***

 

 

 

»Bist du bereit?«, rief Akina gegen das Rauschen des Flusses an.

Ich ballte die Hände zu Fäusten, um das Zittern zu unterbinden. Mein Puls hämmerte durch meinen Körper. War ich bereit?

Vor uns, direkt hinter dem Eingang zur Höhle, strömte der Wildlauf über den Boden. Wie ein Wasserfall rauschte das Nass aus einer Öffnung in der Decke in den Flusslauf. Kleine Schaumkronen tanzten über die seichten Wellen, die zu meiner Rechten durch gezackten Fels ins unbekannte Dunkel verschwanden. Ich kannte diesen Ort gut, viel zu gut. Er weckte Erinnerungen an eine Zeit, die ich lange verdrängt hatte. Das schlechte Gewissen, die Menschen, die dort unten lebten, einfach im Stich gelassen zu haben, schnürte mir die Kehle zu. Und so nickte ich nur knapp in Akinas Richtung. Mitgefühl huschte über ihr Gesicht. Sie ging in die Hocke und hob ein paar Steine auf. Erst auf den zweiten Blick erkannte man den Seilzug hinter dem Wasserfall. Er verschwand in einem kleinen Loch, das leicht erhöht auf einer Plattform den Stein durchbrach. Akina zielte auf die metallene Vorrichtung und warf den ersten Stein. Er prallte an der Felswand ab und landete im Wasser. Dieser Vorgang wiederholte sich weitere zwei Male. Akina fluchte leise. Mit ruckartigen Bewegungen sammelte sie eine weitere Handvoll Steine auf.

»Soll ich dir helfen?«, fragte ich vorsichtig.

»Nein, ich schaff das schon!«, entgegnete Akina gereizt.

Und tatsächlich traf ihr vierter Versuch das Metall und provozierte einen klirrenden Laut. Ich hielt die Luft an, lauschte. Eine Zeit lang geschah nichts, doch dann setzte sich der Seilzug in Bewegung. Akina und ich lächelten uns an. Die Metallplatte, die links oben angebracht war, schloss sich Stück für Stück, und der Wasserfall versiegte. Da keine neuen Wassermassen in die Höhle drangen und der Strom stetig nach rechts abfloss, leerte sich das Flussbett allmählich. Wenige Minuten später blieben bloß noch kleine Pfützen in den Vertiefungen. In der Mitte des Raumes erkannte ich eine metallene Luke im Boden, den Eingang zur Kristallstadt. Ich wollte gerade in das leere Flussbett treten, als Akina mich mit einem Arm zurückhielt.

»Warte«, sagte sie mit ernster Miene. »Seit du das letzte Mal hier warst, hat sich einiges verändert.«

Ich sah sie irritiert an, schwieg jedoch. Ungeduldig starrte ich auf die Lukentür. Als sie schließlich entriegelte, zuckte ich zusammen. Langsam wurde die Tür geöffnet, sodass die Wasserreste, die sich darauf gesammelt hatten, teilweise nach oben gedrückt wurden, teilweise nach unten abflossen. Ein Junge, den ich nicht kannte, streckte den Kopf heraus und beäugte uns.

»Ich bin Akina, Doc erwartet mich.«

Der Junge zögerte einen Moment, bis er schließlich nickte. Er kramte ein Seil hervor und warf es zu Akina hinüber, die offensichtlich schon damit gerechnet hatte und es auffing. Die beiden spannten es und legten es stramm auf dem Boden ab. Von der Luke bis zu uns bildete es eine gerade Linie. Der Junge nickte und sein Kopf verschwand wieder in dem kreisrunden Loch.

Akina drehte sich um. Der Stamm stand dicht gedrängt hinter uns im Tunnel. »Hier liegt ein Seil, ich möchte, dass ihr einer nach dem anderen in die Höhle tretet und ausschließlich auf der linken Seite daran entlanglauft! Hört ihr?! Das ist sehr wichtig! Nacheinander und auf der linken Seite!«

Zustimmendes Gemurmel erklang. Akina seufzte und wandte sich an Lydia. Widerwillen stand in ihrem Blick. »Würdest du hier stehen und darauf achten, dass sie sich daran halten?«

Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen, und auch in Lydias Augen blitzte Freude auf.

