***

 

 

 

Obwohl ich dagegen ankämpfte, sammelten sich Tränen in meinen Augen. Gereizt wischte ich sie weg. Starrte auf den Bildschirm. Ein blinkender Text wies mich darauf hin, dass ich die gewünschte Datei antippen und anschließend die Intranet-Übertragungseinrichtung aufsetzen sollte. Außerdem lief in der linken unteren Bildecke ein Countdown rückwärts. Er zeigte sieben Minuten und vierunddreißig Sekunden an. Viel zu wenig. Ich überflog die Dateinamen.

Besprechung Sek1dQuartal1-1

Besprechung Sek1dQuartal1-2

Besprechung Sek1dQuartal1-3

Die Reihe setzte sich fort bis Quartal 4, Nummer 324. Ich seufzte. Wie sollte ich in dieser kurzen Zeit die richtige Datei herauspicken? Was hatte sich Gerrit dabei gedacht? Die Zeit auf dem Bildschirm lief unerbittlich weiter. Einige der Titel waren zusätzlich mit einem Ausrufungszeichen versehen. Ich tippte auf die erste Datei mit dieser Besonderheit und griff nach der Intranet-Brille. Nachdem ich sie aufgesetzt hatte, empfand ich das bekannte Gefühl, in die Tiefe zu stürzen. Als ich ankam, befand ich mich in keiner der Hauptsammelstellen, sondern mitten im Geschehen. Ich erstarrte, schnappte nach Luft. Professor Freyer saß an einem Tisch, blickte mich mit seinem Raubtiergrinsen an, die Fingerspitzen gegeneinandergedrückt. Ich stolperte rückwärts. Er war nicht der Einzige. Weiß bekittelte Menschen umgaben die Tafel, schauten mich jedoch nicht an. Bei genauerem Hinsehen schien auch Professor Freyer durch mich hindurchzusehen.

»Sind wir denn alle vollständig?« Eine dunkelhäutige Frau stand am Ende der Tafel. Professor Freyer wandte den Blick von mir ab, sah sie mit demselben Ausdruck an, mit dem er mich gemustert hatte, als er mir das Überwachungsvideo gezeigt hatte.

»Schon seit einer halben Stunde. Meine Zeit ist kostbar, wie Sie wissen, Professor Denver.«

Ihre Lippen wurden schmal. »Ich weiß, Freyer. Und glauben Sie mir, dass ich diese Sitzung nicht grundlos einberufen habe.« Sie stützte sich vornüber auf dem Tisch ab, blickte jeden eindringlich an. »Meine Damen und Herren, ich muss mit Ihnen über etwas Wichtiges sprechen, was uns alle angeht. Vermutlich unser aller Überleben betrifft.«

Mehrere der Anwesenden atmeten erschrocken auf.

Professor Freyer schmunzelte. »Meinen Sie nicht, dass Sie ein wenig übertreiben, Professor Denver? Ich denke, dies ist nicht die richtige Zeit zum Überdramatisieren.«

Die Frau schnaufte und taxierte Freyer.

Ein glatzköpfiger Mann richtete sich in seinem Drehstuhl auf. »Freyer, halten Sie die Klappe … Was soll das heißen, Miranda?«

»Genau das, was du befürchtest, Steven.« Sie schnippte einmal und hinter ihr leuchtete im blanken Weiß ein Bildschirm auf. Das Licht wurde automatisch gedimmt. Ich starrte die glühende Kugel an. Sie strahlte in Gold, Rot, Orange und Gelb. Ihre Oberfläche war in ständiger Bewegung. Glühende Funkenstränge peitschten wild über die Rundung. Es war bizarr und zeitgleich wunderschön.

»Die Eruptionen auf der Sonne haben in den letzten Wochen drastische Ausmaße angenommen. Die Durchschnittstemperatur auf unserem Planeten ist bereits um vier Grad gestiegen und wir rechnen innerhalb der nächsten Monate mit weiteren Veränderungen dieser Art. Die Sonnenklappen in den Ernteanlagen nehmen bereits Schaden. Wir mussten die Gewächshäuser 3 und 4 aufgeben. Die Eruptionen haben alles zerstört.«

»Aber das kann nicht sein.« Die Stimme einer Frau mit blonden, langen Haaren klang leicht schrill. »Wir haben doch alles überprüft. Die Eruptionen sollten abnehmen.«

Professor Denver verdrehte die Augen. »Bleiben Sie ruhig, Meredith, noch ist nicht der schlimmste Fall eingetreten. Dennoch haben wir uns geirrt, was den Rückgang anbetrifft. Es muss mit der Anziehung des Planeten zusammenhängen. Wir haben die Wirkung der atmosphärischen Veränderungen nicht richtig …«

»Doch, das haben wir!« Die blonde Kittelträgerin war aufgesprungen. Professor Freyer erhob sich ebenfalls, legte seine rechte Hand auf ihre Schulter. Sie zuckte zusammen. Ganz langsam setzte sie sich wieder.

