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Ich wurde von einem leisen Klicken und Schnalzen geweckt. Es waren Worte, auch wenn ich nicht genau verstand, welche. Blinzelnd öffnete ich die Augen. Das Zelt, das uns Unterschlupf gewährte, war geräumig. Einrichtung gab es nicht, abgesehen von den Tüchern, Decken und Teppichen, die den harten Boden bedeckten. Wir lagen alle eng beieinander. Ob aus Gewohnheit oder um die Nachtangst innerhalb des neuen Domizils zu vertreiben, wusste ich nicht.
Ich streckte mich. Einige der Stammesmitglieder unterhielten sich leise. Es waren zwei Frauen, die mich geweckt hatten. Sie saßen ein wenig entfernt, und auch wenn sie sich bemühten, leise zu sprechen, war es in der Klick-Sprache einfach nicht möglich zu flüstern. Sie hießen …
Einen Moment schämte ich mich, dass ich noch immer nicht alle Namen kannte.
»Ich möchte bis auf Weiteres, dass innerhalb dieser Stadt nicht in Jiwa gesprochen wird«, schimpfte eine mir vertraute Stimme. Sofort verstummte das Gespräch der beiden Frauen. Akina hatte die Arme vor der Brust verschränkt, Wut und Enttäuschung sprachen aus ihrem Blick. Sie stand direkt neben uns, schien bereits länger wach zu sein. »Außerdem möchte ich, dass ihr eure Pheromone kontrolliert.«
Ich stand auf. Akina musterte mich angespannt. Als ich am gestrigen Abend im Zelt eingetroffen war, hatte sie mich vollständig ignoriert. Eine Tatsache, die mir nach meinem Gespräch mit Doc entgegenkam. Heute verursachte es mir Magenschmerzen.
»Akina, ich …«
Ruckartig wandte sie mir den Rücken zu und stapfte Richtung Zeltausgang. Ich stieg über ausgestreckte Beine, drängte mich an Leuten vorbei und folgte ihr.
»Warte!«
Akina tat, als hörte sie mich nicht. Gerade als sie den Ausgang erreichte, stieß sie mit einem Jungen zusammen, der schwer beladen das Zelt betreten wollte. »Pass doch auf!«
Zu spät. Der Inhalt des Topfes schwappte vorne über die Kante und tropfte platschend auf den Boden. Akina wich gerade noch rechtzeitig vor dem dampfenden Inhalt zurück.
»Entschuldigung«, stieß sie erschrocken hervor und half dem Jungen, den Behälter auf dem Boden abzustellen.
»Ich bringe euch was zu essen«, sagte er und betrachtete Akina verstimmt. »Doc meinte, ihr wollt euer erstes Frühstück vielleicht unter euch einnehmen.«
Akina verzog den Mund. »Danke.«
Der Junge nickte und verschwand wieder durch den Zelteingang. Ich blickte Akina fragend an. Kurze Zeit nachdem er das Zelt verlassen hatte, kehrte er mit einem Stapel Schalen zurück.
»Ich komme sie nachher wieder abholen«, sagte er, und noch bevor wir uns bedanken konnten, war er verschwunden.
»Der hatte es aber eilig«, sagte ich und lächelte schmal. Doch Akina schnaubte nur genervt und verließ mit großen Schritten das Zelt.
»Ist sie immer noch sauer auf dich?« Lydia blickte mich verschlafen an. Sie war neben mich getreten und bekam beim Blick in den Topf große Augen. »Das riecht köstlich, ich hab einen Wahnsinnshunger.«
»Doc hat es hierherschicken lassen. Hilfst du mir?«, fragte ich und deutete auf den immer noch randvollen Kübel. Lydia nickte und wir trugen den Topf gemeinsam in die Zeltmitte. Es war mir ein Rätsel, wie der Junge ihn allein hatte tragen können.
»Ach, und ja, sie ist noch sauer«, sagte ich, während ich nach der Schöpfkelle griff und die erste Schale befüllte.
»Sie wird sich wieder einkriegen«, erwiderte Lydia, nahm mir die Suppe ab und reichte sie dem Ersten in der Schlange. Der Stamm war inzwischen so an diese Art der Nahrungsausgabe gewöhnt, dass wir gar nichts mehr sagen mussten. Nur dass dieses Gericht sicherlich besser schmeckte, als das, was wir in der Höhle kreiert hatten. Einen Augenblick fragte ich mich, ob Nani noch immer für das Kochen der Mahlzeiten zuständig war. Ich nahm mir vor, sie später zu besuchen.
