***

 

 

 

Jemand schob mich von hinten an, ein anderer zwängte sich an mir vorbei. Ein stetiges Raunen ging durch den Menschenstrom, der sich über den Flur in Richtung Wohneinheiten wälzte.

»Bitte bewahren Sie Ruhe und begeben sich in Ihre Parzellen!«

Ich keuchte, als sich ein Ellbogen in meine Rippen bohrte.

»Es handelt sich um Notfallcode 1876-3. Bitte behindern Sie die Grenzwächter nicht bei der Arbeit.«

Was für ein Notfallcode könnte das sein? Der Alarm hatte eingesetzt, als ich den Hauptflur betreten hatte. Ein dröhnender Laut, der sich in gleichmäßigem Rhythmus wiederholte.

Noch immer beherrschten die Dinge, die ich gestern gehört und gesehen hatte, meine Gedanken und schürten meine Panik. Ich wollte nur noch weg von hier. Am liebsten sofort. Jede weitere Sekunde, die ich im Centro verbrachte, kam mir falsch vor.

Ich brauchte einen Augenblick, um die schiere Masse an Menschen zu verarbeiten, die sich durch den röhrenförmigen Gang arbeitete. In den Fluren war immer etwas los, doch jetzt gab es kaum Durchkommen.

Zahlreiche Gerüche umgaben mich; Angst, Sorge und Wut waren die dominantesten. Immer wieder streckte ich mich und versuchte die Situation zu überblicken; aussichtslos, da der Gang in einer Biegung verlief. Frustriert ließ ich mich von den Menschen mitschieben.

Und dann spürte ich es; so vertraut, dass es mich direkt in die Seele traf. Ein Gefühl, wie ich es das letzte Mal tags zuvor im Speisesaal empfunden hatte. Angespannt suchten meine Augen die Menge nach dem Ursprung ab. Ich atmete tief ein, roch den wohlbekannten Duft. In dem Moment, als sich unsere Blicke trafen, zog sich mein Herz zusammen. Gerrit. Er trug dieses merkwürdige weiße Hemd mit den goldenen Knöpfen und sein Haar war etwas kürzer, doch das Gesicht war unverkennbar. Er befand sich auf der anderen Seite des Flurs, zwischen uns zahlreiche Menschen. Gerrits Gesichtsausdruck wandelte sich von fragend zu irritiert. Mein Herz pochte gegen meinen Brustkorb. Das konnte nicht sein, ich musste mich täuschen. Mein Bewusstsein spielte mir eindeutig einen Streich. In diesem Augenblick formten seine Lippen stumm meinen Namen. Ich schnappte nach Luft, geriet ins Stolpern und wurde grob von hinten angestoßen.

»Pass doch auf!«

Ich stützte mich an der Wand ab und murmelte eine atemlose Entschuldigung. Als ich wieder aufsah, war Gerrit verschwunden. Eilig drängte ich mich zwischen den Menschen hindurch, versuchte auf die andere Seite des Flurs zu kommen. Er musste hier irgendwo sein. Nichts. Als ich den Punkt erreichte, war da niemand, der auch nur Ähnlichkeit mit ihm hatte. Ich konnte nichts tun, als mich vorwärts über den Korridor schieben zu lassen. Erst an den Fluren, die zu den Wohneinheiten führten, zerstreute sich die Menge etwas. Ich nutzte die plötzliche Freiheit, um den Gang abzulaufen und in jedes Gesicht zu blicken. Krampfhaft suchten meine Augen nach braunen Haaren und den vertrauten Gesichtszügen. Vergeblich. Als ich schließlich beschloss, dass Gerrit nur meiner Einbildung entsprungen sein konnte, war der Korridor leergefegt. Die Ansage dröhnte durch meine Ohren. Ich wollte mich dem Flur zu meiner Parzelle zuwenden, als ich es hörte. Eindeutig schwere Stiefel, die über den Gang liefen. Ganz in der Nähe. Dann folgten Zurufe, die wie Befehle klangen. Wenn man dem rechten Korridor folgte, gelangte man zum Speisesaal. Ich schloss die Augen, atmete tief durch. Ich hatte jetzt zwei Möglichkeiten: Entweder ich ging in meine Wohneinheit, so wie man es von mir verlangte, oder ich tat es nicht, folgte den Rufen und fand heraus, was hier vor sich ging. Letzteres würde, falls man mich erwischte, mit Sicherheit großen Ärger bedeuten.