Professor Denver seufzte. »Noch wissen wir nichts Genaues. Es ist bisher eine kurzfristige Beobachtung. Vielleicht bestätigen sich unsere Befürchtungen nicht und die Anomalien auf der Sonnenoberfläche gehen zurück. «

»Und für eine kurzfristige Beobachtung lassen Sie uns mitten in der Nacht auflaufen und versetzen das blonde Vögelchen hier in Aufruhr?«, fragte Professor Freyer, er stand noch immer hinter Meredith, die sich jetzt nervös durchs Haar fuhr.

Die Lippen von Denver kräuselten sich. »Ich halte es durchaus für eine akute Bedrohung, aber es ist keinesfalls ein Grund, in Panik auszubrechen. Wir sollten den Verlauf im Auge behalten.«

»Wenn die Sonneneruptionen zunehmen, hat das unmittelbaren Einfluss auf Temperaturen und Atmosphäre. Auf der Oberfläche des Planeten wäre entgegen der langfristigen Prognosen kein Leben mehr möglich«, sagte der Glatzkopf nüchtern.

»Was du nicht sagst, Mortimer! Da wäre keiner von uns drauf gekommen!«, brachte Meredith mit zitternder Stimme hervor.

»Herrgott, Meredith! Reißen Sie sich jetzt zusammen?!«

Die Blonde erzitterte heftig, schwieg jedoch unter dem strengen Blick von Professor Denver.

Dann wandte sich die Leiterin wieder an die übrigen Anwesenden. »Ich möchte Sie alle bitten, sich an den Forschungen, was dieses Problem angeht, zu beteiligen. Wir treffen uns in wenigen Wochen wieder zu einer Sondersitzung, um unsere Untersuchungsergebnisse abzustimmen und eventuelle Lösungsansätze zu besprechen.« Professor Denver lächelte und schnippte abermals. Der Bildschirm, auf dem noch immer goldene Peitschenschläge über die Sonnenoberfläche knallten, erlosch und das Licht wurde wieder heller.

»Weitere Instruktionen erhalten Sie über das Kurznachrichtensystem. Ich muss nicht hinzufügen, dass alles, was ich Ihnen gesagt habe, absoluter Verschwiegenheit obliegt.« Mit diesen Worten verließ sie den Raum. Die anderen erhoben sich zögerlich, und in diesem Moment wurde ich aus dieser Sequenz gerissen. Es kam so plötzlich wie ein Sog, der mich rücklings mit sich zog. Ich schnappte nach Luft, riss mir die Brille vom Kopf. Ich war wieder in dem kleinen Raum, in dem Gerrit mich zurückgelassen hatte. Atmete schwer, während ich versuchte, die Informationen, die ich gerade erhalten hatte, zu sortieren. Wie hypnotisiert blickte ich auf die Anzeige.

3 Minuten und fünfundzwanzig Sekunden

Vierundzwanzig

Dreiundzwanzig

Einundzwanzig

Ich schüttelte den Kopf, um mich aufs Hier und Jetzt zu konzentrieren. Vielleicht schaffte ich noch einen Rückblick? Bekam ein weiteres Puzzleteil? Ich wählte eine der letzten Besprechungen aus, die mit einem Ausrufungszeichen versehen war. Ein letzter Blick auf die Anzeige: 3 Minuten und fünf Sekunden. Eilig setzte ich die Brille auf.

Der Konferenzraum war derselbe wie beim ersten Mal. Nun war der Tisch nicht leer, sondern mit Zetteln überhäuft.

»Meredith, wie sieht es aus?«, fragte Professor Denver, die wieder am Kopf der Tafel stand. Allen war die Nervosität anzusehen, selbst Professor Freyer war das Grinsen aus dem Gesicht gewischt. Er wirkte geschäftig, als er durch eine beigefarbene Mappe blätterte.

»Ich …« Die Blonde zitterte. Rote Stressflecken hatten sich auf ihrer Haut gebildet.