»Die Frage ist, wann. Akina kann furchtbar stur sein, aber ich muss mit ihr sprechen.«
»Über das, was Doc dir erzählt hat?«
Ich nickte gedankenverloren. Es hatte gut getan, Lydia von Docs Geständnis zu erzählen. »Meinst du, sie versteht überhaupt, was dein Problem bei der Sache ist?«
»Wie meinst du das?« Schale für Schale füllte ich mit dem gemüsehaltigen Eintopf. Lebensmittel schienen genug vorhanden zu sein, wenn ich nach der reichhaltigen Einlage ging.
»Na ja, es fiel ihr ja schon schwer zu begreifen, warum du dich nicht Hals über Kopf in das Centro stürzt. Sie hat dich sogar belogen, damit du dich darauf einlässt. Meinst du, es interessiert sie jetzt noch, was dieser Doc getan hat? Sie wirkt auf mich so, als würde sie alles tun, um ihr Ziel zu erreichen.«
Mir wurde leicht übel bei ihren Worten. »Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.«
Lydia hob beide Augenbrauen. »Nicht?« Sie nahm einen tiefen Schluck aus der Schale, die ich ihr gereicht hatte, und seufzte wohlig. Erst in diesem Moment bemerkte ich, dass alle anderen versorgt waren.
»Nein. Ich verstehe jetzt, was in ihr vorgeht. Sie hat es nicht böse gemeint.«
Lydia schnaubte. »Kay, das ist nicht dein Ernst? Sie hat dich belogen und will dich auf eine Mission schicken, von der es vermutlich keine Rückkehr gibt.«
»Ich weiß. Aber sie will das nicht für sich, sondern weil diese Mission dem ganzen Krieg ein Ende setzen könnte.« Ich stocherte abwesend mit der Kelle in der Suppe herum.
»Also auch wenn ich mich nicht an alles erinnern kann, vertraue ich ja wirklich in dein Können. Aber wie soll allein dadurch, dass du Sektor 1 ausspionierst, der Krieg beendet werden? Das klingt schon ziemlich abwegig, meinst du nicht?« Es war einer der Momente, in denen sie genau wie die Lydia von früher klang.
Ich lächelte. »Das habe ich bis vor Kurzem auch noch gedacht. Aber irgendwie hat sich etwas verändert.«
Lydia ließ die Schüssel sinken. »Was soll das heißen?«
»Ich …«
In diesem Augenblick stürzte Akina in das Zelt. Ohne mich eines Blickes zu würdigen, ging sie an den Topf, nahm mir die Kelle aus der Hand und füllte sich etwas von der Suppe in eine Schale. Dann stürmte sie los und ließ sich in der hintersten Ecke des Zeltes auf den Boden sinken. Allein.
»Das ist echt albern. Du musst jetzt nicht zu ihr gehen, Kay.«
»Doch, muss ich«, sagte ich zerknirscht, zwinkerte ihr zu und stapfte zu Akina. »Können wir reden?«
Sie schnaubte.
»Bitte?«
Ihre Augen wurden schmal. »Ich dachte, du hast gestern alles gesagt, was es zu sagen gibt?«
»Schwachsinn«, murmelte ich und drängte meine Wut zurück. Ein weiterer Streit war das Letzte, was wir jetzt gebrauchen konnten. Ohne auf ihre Antwort zu warten, setzte ich mich ihr gegenüber auf den Boden.
Sie seufzte. »Wenn es sein muss. Aber ich sage dir gleich, dass sich mein Standpunkt nicht geändert hat.«
Ich verkniff mir einen bissigen Kommentar und nickte stattdessen. Während ich meine Beine zu einem Schneidersitz kreuzte, überlegte ich, womit ich anfangen sollte.
»Ich habe nachgedacht«, begann ich und machte eine längere Pause, bevor ich weitersprach. »Vielleicht hattest du recht und ich sollte die Möglichkeit nutzen, ins Centro zu gehen.«
Erst sah sie mich einen Augenblick verunsichert an, und als ich nichts sagte, um meine Worte zurückzunehmen, wandelte sich ihr Gesichtsausdruck. »Ich wusste, dass du es verstehen würdest!«, sagte sie und strahlte.
