***

 

 

 

»Heute wird es anders sein als beim letzten Mal.« Joffs Lippen bildeten eine schmale Linie, sein gesamter Körper wirkte merkwürdig steif. Er massierte sich immer wieder den Nacken. Selbst Gamma und Delta mit ihren sonst so ausdruckslosen, blassen Gesichtern strahlten Unruhe aus. Außer uns dreien hielt sich niemand im Technikzelt auf. Auf dem großflächigen Schreibtisch stand ein riesiger Bildschirm und davor eine Tastatur. Gamma war gerade dabei, in einer unwirklichen Geschwindigkeit darauf herumzutippen. Grüne Zahlen rasten über den sonst tiefschwarzen Screen.

»Was wird anders sein?«

»Heute werden wir uns direkt im Intranet des Centro bewegen. Das heißt, die Menschen, die wir treffen, sind echt.« Ich schluckte und nahm die Brille entgegen. »Aber ich dachte … vielleicht können wir noch mal in das Übungsprogramm?«

Joff stieß schnaubend Luft aus. »Ich dachte, du hättest inzwischen begriffen, dass wir keine Zeit haben.« Er griff nach einem der Kabel, die aus meiner Brille herausragten, und verband sie mit dem PC. Als ich sie aufsetzen wollte, hielt er meinen Arm fest. »Warte.«

Ich hielt inne.

»Du erinnerst dich an die Figur des Jungen, mit dem ich dich gestern begleitet habe?«

Ich nickte steif und er ließ mich los.

»Diese menschliche Hülle innerhalb des Systems nennt sich ›Avatar‹. Zwar sind die Optionen, sich diesen nach Belieben zu gestalten, quasi unbegrenzt, doch eine der Regeln des Centro ist, dass sie nur den eigenen Körper widerspiegeln dürfen. Jeder Avatar, dessen Realkörper nicht exakt so im System gespeichert ist, wird abgestoßen und löst automatisch einen Alarm aus. Damit will man verhindern, dass es zu illegalen Machenschaften kommt, die sich nicht nachverfolgen lassen, außerdem sollen die Menschen den Bezug zur Realität nicht verlieren.«

Es fiel mir noch immer schwer, die Möglichkeiten dieses Computersystems zu erfassen. Nach allem, was ich gestern gesehen hatte, schienen sie grenzenlos. Man konnte sein, wo man wollte, wann man wollte. In einer Welt voll strenger Regeln auf engstem Raum war das so wahrscheinlich, wie sich draußen in der Mittagssonne hinzulegen und ein Schläfchen zu halten. Es hatte mich alle Überwindung gekostet, Akina nichts davon zu erzählen. Doch Joff hatte mir ein absolutes Redeverbot erteilt. Ich durfte über nichts sprechen, was hier drinnen geschah.

»Das bedeutet, dass wir uns eines Körpers bedienen müssen, der im System gespeichert ist und der zu dem Zeitpunkt, wo wir das Netz betreten, ruht. So nennt man es, wenn der eigentliche Mensch seinen Avatar nicht steuert, weil er zum Bespiel in der realen Welt gerade seinen Beruf ausübt.«

»Fällt das nicht auf? Also ich meine, dass jemand, der arbeitet, zeitgleich im … Intranet ist?«

Ein zufriedener Ausdruck huschte über Joffs Gesicht, bevor es wieder zu der ablehnenden Maske erstarrte. »Richtig. Das ist das Problem. Zwar muss der ein oder andere Beschäftigte während der Arbeitszeit ins Intranet, doch unser Zeitfenster ist sehr eng. Auch die Orte, an denen wir uns in diesem Körper aufhalten, werden alle Viertelstunde an das Hauptsystem übermittelt. Treten Ungereimtheiten auf, wird ebenfalls ein Alarm ausgelöst und wir fliegen raus, oder noch schlimmer: Man ermittelt unseren aktuellen Standort. Unser Hauptlager verbindet uns über Kabel mit dem System. Alles nachverfolgbar, wenn nur jemand explizit danach sucht. Gamma und Delta sind gut, aber wenn das Sicherheitssystem jagt auf uns macht, können auch sie nicht länger unsere Spuren verwischen.«

»Und dann?«, fragte ich, obwohl ich mir die Antwort eigentlich schon denken konnte.

