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»Gestatten Sie mir, Ihren Chip zu scannen?« Die Frau entblößte mechanisch eine Reihe unnatürlich weißer Zähne. Im krassen Kontrast dazu lag in ihren Augen eine merkwürdige Leere. Sie erinnerte mich an die beiden aus der medizinischen Abteilung und auch ein wenig an Gamma und Delta. Sie alle hatten etwas Unwirkliches an sich, das sich mit Worten nicht umschreiben ließ. Als würde ihnen etwas ganz Entscheidendes fehlen.
Die Frau streckte die linke Hand nach mir aus, während in der anderen ein technisches Gerät ruhte. Sie trug eine weiße Tunika und eine dazu passende Stoffhose. Beide Kleidungsstücke waren mit breiten goldenen Nähten abgesteckt. Das Outfit ähnelte meinem und dem von Juli, auch wenn unsere zusätzlich mit goldenen Stickereien verziert waren, die sich in abstrakten Mustern über den gesamten Stoff zogen. Aus Julis Geplapper hatte ich herausgehört, dass es sich um die Abendgarderobe handelte. Darüber hatte Joff mir nichts gesagt, aber vermutlich hatte er nicht damit gerechnet, dass ich ausgehen würde.
»Sie sind faszinierend, oder?«, wisperte Juli aufgeregt in mein rechtes Ohr. Ich blickte sie fragend an, während ich der Frau gestattete, mein Handgelenk zu scannen.
»Es ist die neuste Generation, und ich, also ich meine, ich kenne jemanden, der jemanden kennt, der hat direkt an ihnen gearbeitet. Sehen sie nicht täuschend echt aus?« Sie musterte die Frau mit einer derart offenkundigen Neugier, dass es mir die Röte ins Gesicht trieb. Einen Augenblick fürchtete ich, Juli würde die Hand nach der Frau ausstrecken, um das makellose Gesicht zu berühren.
»Juli, starr sie nicht so an«, zischte ich peinlich berührt. Die Kontrolleurin schien das Verhalten des zierlichen Mädchens nicht zu stören.
»Also ich glaube nicht, dass sie das stört, und wenn, müssten wir sofort den Programmierer beauftragen. Meinst du, sie funktioniert nicht? Vielleicht könnte ich ja mal schauen? Ich mein, ich kenne mich mit den Mensch-Com-Einheiten nicht so richtig aus, aber ich könnte sie zumindest …«
»Mensch-Com-Einheiten?«
Juli musterte mich, hob beide Augenbrauen. Die Frau scannte ihr Handgelenk, blickte uns beide an und legte den Kopf schief. »Herzlich willkommen, Georgina McCarthy, Juli Dandy. Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen im Intranet. Der Abendpass wird in Ihren Akten vermerkt.«
Mich erfüllte ein merkwürdiges Gefühl, als die Frau beiseitetrat und uns Einlass in den dahinterliegenden Raum gewährte.
»Manchmal bist du komisch, Georgina. Du kannst mir nicht erzählen, dass dir die grandiosen Entwicklungen im Bereich der Mensch-Coms entgangen sind. Also ich weiß ja nicht, wie du das siehst, aber ich denke, dass wir ohne die Androiden gar nicht mehr so leben könnten. Gehörst du zu diesen Mensch-Com-Gegnern? Ich denke, jeder sollte seine Meinung haben, aber …«
Ich hob schnell beide Hände. »Juli! Ich bin nicht gegen diese Dinger, okay?« Vielleicht war mein Ton etwas barsch, aber je mehr Zeit ich mit Juli verbrachte, desto schwerer fiel es mir, ihren sich überschlagenden Tonfall zu ertragen. Außerdem zog der Raum, nein, vielmehr die Halle meine Aufmerksamkeit auf sich. Eigentlich war die Einrichtung sehr schlicht gehalten. Wieder beherrschte klares Weiß das Inventar, das aus mehreren Reihen gemütlich aussehender Sessel bestand. Einige waren durch Bewohner besetzt, die ebenfalls in goldbestickte Tuniken gekleidet waren. Sie trugen eine moderne Version der Brille, wie ich sie aus dem Technikzelt kannte. Joff hatte mich darauf vorbereitet, dass unser Übungsobjekt sehr schlicht gehalten war. Einen Augenblick fragte ich mich, warum man sich überhaupt die Mühe machte, sich so rauszuputzen, wenn man sich doch nur in einer virtuellen Welt bewegte. Aber dann fielen mir Joffs Worte ein. Er hatte mir erklärt, dass die Avatare ein genaues Abbild des wirklichen Menschen darstellten. Wie eine Momentaufnahme der Person.