»Klar«

»Gut.« Akina reckte den Hals und überblickte die Stammesmitglieder. »Lydia wird dafür sorgen, dass ihr heil an der Öffnung ankommt, hört auf sie.«

Nun richteten sich die ängstlichen Augenpaare auf die Dunkelhäutige. Akina öffnete den Mund, schloss ihn sofort wieder und tauschte einen letzten Blick mit mir. Ich nickte ihr aufmunternd zu und sie trat in das Flussbett. Genau wie sie es eben erklärt hatte, lief sie linksseitig nah an dem Seil entlang und erreichte schließlich die Bodenluke. Bevor sie hinabstieg, winkte sie mich zu sich. Lediglich ihr Oberkörper ragte noch aus dem Loch. Während ich durch die Höhle schritt, betrachtete ich eingehend den umliegenden Boden. Was war es, das Akina so nervös machte? Ich roch deutlich ihre Sorge.

»Alles okay?«

Statt zu antworten, schüttelte Akina nur den Kopf und deutete nach unten. Dann stieg sie hinab. Jetzt trennten mich nur noch wenige Schritte von meiner Vergangenheit. Ich schaute zu Lydia. Ein mitfühlendes Lächeln zuckte um ihre Lippen. Hinter ihr vernahm ich die aufgeregten Stimmen der anderen. Ich holte tief Luft, kletterte in das Innere des Schachts und stieg hinab in die Tiefe.

 

Mein Mund stand leicht offen, mein Herz polterte fest gegen die Rippen. Was ich sah, raubte mir den Atem und machte mich sprachlos. Das kleine Kristalldorf, das ich zurückgelassen hatte, glich dem hier nur entfernt. Damals waren es noch zwanzig, höchstens dreißig Zelte gewesen. Inzwischen war die gesamte Höhle ausgefüllt, sodass ich von der Erhöhung am Leiterabstieg auf ein Meer aus bunten Zelten schaute. Ein stetiges Raunen ging von der Kristallstadt aus, die nun vollständig vom Licht der Coals erhellt wurde. Es roch nach Mensch und Gekochtem. Ich war beeindruckt. Einzig um den Platz unter dem Leiterabstieg hatten sie eine freie Fläche gelassen. Nach und nach kamen die Jiwa zu uns herunter.

»Du hast dein Versprechen gehalten und sie mitgebracht.«

Wir fuhren herum. Als ich ihn sah, bildete sich ein massiver Knoten in meiner Magengegend. Er hatte sich nicht verändert. Doch wie sollte er? Es war gerade mal drei Monate her, dass wir uns zum letzten Mal gesehen hatten. Oder täuschte ich mich? Seitdem ich mit Marcie aus dem Centro geflohen war, verrann die Zeit wie Sand zwischen meinen Fingern.

Docs Augen weiteten sich, als er mich anblickte. »Du hast dich verändert.« Bewundernd wanderte sein Blick über meinen Körper und blieb schließlich an meinem Gesicht hängen. »Du bist wahrlich perfekt.«

»Ich …«, setzte ich an, brach jedoch ab. Doc fing sich derweil wieder und grinste mich breit an. »Und immer noch dasselbe bescheidene Mädchen.« Er umarmte mich so fest, dass mir kurz die Luft ausblieb. »Kay, ich bin so froh, dass du wieder da bist.«

Ich spürte, wie mir Tränen in die Augen stiegen; teilweise aus Freude, teilweise aus Erleichterung darüber, dass Doc nicht wütend auf mich war.

»Nachdem Gerrit nicht wiederkam, musste ich die Suche nach dir aufgeben.« Die Worte fraßen sich in meine Seele und hinterließen eine brennende Spur in meinem Inneren.

»Was?«, murmelte ich, in seiner Umarmung erstarrt.

Doc schob mich sanft von sich. Sein Gesicht war schmerzverzerrt, was meinem Herzen einen weiteren Stich versetzte. »Gerrit ist von der Suche nach dir niemals zurückgekehrt. Er und Candis sind seither spurlos verschwunden.«

Ich stieß einen keuchenden Laut aus und beobachtete Doc dabei, wie er sich die Brille auf der Nase zurechtrückte.