Ich runzelte die Stirn. »Was verstehen?«
»Na, dass dies unsere einzige Möglichkeit ist, den Wunsch von Vater zu erfüllen. Das ist jedes Opfer wert.« In ihren Augen glänzte Freude.
Mein Mund fühlte sich trocken an. Jedes Opfer wert … Die Worte hallten durch meinen Kopf und sorgten für einen stechenden Kopfschmerz. Warum sprach Akina so leichtfertig davon, dass ich mit diesem Auftrag mein Leben riskierte? Erschrocken blickte sie mich an. Schien jetzt erst zu verstehen, wie ihre Worte geklungen haben mussten.
»Kay, so meinte ich das nicht. Ich glaube nur …« Sie stieß einen frustrierten Laut aus, der wie eine Mischung aus Schnauben und Seufzen klang. »Ich wünschte, ich könnte da selbst reingehen. Doch ich würde da drinnen auffallen wie ein Schlinger in unserem Stammesdorf.« Sie deutete auf ihren mit blauen Zeichnungen tätowierten Körper. Ich hatte weiterhin nur die drei kleinen Striche auf meinem Handrücken, die mich als eine von ihnen auszeichneten. Das genügte mir. »Als Doc mir den Vorschlag unterbreitete, dass sie dich da reinbringen könnten, war ich so euphorisch, dass ich einfach zugesagt habe. Erst danach habe ich gemerkt, wie unfair das dir gegenüber war.«
In ihrer Mimik spiegelte sich Reue wider. »Und dann dachte ich, dass wir ja ohnehin dasselbe Ziel verfolgen und du sicherlich genauso begeistert wärst wie ich. Als du dann gestern angefangen hast, das alles zu kritisieren, war ich so enttäuscht und auch wütend auf mich selbst. Ich habe die Gefahren nicht bedacht und wäre blind drauflosgestürzt.«
Ich atmete tief durch. »Vielleicht habe ich auch ein wenig überzogen reagiert. Wenn man etwas erreichen will, muss man ein Risiko eingehen. Früher habe ich mich davor nicht so gescheut. Seit dem Angriff …«, sagte ich und spürte, wie mein Herz bei dem Gedanken erkaltete.
»Wir alle haben wegen der Ereignisse eine schwere Last mit uns zu tragen.« Sie griff nach meiner Hand und drückte sie kurz, aber bestimmt. Eine Weile saßen wir so da. Akina verströmte wieder diesen heimeligen Geruch, der mich daran erinnerte, warum ich im Stamm zu Hause war. Der bittere Gestank der Wut war verschwunden.
Plötzlich lachte sie leise.
Ich blickte auf. »Was?«
»Damals, kurz nach meiner Wandlung, trainierte ich mit Kandras. Wir gingen auf die Jagd und schärften so meine Instinkte. Ich war so konzentriert, dass ich nicht bemerkte, wie sich uns ein Lormit näherte. Er hatte mich vollkommen überrumpelt.« Akina schob ihren kurzen Leinenrock etwas nach oben und entblößte eine etwa zehn Zentimeter lange Narbe an der Außenseite ihres Oberschenkels. Sie war mir vorher noch nie aufgefallen. »Er hat mich erwischt, und Kandras hat mir das Leben gerettet. Auch wenn ich stark geblutet habe, überlebte ich den Angriff. Ein paar Wochen später wollte Kandras, dass ich wieder mit ihm auf die Jagd ging. Ich weigerte mich, hatte wahnsinnige Angst. Er sagte daraufhin zu mir: Wenn man der Angst nicht stets ins Auge blickt, wird sie einem über kurz oder lang das Leben nehmen. Doch ich kann wohl recht stur sein. Kandras musste mich beinahe an den Haaren in die Tiefen des Dschungels schleifen. Je mehr ich mich wehrte, umso hartnäckiger wurde er. Schließlich waren wir sehr weit ab vom Stamm. Irgendetwas sagte mir, dass es nicht mehr bloß um die Jagd ging.«
»Sondern?«
Akina grinste. Es wirkte ein wenig zerknirscht. »Erst als es dunkel wurde, hat er mich losgelassen. Wir befanden uns mitten im Nirgendwo und ich fürchtete bereits, vor Angst sterben zu müssen. Ich habe Kandras angefleht zurückzukehren, doch er hat mich nur angesehen und gesagt: ›Du wirst die Nacht allein hier verbringen und erst in den Morgenstunden will ich dich im Lager wiedersehen. Ansonsten werde ich deine Ausbildung zur Kriegerin abbrechen.‹«
Ich blickte Akina erstaunt an, doch sie grinste noch immer.