»Wollen wir in eine der hinteren Reihen oder weiter nach vorne? Also eigentlich ist es ja ziemlich egal, aber ich finde es ja besser, wenn wir so weit wie möglich weg vom Eingang sind. Ich finde das Gefühl furchtbar, dass ständig jemand an mir vorbeiläuft«, sagte Juli, die sich an meinem patzigen Tonfall von eben nicht zu stören schien.
Ich seufzte. »Dann gehen wir nach vorne.«
Juli schenkte mir ein breites Lächeln. Eilig folgte ich ihr zwischen den Stühlen hindurch zu den vorderen Reihen. Immer wieder gingen wir an Menschen vorbei, die leblos in den Sesseln lagen.
Wir fanden zwei freie Stühle in der vierten Reihe, der Rest war hier bereits besetzt. Juli strahlte mich an. Offensichtlich war sie zufrieden mit unserer Platzwahl. Kurz musterte ich den dunkelhäutigen Jungen, der neben mir saß; die Finger seiner rechten Hand zuckten, als würde er träumen. Ansonsten war sein Körper vollkommen erschlafft, tief versunken in eine virtuelle Welt.
Als ich mich auf dem weißen Stoff des Sessels niederließ, sank ich leicht ein. Ich griff nach der Brille, die in einer Halterung seitlich der Armstütze angebracht war, und lehnte mich zurück. Der Stuhl fuhr automatisch in eine halb aufrechte Position.
»Warum konnten wir eigentlich nicht von unseren Parzellen aus …?«, wisperte ich in Julis Richtung.
Sie musterte mich wieder mit diesem merkwürdigen Ausdruck im Gesicht. »Weil wir auf die Vergnügungsplattformen ab achtzehn Uhr nur über die Sammelzugänge Eintritt gewährt bekommen. Das … ist doch klar, oder? Hier werden wir manuell unterbrochen, wenn wir die Zeiten erreicht haben, die unseren Kompetenzen entsprechend freigegeben sind. Es ist sinnvoller, die Mensch-Com-Einheiten für solche Dinge zu nutzen, als aufwändige Programme zu entwerfen. Zumal die Vergnügungsbereiche – vor allem die Oase – besonderen Privatsphäreeinstellungen unterliegen. Im restlichen Intranet werden die Daten sofort übermittelt, in der Oase und einigen anderen Bars, Restaurants oder Spielbereichen geschieht dies mit einer Zeitverzögerung.« Julis Augen blitzten vergnügt auf.
»Und was soll das bringen?«
Sie runzelte die Stirn. Ich musste aufpassen, dass ich in Julis Gegenwart meine Maske nicht fallen ließ. »Na Privatsphäre. Unabhängigkeit. Bis zu zehn Minuten, ohne unter Bewachung zu stehen. Das ist doch absolut krass!«
Ich setzte ein schmales Lächeln auf. Julis Blick zufolge waren das alles Dinge, die ich eigentlich hätte wissen müssen. Doch war Georginas Arbeitsplatz nicht fernab des ganzen Lebens hier gewesen?
»Wollen wir?« Julis Stimme klang ein wenig schrill und sie zitterte leicht. Wieso war sie so aufgeregt?
Statt etwas zu erwidern, setzte ich mir die Brille auf und tauchte in absolute Dunkelheit. Es dauerte nicht lange und das Gefühl zu fallen setzte ein. Ich ließ es zu und spürte, wie mein Geist in das Intranet abtauchte.