»Ich habe mehrere Suchtrupps ausgeschickt, glaub mir, Kay. Aber sie kamen entweder gar nicht oder mit leeren Händen wieder. Inzwischen gehen wir davon aus, dass sie in der Felsenstadt gefangen gehalten werden oder dass sie …« Doc verstummte, hüstelte. »Aber daran dürfen wir gar nicht denken.«

Ich schluckte hart. Meine Zunge klebte an meinem Gaumen.

»Lass uns das alles in Ruhe besprechen. Du bist kaum angekommen und ich überfalle dich mit so schlechten Neuigkeiten.« Doc seufzte und drückte mich abermals kurz an sich.

Mein Körper fühlte sich taub an, als ich nickte. Dass Gerrit eventuell … tot … Nein! Mein Herz schlug unregelmäßig und holpernd. Ich bekam nur noch schwer Luft. Wollte das Schicksal mir einen Streich spielen? Lydia kehrte zurück und dafür musste Gerrit verschwinden?

»Kay.« Ich hob den Blick. Docs Lächeln wirkte angestrengt. »Ich habe nicht nur schlechte Neuigkeiten für dich.«

Ich versuchte mich an einem Lächeln, verspürte jedoch nur ein widerwilliges Zucken meiner Mundwinkel. Doc streichelte mir über die Schulter.

Plötzlich erregte lautes Stimmengewirr meine Aufmerksamkeit und erinnerte mich daran, dass wir nicht allein waren. Als ich mich umdrehte, bot sich mir ein seltsames Bild. Unmittelbar vor der Leiter drängten sich die Stammesmitglieder auf höchstens acht Quadratmetern zusammen. Ihre Gesichter waren von Panik gezeichnet. Genau wie Lydia unterschieden auch sie sich in der Hautfarbe von den recht blassen Kristallstadtbewohnern. Zwar waren sie nicht ganz so dunkel wie meine Freundin, doch die auffälligen Tätowierungen, die ihren gesamten Körper zierten, erregten deutlich Aufsehen. Hinzu kamen die knappe Bekleidung, die teilweise nur aus verwobenen Pflanzenteilen bestand, und die nackten Füße. Einige neugierige Kristallstädter waren inzwischen stehen geblieben und tuschelten in kleinen Gruppen miteinander. Wenn ich sie so nebeneinander sah, musste ich mir eingestehen, dass die Jiwa beinahe ein wenig primitiv wirkten. Lydia stand etwas abseits, die Arme vor der Brust verschränkt. Immer mehr Leute schoben sich an uns vorbei und reckten die Hälse. Eines der Kinder schrie auf und suchte die Nähe seiner Mutter, als sich ein kleiner Junge aus der Kristallstadt näherte. Jemand neben mir seufzte. Akina. Auch sie spürte sicherlich bereits, wie die Pheromone durch die Luft waberten. Der Blick einiger Anwohner wurde bereits verklärt, das ein oder andere Gesicht zeigte ein seliges Lächeln.

»Reißt euch zusammen, verdammt!«, fluchte Akina.

»Sie werden sich daran gewöhnen«, sagte Doc beschwichtigend.

Akina stemmte die Hände in die Hüften. »Das werden sie müssen«, murmelte sie. Dann wandte sie sich an mich. »Du gehst am besten schon mit Doc. Ich kümmere mich mit Lydia darum, dass die anderen zur Ruhe kommen.«

»Ich werde dir zwei meiner Männer mitgeben, damit ihr sicher ankommt«, sagte Doc, bevor ich etwas erwidern konnte.

»Alles so, wie wir es besprochen haben?«, fragte sie.

Doc nickte ernst. »Alles vorbereitet. Folgt einfach dem Weg bis zur östlichen Wand. Das Zelt reicht, um euch alle zu beherbergen, und liegt etwas abseits des restlichen Geschehens.«

Akina lächelte dankbar. Sie und Doc wechselten einen Blick, den ich nicht zu deuten vermochte. Doc winkte zwei jüngere Männer herbei, die sich im Hintergrund hielten.

»Bringt Akina und ihre Leute zu dem neuen Zelt in Quadrant B, hinterste Reihe. Zane weiß schon Bescheid, sie müssen sich also nicht anmelden.«

Die Jungen runzelten die Stirn, nickten jedoch.

»Quadrant … was?«, fragte ich.