»Ich habe ihn dafür gehasst. Habe geflucht und geschrien und war kurz davor, selbst meine Ausbildung abzubrechen, obwohl ich bis zu dem Vorfall nichts anderes wollte als das.«
»Er ist wirklich nicht bei dir geblieben?«
Akina lachte leise. »In diesem Moment wirkte es tatsächlich so, als hätte er mich allein zurückgelassen. Anfänglich bin ich ihm noch gefolgt, doch meine Verletzung war noch nicht vollständig verheilt. Kurz: Er war einfach zu schnell für mich. Später habe ich erfahren, dass er nie weit entfernt war und mich stets im Auge hatte. Doch damals war ich der festen Überzeugung, dass niemand bei mir war.«
»Klingt nach einer tollen Nacht«, murmelte ich und blickte sie halb amüsiert, halb mitleidig an.
»Ja, allerdings. Ich übertreibe wahrscheinlich, aber es war wirklich mit die schlimmste Nacht meines Lebens.«
»Was ist denn passiert?«
»Nichts.« Sie lachte. »Nein, das klingt jetzt seltsam, aber es ist tatsächlich nichts passiert. Kein Angriff, kein Kampf. Nur unheimliche Geräusche und Dunkelheit. Doch weißt du, warum es so schlimm war?«
Ich schüttelte den Kopf, betrachtete sie zweifelnd.
»Weil mir klar wurde, dass die Angst selbst viel schlimmer ist als jede Bedrohung, jeder Feind, jedes Monster und jeder, der deinen Tod will. Bis ich das begriffen habe, hat meine Fantasie viel schlimmere Bilder gemalt, als sie mir in der Realität jemals hätten begegnen können. Erst mit diesem Bewusstsein kam mir alles, was vorher war, auf einmal unbedeutend vor.« Sie runzelte die Stirn und blickte unbestimmt zur Zeltdecke. »Weißt du, ich meine, es gibt diesen einen Moment, wo das passiert, wovor du dich gefürchtet hast, und auf einmal ist alles nicht mehr so schlimm. Es ist die Zeit davor, die dich vor Angst halb wahnsinnig werden lässt.«
Ich musste grinsen.
»Was?!« Sie lachte, blickte verschämt zu Boden.
»Das hätte Kandras nicht besser ausdrücken können.«
Akina strahlte mich an. Erst jetzt merkte ich, dass sie noch immer meine Hand hielt. Als sie mich losließ, fühlte sich meine Handfläche leicht feucht an.
»Was ich damit eigentlich sagen will, ist, dass wenn Kandras mich damals nicht dazu genötigt hätte, mich meinen Ängsten zu stellen, ich niemals eine Kriegerin geworden wäre. Vielleicht brauchtest du nun mich, um dich zu deinem Glück zu zwingen. Und ich hoffe, du weißt, dass ich, genau wie Kandras damals, es nicht böse meine.«
Ich atmete tief durch. »Es sind mehrere Gründe, die mich zu dem Entschluss bewegt haben, ins Centro zurückzukehren. Aber einer ist auch, dass ich nun verstehe, warum du das getan hast. Du wolltest mir nicht schaden, das weiß ich.«
Sie stellte die Schale mit der erkalteten Suppe beiseite, lehnte sich nach vorne und umarmte mich. Als wir uns wieder voneinander lösten, lächelten wir uns an.
»Ich möchte, dass du dabei bist, wenn ich Doc meine Entscheidung verkünde«, sagte ich.
Akina nickte. »Natürlich.«
»Ich will auch mitkommen.«
Wir beide blickten überrascht hoch. Lydia hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Offener Zweifel stand in ihrem Gesicht. Wie lange hatte sie uns zugehört?
»Ihr habt gesagt, Doc kann mir mit diesen Minibot-Dingern helfen. Ich will mit ihm reden.«
»Es gibt Wichtigeres, als – «, fauchte Akina, doch ich unterbrach sie.
»Natürlich, darüber wollte ich ohnehin mit ihm sprechen.«
Die beiden Frauen funkelten sich wütend an. Wieso hatte ich bloß den Gedanken gehegt, die beiden würden sich gut verstehen?
Ich erhob mich. »Dann lasst uns gleich gehen.«