bildschirm. »Timer für Gastzugang jetzt starten.«
»Timer gestartet.«
»Du solltest jetzt besser loslegen. Ich möchte dich nie wiedersehen. Und falls du gefasst wirst, streite ich jede Zusammenarbeit ab. Die Zeit im Archiv verschwindet genauso aus dem System wie du endlich aus meinem Leben. Ich habe so viel für dich aufgegeben, und du …« er sprach nicht weiter, schüttelte den Kopf.
»Gerrit …«
»Mach’s gut, Kay.«
Damit verließ er den Raum und ließ mich mit purem Gefühlschaos zurück.