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Als wir aus dem Zelt traten, richtete sich die Aufmerksamkeit der anwesenden Gardisten sofort auf uns. Man musste kein Genie sein, um zu begreifen, dass unsere Chancen gegen null gingen. Außerdem wurde jetzt deutlich, dass der Plan, Sim hier herauszutragen, zum Scheitern verurteilt war. Slows Gesicht war rot angelaufen und er atmete angestrengt. Ihm zitterten die Knie so heftig, dass ich das Gefühl hatte, sie würden gleich unter ihm nachgeben.
»Hey Slow! Was soll das denn jetzt?«, fragte ein hochgewachsener Mann mit lockigem rostbraunem Haar, der einige Meter von dem Zelteingang entfernt stand. Wieder waren keine Wachen direkt vor dem Zelt aufgestellt, sodass uns anscheinend in dem umliegenden Lärm keiner gehört hatte. Eilig griff der Typ unter Slows Arme, als der gezwungen war, Sims erschlafften Körper auf den Boden sinken zu lassen.
Verdammt.
Die beiden Männer legten Sim ab.
»Direkte Anweisung von Sascha, ich bringe sie zum Loch«, erwiderte Slow ungerührt.
»Und warum sollte ich ihn da erst rausfischen? Mann, sie weiß auch nicht, was sie will, oder?« Ich bemerkte, dass ihn noch immer ein Hauch von Skepsis umgab, auch wenn seine Gesichtszüge sich entspannten. »Und was ist mit den beiden da?« Er deutete auf uns.
»Ebenfalls Kandidaten fürs Loch.« Slow strich sich über das schweißnasse Gesicht. Der Junge musterte erst uns, dann den am Boden liegenden Sim.
»Langsam wird’s voll da unten.« Er stemmte die Hände in die Hüften. »Du kannst den Matschkopf nicht alleine da runtertragen. Vorhin waren wir zu zweit und da konnte er sich zumindest noch auf den Beinen halten. Jetzt«, er trat gegen Sims erschlafften Körper, »ist er gut doppelt so schwer. Ich glaube nicht, dass wir ihn ein zweites Mal aus seinem Tiefschlaf wecken können, der ist so gut wie fertig.«
Ich senkte den Blick, versuchte die Gefühle zu verbergen, die nun durch mein Innerstes pochten. Wut und auch Angst sorgten dafür, dass ich meine Lippen fest aufeinanderpresste.
»Ich helfe dir tragen.« Der Mann fasste Sim unter die Achseln und blickte Slow abwartend an. Zu meiner Überraschung griff der nach den Füßen und schenkte dem Gardisten ein schräges Grinsen. Gemeinsam hievten sie Sim hoch. »Danke, Ilja.«
»Kein Ding.« Ilja verrenkte den Hals, während er begann rückwärts zu gehen. »Hey, ihr zwei!«
Die jungen Männer, die aufschauten, waren etwa in meinem Alter. Sie saßen am Boden und wickelten dünne Strickteile um die Griffbereiche der Kampfstöcke. Als Ilja nach ihnen rief, unterbrachen sie ihre Arbeit und kamen auf die Beine.
»Bewaffnet euch und kommt mit uns zum Loch. Die beiden Damen brauchen Begleitschutz zu ihrem neuen Zuhause.« Ilja lachte trocken auf. Ich spürte, wie sich Lydia neben mir anspannte. Worauf lief das hinaus? Ich suchte Slows Blick, doch er wich mir aus. Während einer der Männer nach einem Jagdmesser griff, zerrte der andere eine Machete aus einem Stapel. Als Letzterer seine Lippen zu einem breiten Grinsen verzerrte, zeigte sich eine Reihe schwarzer Stümpfe. Der mit dem Messer hatte einen resignierten, merkwürdig leeren Gesichtsausdruck. Sie kamen auf uns zu.
»Los!«, donnerte Ilja.
Lydia und ich tauschten einen Blick. Dann folgten wir Slow und Ilja. Jetzt, inmitten der Gardisten, wäre eine Flucht praktisch unmöglich. Der Mann mit der Machete und sein Freund liefen direkt hinter uns, von ihnen ging ein leicht fauliger Geruch aus. Ich musste ihnen nicht in die Augen schauen, um zu wissen, dass sie mit Vorsicht zu genießen waren. Wir verließen die Höhle auf dem gleichen Weg, wie wir sie betreten hatten.