»Er muss hier irgendwo sein! Die verfluchten Kameras sind im gesamten Sektor außer Gefecht! Ihr müsst also ausnahmsweise eure Augen benutzen!«, drang es aus Richtung der Kantine. Ich biss mir auf die Unterlippe, wandte mich nach rechts und lief vorsichtig den Flur hinunter. Immer wenn ich glaubte, jemand käme mir entgegen, blieb ich stehen und lauschte. Der Geruch von unterdrückter Wut und Ehrgeiz stand deutlich in der Luft. Grenzwächter.

Der Eingang zum Speisesaal war breit und nicht hinter einer dieser Türen verborgen, die sich wie aus dem Nichts aus der glatten Wand auftaten. Ich drückte mich neben dem Durchgang an die weiße Fläche und lauschte.

»Er muss hier sein, verdammt noch mal! Strengt euch gefälligst an!«

Vorsichtig beugte ich mich nach vorne und blickte um die Ecke. Ich sah sechs Grenzwächter – ich erkannte sie an den roten Armbinden –, die nebeneinander den großen Raum durchkämmten. Sie wandten mir den Rücken zu und bewegten sich vom Eingangsbereich der Kantine weg. Ein Mann, hochgewachsen mit breitem Kreuz, auf dessen Hinterkopf ich nun schaute, brüllte lautstark Befehle durch den Raum.

»Kay!«

Ich zuckte zusammen. Mein Herz setzte einen Schlag aus, als ich die zusammengekrümmte Person auf der anderen Seite des Durchgangs erkannte. Er sah schlimm aus. Sein Gesicht war zugeschwollen und wies sämtliche Farbgebungen von dunkelblau über grün bis violett auf. Die weiße Kleidung, in die sie ihn gesteckt hatten, war befleckt von seinem Blut. Man hatte ihm den Kopf rasiert; die zitternden Hände, die aus der Tunika stachen, waren bandagiert.

»Joff«, sagte ich atemlos.

Er bedeutete mir mit hektischen Gesten zu schweigen. »Schaut jemand her?«, formten seine Lippen.

Ich beugte mich vor. Der Mann mit der strengen Stimme und die Grenzwächter richteten ihre gesamte Aufmerksamkeit noch immer auf den leeren Speisesaal. Ich lehnte mich zurück und schüttelte den Kopf. Joff atmete durch und humpelte dann über den Flur in meine Richtung. Als er mich erreichte, legte ich unterstützend meinen Arm um ihn. Er saugte stöhnend Luft ein, als ich seine Rippen berührte.

»Ich muss in die Bewohnerparzellen … in Gang 3. Weißt du, wo das ist?«

Wieder konnte ich nur nicken. Natürlich wusste ich das, auf demselben Flur lag auch meine Wohneinheit.

»Dann bring mich da hin … schnell.« Seine Stimme klang gepresst, das Gesicht war schweißnass. Er schien unter starken Schmerzen zu leiden. Schon nach den ersten Schritten ging sein Atem keuchend und die Last auf meinen Arm wurde immer stärker. Hinter mir vernahm ich die raue Sprechweise des Grenzwächters.

»Schneller …«, japste Joff.

Ich schleifte ihn, so schnell ich konnte, mit mir. Als wir den Flur erreichten, war ich vollkommen erschöpft. Ich zögerte. »Was ist mit den Kameras?«

»Ausgeschaltet. Gamma und Delta.« Sein Atem ging merkwürdig pfeifend. Er hustete und schnappte nach Luft. Blut lief über sein Kinn.

»Joff, ich …«

»Los jetzt … verdammt. Die Kameras sind nicht ewig aus.«

Die unsichtbare Tür öffnete sich und wir schleppten uns weiter. Der Gang verlief schnurgerade. Niemand war zu sehen, anscheinend hatten sich alle in ihre Quartiere zurückgezogen. Zu unserem Glück.

»Wohin?«, wisperte ich.