Wir standen bereits seit einer gefühlten Ewigkeit in der Schlange. Aufgeregtes Gelächter und ausgelassene Gespräche umringten uns. Die Menschen trugen alle diese bestickte Kleidung. Es war faszinierend, dass selbst bei den unbegrenzten Möglichkeiten, die das Intranet bot, das Centro alles daran setzte, die Individualität der Menschen einzuschränken. Trotz der ethnischen Unterschiede verschmolz alles zu einem weiß-goldenen Ganzen. Dennoch fühlte es sich so an, als würden Juli und ich aus der Gruppe herausstechen. Das nervöse Nervenbündel neben mir sorgte zumindest dafür, dass uns die Augen der anderen immer wieder streiften. Die Blicke stachelten meine Unruhe an, die mit jedem Schritt, den wir uns dem Portal näherten, weiter anstieg. Würde ich tatsächlich Gerrit wiedersehen? Ich dachte zurück an den flüchtigen Moment auf dem Flur, wo ich meinte, ihn erkannt zu haben. So sicher ich mir damals gewesen war, so unsicher war ich heute. Was, wenn das alles nur ein ausgeklügelter Plan von Professor Freyer war?
Immer wieder beobachtete ich, wie Leute vor uns in der Schlange daran scheiterten, die Oase zu betreten. Als sie versuchten durch die spiegelnde Membran zu schlüpfen, prallten sie davon ab. Einen kurzen Augenblick glühte der Rahmen, der mich an eine Türzarge erinnerte, rot auf. Ich war mit Joff durch einige dieser Tore gegangen und niemals waren wir zurückgewiesen worden. Hämisches Gelächter erklang, als ein Junge gerade auf Widerstand traf. Er probierte es noch einmal, wurde abermals zurückgestoßen. Ein Mädchen mit langem blonden Haar machte sich lautstark über ihn lustig. Anscheinend fürchtete sie nicht, an dieser Hürde zu scheitern. Als der Junge an uns vorbeilief, war sein Gesicht tiefrot.
»Du musst meine Hand nehmen, wenn du durchgehst, ja? Sonst komme ich nicht rein.« Juli klang kurzatmig, hatte die Hände zu Fäusten geballt. Ob sie wie der Junge schon mal an dem Portal gescheitert war und diese Schmach über sich hatte ergehen lassen? Ich musterte sie von der Seite. Juli sah entschlossen aus. So als wollte sie es dieses Mal wirklich schaffen. Auf einmal verspürte ich Mitleid mit ihr und hoffte, dass meine Befürchtungen sich nicht bestätigen würden. Ich beobachtete die Gruppe Mädchen, zu denen auch die Blonde von vorhin gehörte, wie sie nacheinander hoch erhobenen Hauptes durch die Membran traten. Natürlich stießen sie auf keinen Widerstand. Nur noch drei Leute trennten uns von dem Durchgang. Der Nächste, ein junger Mann, kam ohne Probleme hinein. Der Folgende scheiterte.
»Was stellst du dich überhaupt an?!«, feixte ein Typ, der hinter uns stand, als der Mann mit hochgezogenen Schultern an uns vorbeischlich.
Ich holte tief Luft. Auf einmal erschien mir das alles wie eine vollkommen blöde Idee. Zu spät. Wir waren dran.
»Juli, vielleicht sollten wir …?«
»Macht hin, Mädels!« Die Stimme des Typen hinter uns klang ungeduldig. Juli griff nach meiner Hand. Ihre Augen flackerten vor Aufregung.
»Wird’s bald?!«
Wut kochte in meinem Inneren hoch. Ich fuhr so plötzlich herum, dass der hochgewachsene Dunkelhaarige mich erschrocken anblickte. »Ist ja gut!«
Das Mädchen, das sich an seine Seite schmiegte, kicherte leise. Ich drehte mich um und trat entschlossen in Richtung des Portals. Meine Finger krampften sich fest um Julis Hand. Kurz bevor wir die Membran erreichten, schloss ich die Augen, rechnete mit einem harten Aufprall. Doch wir glitten durch die kühle Oberfläche und stürzten hinab durch undurchdringliches Schwarz.