***

 

 

 

Mit hektischen Schritten ging ich in meiner Parzelle auf und ab. Seit Minuten liefen unaufhörlich Tränen über meine Wangen. Immer wieder blickte ich auf meine Hände, an denen Joffs Blut klebte. Auch an meiner Kleidung hatte er verräterische Spuren hinterlassen. Dass er überhaupt noch lebte, grenzte an ein Wunder. Doch meine Sorge um ihn war nicht das Einzige, was mich belastete. Das absurde Gefühl, jetzt vollkommen allein an diesem Ort zu sein, drückte auf meine Seele. Es war, als hätte mein letzter Verbündeter mich verlassen. Und das, obwohl Joff an dem Ort, wo er gewesen war, sicherlich nicht lange überlebt hätte. Ich schüttelte den Kopf, streifte diese egoistischen Gedanken ab. Was war ich bloß für ein Mensch, mir zu wünschen, dass Joff noch nicht gegangen wäre? Ich biss mir auf die Unterlippe. Ein metallischer Geschmack breitete sich in meinem Mund aus.

Blut.

An mir klebte Joffs Blut.

Das Bewusstsein erfüllte mich so schlagartig, dass alle anderen Sorgen unwichtig erschienen. Fassungslos schaute ich an mir herunter. Die rote Flüssigkeit verschmierte meine Kleidung und setzte sich deutlich von dem strahlenden Weiß ab; so offensichtlich wie ein Schuldgeständnis. Schweiß trat mir auf die Stirn. Was, wenn mich jemand so sah?

Ich blickte mich in meiner Wohneinheit um. Eilig rannte ich ins Bad, verharrte vor der Dusche. Natürlich könnte ich mir das Blut von der Haut waschen, doch meine Tunika davon zu befreien, schien mir unmöglich. Mein Blick blieb am Wasserhahn des Waschbeckens hängen. Die Armatur, in der sich der Sensor zum Aktivieren des Wasserstrahls befand, war rund und lief nach oben hin nadelspitz zu. Dass dieses Ding so geformt war, hatte wohl keinen tieferen Grund, außer schön zu wirken. Doch mir kam es gerade recht. Vorsichtig berührte ich das vorderste Stück des Bauelements; spitz aber nicht scharfkantig. Mein Herz pochte fest, der Puls dröhnte durch meine Ohren. Ich blickte auf meine linke Handinnenfläche und auf einmal wusste ich, was ich tun musste, um das Blut von Joff zu vertuschen. Bevor ich mich selbst von dieser Idee abbringen konnte, holte ich aus und schlug mit der flachen Hand kräftig auf die Spitze. Schmerz explodierte, als sich das Metall tief in mein Gewebe grub. Der Dorn hatte meine Hand komplett durchbohrt. Ich zitterte, meine Knie fühlten sich weich an. Ruckartig zog ich meinen Arm zurück und eine weitere Welle Leid brach über mir zusammen. Und dann kam das Blut. Es strömte an meiner bebenden Hand entlang und tropfte auf den Boden. Mir wurde übel und ich schwankte rückwärts. Was, wenn man mich nicht rechtzeitig fand? Die Wunde war tiefer, als ich geplant hatte. Ich presste das verletzte Körperteil eng an mich und ließ zu, dass das Blut meine Tunika tränkte. Mit schweren Schritten taumelte ich zurück in den Hauptraum. Schwindel drückte auf meine Augen und der Puls pochte beißend in meiner Hand. Mit jedem schmerzhaften Pulsieren beförderte er mehr der roten Flüssigkeit aus meinem Körper.

»Computer?«

»Kann ich irgendetwas für Sie tun, solange die Ausgangssperre verhängt ist?«

»Ruf die medizinische Abteilung. Ich brauche Hilfe …«, keuchte ich, ehe meine Knie ihren Dienst versagten und ich hart auf den Boden fiel.

 

Der sterile Geruch sagte mir, wo ich mich befand, noch bevor ich die Augen öffnete. Ich blinzelte gegen die Helligkeit an. Meine linke Hand war von einem dicken Verband umwickelt. Schmerz zuckte durch die Wunde.

»Von dieser Verletzung werden Sie noch länger etwas haben. Das konnte nicht mal unsere Heilungseinheit richten.«

Meine Nackenhaare richteten sich auf. Ich hatte damit gerechnet, dass er kommen würde, doch erst später, nicht schon jetzt.

Professor Freyer saß neben der Krankenliege auf einem weißen Plastikstuhl. Er hatte die Beine übereinandergeschlagen, die Fingerspitzen seiner Hände drückten gegeneinander. Statt seines Raubtiergrinsens waren da lediglich ein schmales Lächeln und finster dreinblickende Augen. Doch viel unheimlicher als dieser neue Gesichtsausdruck war der Geruch, der mir entgegenschlug. Wut vermischt mit Frustration in solch unerträglichem Maß, dass ich einen sauren Geschmack wahrnahm. Niemals hatte ich negative Emotionen so klar und deutlich empfangen wie bei diesem Menschen. Meine Schleimhäute brannten.