»Ruhig. Atmen Sie tief und gleichmäßig.«

Meredith tat einen japsenden Atemzug. »Ich habe die neusten Ergebnisse aus der Klimaüberwachung.« Sie wimmerte, was den Glatzkopf dazu bewegte, demonstrativ die Augen zu verdrehen.

»Ich nehme an, die Ergebnisse waren nicht besonders positiv«, sagte er entnervt.

Sie schüttelte den Kopf.

»Dann werden wir unser Hauptaugenmerk auf die Evakuierung legen. Professor Freyer? Was machen die Vorkehrungen?«

Freyer räusperte sich. »Wie bereits angekündigt können wir nur einen Teil der Bevölkerung evakuieren. Bisher besteht die Möglichkeit, Sektor 1d bis 1b zu retten. Die restlichen Sektoren müssen wir außer Acht lassen.«

Auf der Stirn der Dunkelhäutigen bildeten sich tiefe Falten. »Ist die Führung über diese Vorgänge informiert?«

»Ich arbeite direkt mit der Führungsriege zusammen«, sagte Freyer und seine Lippen enthüllten das Raubtiergrinsen.

»Natürlich«, entgegnete Denver. Sie klang angespannt. »Meredith, geben Sie mir die Daten, wenn Sie schon nicht in der Lage sind, sie selbst vorzutragen.« Sie entriss der Blonden den Stapel, las konzentriert. »Die Lufttemperatur ist besorgniserregend. Wie sieht es innerhalb der Sektoren aus?« Sie blickte den Glatzkopf an, der sich daraufhin räusperte.

»Nun, in Sektor 1 haben wir bisher keinerlei Probleme, den Temperaturanstieg innerhalb des Berges mit unserer Klimaregulation auszugleichen. In Sektor 2 verzeichnen wir eine Erhöhung um zehn Grad, was die Kühlsysteme in den Laboren auf eine harte Probe stellt.«

»Ich schlage vor, wir brechen den Kontakt zu Sektor 2 endgültig ab«, schaltete sich nun eine Schwarzhaarige ein, die sich bisher noch nicht geäußert hatte.

Professor Denver schüttelte den Kopf. »Das würde Slotan nicht zulassen. Wir wissen alle um ihre besonderen Beziehungen zur Führungsriege. Ich will nicht in Sektor 2 landen, nur weil sie ein paar Strippen zieht.«

Zustimmendes Gemurmel erklang.

»Zumindest ist es noch nicht an der Zeit, übereilte Entscheidungen zu treffen. Für Sektor 2 gilt weiterhin, dass wir alles im Griff haben. Fahren Sie fort, Professor Parkland.«

Der Glatzköpfige nickte wieder. »In den unteren Forschungssektoren haben wir keinerlei Kühlsysteme, was bedeutet, dass die Temperaturen auf schätzungsweise dreißig Grad angestiegen sind. Die Temperaturkurve zeigt, dass wir ab jetzt täglich mit weiteren Steigerungen rechnen müssen. Mehr wissen wir nicht, da Sektor 4 in Jordans Hand liegt. Nach und nach deaktivieren seine Leute alle unsere Kameras, nur noch einige wenige erlauben uns Einblicke.« Er schnippte mit den Fingern und es geschah dasselbe wie in der letzten Aufzeichnung: Der Raum wurde dunkler und Bilder flackerten über den Flatscreen. Dieses Mal waren es offensichtlich Aufzeichnungen von einer an der Decke angebrachten Kamera. Man blickte hinab auf einen schmalen Flur, den ich als einen aus Sektor 4 wiederzuerkennen meinte. Menschen mit panikgeweiteten Augen schoben sich über den schmalen Korridor. Es gab keinen Ton, aber ihre aufgerissenen Münder gaben Aufschluss über die Schreie. Sie waren schmutzig, verschwitzt und einige hatten blutige Verletzungen im Bereich des Gesichtes. Immer wieder erkannte ich Gardisten zwischen ihnen, die sie mit Waffen in der Hand über den Gang trieben.

»Danke, Professor Parkland, ich denke, wir haben genug gesehen.«

Der Glatzkopf schnippte abermals und die furchtbaren Bilder verschwanden. Meredith, die zartbesaitete Blonde, sog japsend Luft ein.

»Über Sektor 3 fehlen uns derzeit nähere Informationen. Die Kinder sind auf jeden Fall bereits in Sektor 1 evakuiert, das Lehrpersonal konnten wir nur teilweise retten, was auch an den eingeschränkten Kompetenzen liegt. Einen reinen Sektor-3-Kandidat dürfen wir laut Führung nicht in Sektor 1 überführen, unabhängig von der aktuellen Lage. Einzige Ausnahme bilden die Kinder bis zum zwölften Lebensjahr.« Mit diesen Worten nickte der Glatzköpfige zufrieden und schwieg.