»Wo sind denn Tim und Jonas? Die beiden Holzköpfe sollten hier die Stellung halten?«, zischte Ilja entnervt.
»Du kennst sie doch. Sicherlich sind sie spätestens zum Mittagessen verschwunden«, sagte Slow und lachte leise.
Ilja stimmte ein. »Wirklich. Faules Pack. Ich hab die Schnauze voll davon. Wird Zeit, dass hier wieder Ruhe einkehrt. Ich habe gehört, Sascha hat einen Plan?«
Meine Kehle schnürte sich zu, als wir an dem kleinen Lagerraum vorbeigingen, in dem die beiden Wachen hoffentlich noch selig schlummerten. Es grenzte an ein Wunder, dass sie nicht längst Alarm geschlagen hatten.
»Ilja, du weißt genau, dass ich darüber nicht reden darf.«
Ich starrte auf Slows Nacken, Lydia lief leicht versetzt hinter mir. Unsere beiden Wachleute waren nah bei uns. Ich konnte die Machete des Kerls mit den fauligen Zähnen beinahe in meinem Rücken spüren. Der Gang war so eng, dass jeder Angriff unsererseits garantiert in einer Katastrophe enden würde. Außerdem hatte ich ein mulmiges Gefühl, was Slow betraf. Doch ich wollte nicht glauben, dass er uns verriet. Irgendetwas in meinem Inneren sagte mir, dass Slow ein Freund war.
»Ach Mann. Die Gerüchteküche hier unten funktioniert fantastisch. Ich bin sicher, das meiste weiß ich eh schon.«
»Dann brauchst du mich ja nicht, oder?« Ich meinte, ein Grinsen in seiner Stimme zu vernehmen.
Ilja schnaubte. »Wir können es ja folgendermaßen machen: Ich sage, was ich weiß, und du, ob richtig oder falsch?«
Statt dem Weg weiter nach unten zu folgen, blieben wir vor einer massiven Holztür stehen. Slow und Ilja legten Sim am Boden ab. »Also, was sagst du?« Ilja klopfte in einer merkwürdigen Abfolge gegen das Holz.
»Meinetwegen.«
Als die Tür geöffnet wurde, grinste Ilja breit. Ein bulliger Typ erschien im Türrahmen, dessen rötlicher Bart fast sein gesamtes Gesicht bedeckte. Die Augen waren winzig und die Nase stach aus der krausen Gesichtsbehaarung. Er trug die Kleidung eines Gardisten, auch wenn sie bei ihm in der Bauchgegend ziemlich spannte und an den Füßen deutlich zu kurz war.
»Slow!« Es kam Bewegung in den Bart, und ich meinte, eine Reihe Zähne hervorblitzen zu sehen. Ein Grinsen?
»Mario, wie geht’s?« Slow fasste nach der Hand, die der Gardist ihm entgegenstreckte.
»Alles bestens. Ziemlich ruhig hier in den letzten Tagen, ich glaube langsam, das Mädchen hat es aufgegeben.«
Statt einer Antwort lachte Slow auf und griff wieder nach Sims Füßen. Doch die Worte des Mannes hatten mein Innerstes aus seiner Starre geweckt. Ein Mädchen? Vielleicht meine kleine Schwester? Hoffnung keimte in mir auf, mein Herz pochte schneller, meine Fingerspitzen kribbelten. Ilja stöhnte, als sie Sim wieder hochhievten. Aus dem Tunnel, den wir nun betraten, schlug uns angenehm kühle Luft entgegen. Er führte steil bergab.
»Wenigstens kann man hier unten der Bullenhitze entkommen, was?«, fragte Ilja.
Der Gang war so schmal, dass wir hintereinander laufen mussten. Das brachte zumindest Abstand zwischen mich und den Machetenjungen sowie den Gestank, der ihn begleitete.