Doc grinste. »Irgendwie mussten wir Ordnung in das Chaos bringen. Wir haben das gesamte Gebiet in Bereiche eingeteilt und jeweils eine Führungsperson gewählt, die für das Wohl des Quadranten – wie wir die Abschnitte nennen – sorgt.«

 

Bereits nach wenigen Minuten hatte ich das Gefühl, den Überblick zu verlieren. Ich konnte nicht einmal sagen, in welcher Richtung sich der Aufstieg befand. Eigentlich war meine naturgegebene Orientierung gut, doch die Menschenmengen raubten meinen Sinnen ihre Kraft. Angespannt versuchte ich mich auf die umliegenden Behausungen zu konzentrieren, die zahlreichen Gerüche und die plötzliche Nähe der Menschen aus meinem Bewusstsein auszuschließen. Die neuen Zelte waren aus unterschiedlichen Materialien erbaut; Planen, Decken, Kleidungsstücken. Alles, was entbehrt werden konnte, schien in die notwendigen Baumaßnahmen geflossen zu sein. Die Wege waren eng und überfüllt. Jeder freie Platz war ausgefüllt und jeder Zentimeter sinnvoll genutzt. Doc musste immer wieder stehen bleiben und in einem der Zelteingänge auf mich warten, weil ich zurückfiel. Als wir endlich in einen etwas ruhigeren Bereich gelangten, lief ich neben Doc her.

Mir stockte der Atem, als sich uns ein Mann in der schwarzen Kampfmontur der Gardisten näherte. Augenblicklich erstarrte ich.

Doc musterte mich. »Was ist los?«

»Da …«, keuchte ich. Der Gardist näherte sich. Was tat er hier? Ein Spion?

»Kay …«, sagte Doc.

Ich ging in Kampfstellung.

»Kay!«

Der Mann war nun neben uns und hob fragend die rechte Augenbraue.

»Hey, Doc!«, sagte er und grinste. »Schon wieder jemand Neues?«

Doc lachte leise und schüttelte dem Gardisten die Hand. Meine Muskulatur entspannte sich. Verdattert blickte ich die beiden an.

»Sozusagen. Das ist Kay. Kay, darf ich dir Bora vorstellen? Er hat die Leitung von Quadrant A übernommen.«

Ich brachte nicht mehr als ein trockenes Keuchen zustande. Bora hatte buschige, dunkle Augenbrauen und ein einnehmendes Lächeln, das mich im Moment jedoch nicht erreichte. Er überragte mich um einen Kopf. Seine Hände waren riesig. Trotz meiner Abneigung erkannte ich etwas Warmes in seinen Augen. Der Riese zog seine Hand zurück, als er bemerkte, dass ich sie nicht ergriff.

»Wohl ein wenig schüchtern, was?«, sagte er grinsend. »Ich muss dann auch weiter. Machs gut, Doc. Wir sehen uns gleich?«

»Genau, wie besprochen. Bis dann, Bora.«

Noch bevor ich etwas herausbrachte, lief Bora weiter.

»Das … war … ein Gardist.«

»Richtig. Damals.« Doc nickte mit ernster Miene. »Hier unten sind wir alle gleich, Kay. Was früher mal war, spielt keine Rolle mehr. Wir sind bloß die, die wir jetzt sind. Eine der positiven Neuigkeiten, von denen ich sprach.«

Doc lächelte und ich konnte noch immer nicht fassen, was da gerade geschehen war. Ich blickte mich noch einmal nach Bora um, doch er war bereits in der Menge verschwunden.

»Sie kommen wirklich von überall her, oder?«, fragte ich verunsichert, als eine Gruppe, die offensichtlich Sektor 2 angehörte, an uns vorbeilief. Beim Anblick der Kittel lief mir ein kalter Schauer über den Rücken. Außer Doc hatte hier unten nie jemand einen getragen, und selbst bei ihm hatte es schon lange gedauert, bis ich diese Tatsache hinnehmen konnte.

Doc musterte mich verständnisvoll. »Selten Sektor 2, häufig Sektor 3 und 4. Die Einzigen, die sich rar machen, sind die aus Sektor 1, aber die haben offensichtlich auch kaum Grund zu fliehen. Soweit ich weiß, ist der Krieg bis dahin noch nicht vorgedrungen.«

Die Wissenschaftler und Gardisten sollten jetzt unsere Freunde sein? Diese neue Welt wirkte zu schön, um wahr zu sein.

Centro 03 - Das Ende
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