»Ich bin gestürzt.«

Professor Freyer nickte langsam. Sein Blick war schneidend. »Und sind auf die Armatur der Wascheinheit gefallen? Mit der Hand voran?«

Es klang nach einem zweifelhaften Zufall. »Ich weiß auch nicht, wie das passieren konnte.«

»Hm.« Der Professor erhob sich und strich sein Hemd glatt. »Georgina, ich will an dieser Stelle nur eins klarstellen: Ich lasse mich nicht für dumm verkaufen. Keinesfalls von Ihnen oder sonst einem dahergelaufenen Wilden, der meint, meine Sicherheitsvorkehrungen zu umgehen und mich wie ein Idiot dastehen zu lassen.« Seine Stimme triefte vor Bitterkeit. »Also sollte das tatsächlich Ihre Hoffnung sein, dann muss ich Sie enttäuschen.«

Ich schluckte. »Ich verstehe nicht, worauf Sie hinauswollen.«

Da war es wieder, dieses wölfische Grinsen. »Ich glaube, Sie begreifen das sehr genau. Der Mann, der geflohen ist, verschwand, kurz bevor Sie sich diese fragwürdige Verletzung zugezogen haben.«

»Welcher Mann?«

Freyer lachte leise. »Sie wollen das also wirklich durchziehen, Georgina?«

»Professor, Sie sprechen in Rätseln.«

Seine Kiefermuskulatur trat markant hervor, als er sich zu mir herunterbeugte, ganz nah. »Ich weiß noch nicht, was Ihr Plan ist, aber das spielt keine Rolle. Ich werde es herausfinden, weil ich darin gut bin. Verdammt gut. Sie fordern mich und das gefällt mir, obgleich es mir zuwider ist. Doch lassen Sie sich eins gesagt sein: Sollte es irgendetwas sein, was den Menschen im Centro schadet, glauben Sie ja nicht, es wäre mit einer einfachen Verurteilung getan. Es gibt Dinge, die schlimmer sind als der Tod, Georgina. Vergessen Sie das nicht.«

Mit diesen Worten wandte er mir den Rücken zu und verließ das Zimmer. Gänsehaut überzog meinen Körper, ließ mich erzittern. Ich richtete mich auf, fühlte mich kraftlos und erschöpft. Sehnte mich nach Schlaf. Doch bei all der Angst, die mir diese furchtbare Person machte, verspürte ich einen gewissen Triumph. Joffs Flucht war gelungen und ich war nicht aufgeflogen, obwohl ich ihm geholfen hatte. Professor Freyer war wütend, weil er keine Beweise gegen mich hatte. Diese eine Runde hatte ich gewonnen.

 

Ich atmete erleichtert auf, als ich in mein Quartier gelangte. Irgendjemand hatte die Spuren meiner Verletzung beseitigt. Der silberne Dorn der Armatur glänzte herausfordernd, als ich in das Badezimmer schaute. Nichts ließ darauf schließen, dass er vor Kurzem noch meine Hand durchbohrt hatte. Ich rieb mir die Augen. Es war bereits nach dreiundzwanzig Uhr und der Schlaf auf der Krankenstation war alles andere als erholsam gewesen. Ich zog die frische Tunika und die blütenweiße Hose aus. Wie auf ein stummes Signal öffnete sich die Klappe für die Schmutzwäsche und zeitgleich fuhr mein Bett aus der Wand. Ich entsorgte meine Kleidung und griff nach dem Nachthemd, das gefaltet auf der glatten Fläche meiner Bettdecke lag. Als ich es anhob, fiel etwas Kleines, Weißes heraus. Irritiert bückte ich mich und hob es vom Boden auf. Es war ein zusammengefalteter Zettel. Ich runzelte die Stirn. Vielleicht von Joff? Eine Nachricht, dass er gut angekommen war? Ich drückte das Papier an mich, blickte mich hastig um. Lieber kein unnötiges Risiko eingehen. Was, wenn meine Parzelle inzwischen überwacht würde? Ich kroch unter die dünne Decke, rollte mich zusammen und entfaltete im Verborgenen den Zettel.

Triff mich morgen Nacht um 22 Uhr in der Oase, G.

Ich runzelte die Stirn. Las die Nachricht mehrmals, aber die Worte wollten keinen Sinn ergeben. Wer …? Und dann begriff ich. Gerrit. Er musste es einfach sein. Ich lachte auf. Was ich in der Hand hielt, war der Beweis für seine Existenz. Unzählige Fragen schossen mir durch den Kopf. Könnte es ein Hinterhalt sein? Vielleicht wollte Professor Freyer mich auf diese Art entlarven? Ich wusste es nicht. Doch das spielte keine Rolle, denn ich würde auf jeden Fall diese Oase aufsuchen. Wo auch immer sie war.

Centro 03 - Das Ende
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