»Aber da sind wir ja gleich beim Thema. Ist es wahr, dass die Sonnenkinder an den bombastischen Temperaturen schuld sind?«
»Wahr«, antwortete Slow knapp. Ich biss mir auf die Unterlippe. Das entsprach nur teilweise der Wahrheit, doch das würde ich diesem Ilja nicht auf die Nase binden. Sand knirschte unter unseren Füßen. Fackeln waren nur noch unregelmäßig angebracht und die Wände sehr grob behauen. Dies war eindeutig kein Wohnraum.
»Und sie sind gerade dabei, eine monströse Flucht zu planen, und denken, keiner weiß Bescheid?«
»Richtig.«
Ilja lachte auf. »Diese arroganten Sonnenkinder, was? Aber so leicht machen wir es ihnen nicht. Sascha weiß natürlich längst, dass der Abflugort die dritte Kuppel ist?«
»Sicherlich.«
Ilja grinste siegessicher. »Aber wir werden sie nicht einfach verschwinden lassen, oder? Man munkelt von Bomben, die von unseren Leuten platziert wurden? Das ganze Ding fliegt in die Luft, noch bevor sie ihre Ärsche von hier weggeschafft haben?«
Ich hielt den Atem an.
»Wahr.« Slow sagte es ganz leise, als schämte er sich.
»Hab ich es mir doch gedacht! Warum hätten sie das Zeug sonst kiloweise aus dem Labor schleppen sollen?!« Ilja lachte vergnügt auf. Da er rückwärts laufen musste, konnte ich im matten Licht seine Gesichtszüge erkennen. »Und weißt du auch, wohin die Sonnenkinder flüchten wollten?«
Slow antwortete nicht. Nach einer Weile sah ich, wie Ilja ihn unter hochgezogenen Augenbrauen musterte. »Ach ja. Ich meine natürlich: Stimmt es, dass sie da draußen eine zweite Basisstation errichtet haben?«
»Keine Ahnung. Es gibt Gerüchte, aber niemand ist sich einig«, entgegnete Slow. Ich fand die Theorie von Ilja allerdings einleuchtend. Endlich schien diese Flucht Sinn zu ergeben. Eine zweite Basisstation, die eventuell noch tiefer unter der Erde lag, sodass uns die Sonne nicht schaden konnte? Doch all das würde nichts nützen, wenn der letzte Ausweg aus dieser Hitzehölle in die Luft gesprengt würde.
»Gut, dann etwas anderes. Stimmt es, dass die Sprengsätze bereits platziert wurden?«
»Richtig. Mehr weiß ich aber auch nicht.« Slow klang gereizt.
»Das reicht mir schon. Du hast auch nicht mehr Ahnung als ich.«
Im selben Moment betraten wir eine kreisrunde Höhle, in deren Mitte ein tiefes Loch prangte. Slow und Ilja legten Sim am Boden ab.
»Da wären wir schon. Wollen wir ihn zuerst runterschaffen?« Ilja deutete auf den leblosen Körper von Sim. Allmählich bereitete mir seine Bewusstlosigkeit ernsthafte Sorgen. Er war schon viel zu lange weggetreten. Ich starrte auf seinen Brustkorb, wartete verzweifelt auf ein leichtes Heben oder Senken. Nichts. Meine Kehle wurde eng.
»Und dann die beiden«, sagte Slow zustimmend und nahm von Ilja ein Seil entgegen.
»Slow!«, stieß ich hervor. Er blickte nicht in meine Richtung.
Im selben Moment, wie sein Geruch stärker wurde, bohrte sich die Machete in meinen Rücken. »Sie ist fast zu schade, um sie in dieses olle Loch zu stoßen. Meint ihr, ich könnte sie …«
»Lass die Finger von ihr!«, rief Ilja. »Sascha bringt mich um, wenn irgendjemand ihr Spielzeug anrührt.«
Der Widerling hinter mir lachte leise, ich spürte deutlich seinen Unmut. Mich überlief es kalt, Wut pochte durch mein Innerstes. Ich würde …
In diesem Moment fing ich Slows Blick auf. Es war das erste Mal, seitdem wir aufgebrochen waren, dass wir uns direkt ansahen.
»Kay, jetzt!«