»Damit können wir die unteren Sektoren abschreiben«, sagte die Schwarzhaarige kühl.

Professor Denver nickte. »Solange es Jordan nicht gelingt, in Sektor 1 einzudringen, bereitet der Krieg mir keine Sorgen. Unser Hauptaugenmerk sollte im Moment ohnehin darauf liegen, die Evakuierung voranzutreiben. Was können Sie dahingehend berichten, Freyer?«

»In wenigen Tagen ist alles bereit. Die ausgewählten Sektoren werden per Kurzmitteilung informiert und versammeln sich am Stichtag in Kuppel 3. Wir rechnen mit massiven Aufständen, insbesondere was das eben schon erwähnte Lehrpersonal aus Niedersektor 3 angeht. Wenn dieser nicht bereits von Jordan überrannt wurde.«

»Kann Jordan gefährlich werden, was die Evakuierung anbetrifft?«

Professor Freyers Lippen wurden schmal. »Ich kann vieles, aber nicht in die Zukunft sehen. Wenn wir Glück haben, sind wir schnell genug, dann bleibt er zurück und verbrennt mit dem gesamten Rest des Pöbels. Wenn nicht«, Freyer stieß zischend Luft aus, »dann werden meine Grenzwächter alle Hände voll zu tun haben. Ich werde sie in jedem Fall geballt an den Eingängen zur Kuppel und im Innenbereich aufstellen.«

Professor Denver wischte sich über die Stirn. »Was ist mit dem Mädchen, das aufgegriffen wurde? Diese Georgina? Hatte sie nützliche Informationen über Jordan?«

»Nein. Aber ich bin dran und der festen Überzeugung, dass sie mehr weiß, als sie vorgibt. Wir werden …«

In diesem Augenblick wurde alles schwarz und ich wurde grob aus der Aufzeichnung gezerrt. Ich riss mir die Brille von den Augen. Der Bildschirm war leer, die Zeit abgelaufen. Panik stieg in mir auf. Mit zittrigen Knien kam ich auf die Beine und versuchte die Informationsflut in meinem Kopf zurückzudrängen. Das alles … war zu viel. Kalter Schweiß trat mir auf die Stirn. In diesem Moment setzte ein schriller Alarm ein, die weiße Beleuchtung des Raumes färbte sich rot. Keine Zeit. Ich ließ die Intranet-Brille fallen und fuhr herum. Wenn ich nicht auf der Stelle von hier verschwand, würde niemand erfahren, was ich gerade gesehen hatte.

Centro 03 - Das Ende
titlepage.xhtml
part0000_split_000.html
part0000_split_001.html
part0000_split_002.html
part0000_split_003.html
part0000_split_004.html
part0000_split_005.html
part0000_split_006.html
part0000_split_007.html
part0000_split_008.html
part0000_split_009.html
part0000_split_010.html
part0000_split_011.html
part0000_split_012.html
part0000_split_013.html
part0000_split_014.html
part0000_split_015.html
part0000_split_016.html
part0000_split_017.html
part0000_split_018.html
part0000_split_019.html
part0000_split_020.html
part0000_split_021.html
part0000_split_022.html
part0000_split_023.html
part0000_split_024.html
part0000_split_025.html
part0000_split_026.html
part0000_split_027.html
part0000_split_028.html
part0000_split_029.html
part0000_split_030.html
part0000_split_031.html
part0000_split_032.html
part0000_split_033.html
part0000_split_034.html
part0000_split_035.html
part0000_split_036.html
part0000_split_037.html
part0000_split_038.html
part0000_split_039.html
part0000_split_040.html
part0000_split_041.html
part0000_split_042.html
part0000_split_043.html
part0000_split_044.html
part0000_split_045.html
part0000_split_046.html
part0000_split_047.html
part0000_split_048.html
part0000_split_049.html
part0000_split_050.html
part0000_split_051.html
part0000_split_052.html
part0000_split_053.html
part0000_split_054.html
part0000_split_055.html
part0000_split_056.html
part0000_split_057.html
part0000_split_058.html
part0000_split_059.html
part0000_split_060.html
part0000_split_061.html
part0000_split_062.html
part0000_split_063.html
part0000_split_064.html
part0000_split_065.html
part0000_split_066.html
part0000_split_067.html
part0000_split_068.html