»Dann sind wir am Arsch.«

»Delta!«, schnaubte Gamma empört.

Deltas Gesicht blieb ungerührt, er zuckte mit den Schultern.

»Wenn ich doch recht habe.« Er verschränkte die dürren Arme vor der Brust und musterte mich, als wäre ich jetzt bereits am Scheitern der Mission schuld.

»An sich hat Delta recht. Wenn sie uns dabei erwischen, wie wir uns in ihrem Intranet herumtreiben, dann will ich gar nicht wissen, was geschieht.«

»Aber … eine Viertelstunde?« Ich runzelte die Stirn, wich Deltas vorwurfsvollen Blicken aus.

»Wenn wir uns länger im Intranet aufhalten wollen, müssen wir also den Avatar wechseln. Wir kehren für einen Sekundenbruchteil in die Realität zurück und tauchen dann an dem Port auf, wo wir uns zuletzt befunden haben. Nur in einem anderen Körper.« Joff warf Gamma einen auffordernden Blick zu, woraufhin der merkwürdig leer zu lächeln begann. Als er mich wieder ansah, deutete er auf die beiden gepolsterten Stühle, die vor dem PC bereitstanden. Ich setzte mich zögerlich, wohingegen Joff sich ungehemmt in den quietschenden Stuhl fallen ließ. Er lehnte sich zurück, schob die Brille über den Kopf und verschränkte die Hände vor dem Bauch. Zögernd blickte ich zu den beiden hinüber.

»Wird’s bald?!«, fauchte Delta und erhielt von seinem Bruder einen festen Schlag gegen die Schulter. Mit einem unguten Gefühl schob ich mir die Brille vor die Augen und wurde von absoluter Dunkelheit umgeben. Mein Magen rebellierte, meine Hände fühlten sich feucht an. Ich versuchte tief und gleichmäßig zu atmen, als ich den Boden unter den Füßen verlor. Das Gefühl zu fallen zerrte an meinem Körper. Ich presste die Lippen aufeinander und hielt einen Schrei zurück. Plötzlich wurde ich von Helligkeit geblendet und kniff die Augen fest zusammen. Noch immer fiel ich. Im grellen Licht sah ich einen grauen Boden, auf den ich geradewegs zuhielt. Ich ruderte mit den Armen und landete federnd. Eine Gruppe weiß gekleideter Menschen stand um mich herum und sah mich an, als wäre ich von allen guten Geistern verlassen. Sie trugen blütenweiße Tuniken und weite Stoffhosen aus einem Material, das ich nicht kannte. Ich stieß ein keuchendes Lachen aus. Bevor ich etwas sagen konnte, streckte jemand die Hand nach mir aus.

»Ich hab doch gesagt, du solltest dich wegen deiner Höhenangst behandeln lassen.« Der dunkelhaarige junge Mann war etwa in meinem Alter und hatte ein charmantes Lächeln. Er trug dieselbe Kleidung wie die anderen Menschen, die noch immer verwirrt zu mir herunterstarrten.

»Ich …«, stammelte ich, wusste nicht, ob ich seine Hand ergreifen sollte. Was, wenn das nicht Joff war? Was, wenn …? Ungeduld huschte über den Ausdruck des Jungen, der noch immer seine Hand nach mir ausstreckte.

»Na los, worauf wartest du?«, knurrte er. Eilig griff er nach meinem rechten Arm und zog mich auf die Beine. Wir befanden uns in einer großen Halle, die komplett aus Milchglas zu bestehen schien. Der graue Boden, auf dem ich gelandet war, glänzte. Überall standen Menschen in kleinen Gruppen zusammen oder in langen Schlangen vor merkwürdigen Schiebetüren. Immer wenn die Schleusen sich öffneten, verschwand einer der Anstehenden darin und die Reihe rutschte auf. Große Bildschirme waren darüber angebracht, die Menschen zeigten, die ebenfalls in diese ungewöhnlichen Tuniken gekleidet waren. Sie sagten etwas, das jedoch in dem Stimmwirrwarr innerhalb des riesigen Raumes unterging. Gerade schien die Aufmerksamkeit der Anwesenden komplett auf mich gerichtet zu sein. Es gab Blonde, Dunkelhaarige, Rothaarige, und ich erstarrte, als ich sogar einen dunkelhäutigen Mann entdeckte. Das alles war so unwirklich.

»Komm jetzt, Amanda!« Der Joff-Junge zerrte mich mit sich. Als die Blicke uns weiterhin folgten, machte er nervöse Gesten in ihre Richtung, die wohl bedeuten sollten, dass ich den Verstand verloren hätte. Ich schluckte meinen Ärger hinunter und starrte selig lächelnd zurück. Tatsächlich widmeten sich die Menschen nach und nach wieder anderen Dingen.

Wie mochte wohl der Körper aussehen, in den ich geschlüpft war? Wenn ich an mir heruntersah, erblickte ich nichts als die weiße Kleidung, die alle anderen trugen, und blasse, schmale Arme mit zierlichen Handgelenken. Joff zerrte mich beiseite, weg von der allgemeinen Aufmerksamkeit.

»Du musst dich zusammenreißen, hörst du? Das hier ist kein Spiel mehr!«, fuhr Joff mich an. Wir standen vor einer Schiebetür, die außer Funktion zu sein schien. »Hoffentlich hat uns keiner erkannt. Wenn wir uns hier aufhalten, musst du dich unauffällig benehmen.« Joff fuhr sich durch die dunklen Haare. Im selben Moment sprang der Bildschirm an. Eine Blondine mit strahlend weißem Lächeln starrte zu uns herunter. »Hallo Bewohner, dieser Abschnitt ist nur für Menschen mit hoher Sicherheitseinstufung vorgesehen. Bitte suchen Sie sich eine andere Freizeitbeschäftigung, die ihrer Einteilung entspricht. Was halten Sie zum Beispiel von einem Tag am Strand? In Abschnitt 2 steht zurzeit eine Simulation zur Verfügung, die Sie direkt zur Côte d’Azur bringt und Ihnen einen Tag voll Sonnenschein, Spiel und Spaß ermöglicht. Außerdem …«

»Komm, lass uns von hier verschwinden«, sagte Joff und zog mich weiter.

»Was hat sie gesagt?«, fragte ich und blickte zu dem Bildschirm, auf dem die Frau inzwischen nicht mehr zu sehen war.

»Sie hat gesagt, dass wir verschwinden sollen«, knurrte Joff. »Und wenn sie das sagt, dann machen wir das auch.«

Erst in der Mitte der Halle blieb er stehen, blickte sich verunsichert um. »Das hätte weitaus besser laufen können. Du musst unbedingt bei den Sprüngen ruhig bleiben. Vergiss nicht, dass das alles hier längst normal für dich sein sollte.«

»Es ist aber nicht normal für mich«, murmelte ich.

Die Leute beachteten uns nicht mehr, sondern umliefen uns wie ein fest angebrachtes Hindernis.

Joff seufzte. »Tipp auf die Innenseite deines linken Unterarms« Er machte es mir vor. Auf seiner Haut tauchten Zahlen auf; eine Uhr die rückwärts lief. In diesem Augenblick standen noch elf Minuten und dreizehn Sekunden darauf. »Die Zeit bis zu unserem nächsten Sprung«, sagte er eindringlich.

Als ich auf meinen Arm tippte, erschien die Uhr ebenfalls, doch bei mir zeigte sie dreizehn Minuten und zwei Sekunden an.

»Das ist normal. Es ist nicht möglich, gleichzeitig in das Intranet einzutauchen, ohne dabei aufzufallen. Es ergeben sich immer leichte Zeitunterschiede. Ich werde vor dir zurückkehren und dann mit einem anderen Körper wieder auftauchen. Kurz bevor dies geschieht, machen einen Code aus, der uns den anderen erkennen lässt.«

Ich nickte steif. »Und jetzt?«

Joff grinste. »Jetzt zeig ich dir, was alles möglich ist.«

Centro 03 - Das Ende
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