»Am Ende des Flurs … Luftschacht.«

Immer wieder blickte ich nach rechts und links. Wenn sich jetzt eine Tür öffnete, wären wir beide geliefert. Joff rang nach Luft. Ich spürte deutlich, wie ein unterdrücktes Husten durch seinen Brustkorb rumpelte.

»Joff, es tut mir so leid«, flüsterte ich. Wut und Trauer pochten durch mein Innerstes. Das alles war meine Schuld. Eigentlich hätte er gar nicht hier sein sollen.

»Halt die … Klappe.«

Wieder dieses pfeifende Luftholen direkt neben meinem linken Ohr. Inzwischen ruhte beinahe sein ganzes Körpergewicht auf mir. Nur meiner einzigartigen Kraft war es wohl zu verdanken, dass ich nicht längst zusammengebrochen war. Wir kamen nur mäßig voran, doch irgendwann entdeckte ich ihn; den Luftschacht. Schlitze im weißen Boden, die erst auf den zweiten Blick zu sehen waren.

Joff stieß ein heiseres Lachen aus. »Mach das Ding auf.«

Ich ließ ihn auf den Boden gleiten. Nervös blickte ich mich um. Der Flur war vollkommen leer. Noch immer schallte der Alarm aus dem Hauptflur zu uns herüber, wenn auch etwas leiser und weniger durchdringend. Innerlich flehte ich, dass uns niemand durch die Parzellenwände gehört hatte. Ich ging vor dem Gitter in die Knie und schob die Finger dazwischen. Es schnitt in meine Haut ein, als ich daran zog. Nach kurzem Rütteln gab es nach und ich klappte es hoch. Ich blickte zu Joff. An seinen Lippen klebte frisches Blut, sein Brustkorb hob und senkte sich schwerfällig.

»Lass mich … kurz … Luft holen.«

Jetzt?!, wollte ich herausschreien, schwieg jedoch. Rastlos trat ich von einem Fuß auf den anderen. Sah vor meinem inneren Auge bereits, wie sich eine der Türen öffnete und ein Bewohner uns fragend anblickte. Dann, wie er begriff und um Hilfe rief. Was würde ich dann tun? Ihn töten? Fliehen?

»Kann losgehen«, flüsterte Joff mit erstickter Stimme und krabbelte an die Öffnung. Ich sah deutlich, wie schwach er auf den Beinen war. Energisch griff ich nach seinem Arm, was ihn heftig zusammenfahren ließ. Hatten sie auch nur eine Stelle an seinem Körper heil gelassen?

»Du bist verletzt, Joff. Wie willst du es schaffen?« Ich blickte ihn eindringlich an.

»Wenn ich noch einen Tag hierbleibe … bringen sie mich um«, antwortete er und der Duft von Angst umwaberte mich so heftig, dass mir die Tränen in die Augen stiegen. Ich wollte mir gar nicht ausmalen, was sie ihm angetan hatten. Zögerlich ließ ich ihn los und beobachtete, wie er seine Beine in die enge Öffnung im Boden schob. Sie war gerade groß genug, dass er seine schmale Hüfte hindurchpressen konnte.

»Joff, vielleicht sollte ich mitkommen.«

»Was?«

»Sie haben mich fast. Dieser Ermittler, Professor Freyer. Er weiß zu viel. Ich bin sicher, dass er mich …«

»Das kann gar nicht sein … wie sollte er davon erfahren haben?« Joff hustete, atmete hektisch aus und ein.

»Er hat mir Videos gezeigt von dem Tag, als sie uns gefasst haben. Er meinte, wir würden gemeinsame Sache machen.«

Joff schüttelte den Kopf. »Hat er Beweise?«

»Nein. Aber …«

»Dann wird er nichts … finden. Wenn du jetzt gehst … war alles umsonst.« Die Worte kamen gepresst und kurzatmig.

»Er sagt, er hat eine persönliche Motivation und kennt Georgina.«

»Was?« Joff wurde noch blasser. »Woher?«

Ich schaute mich hektisch um. Hatte ich da ein Geräusch gehört? Nein. Da war nur Stille. Stille weiße Wände. »Er hat Georgina aufgesucht, bevor sie verschwand.«

Eine Weile blickte Joff mich an und schüttelte dann den Kopf. »Das kann nicht sein.«

»Doch, er hat gesagt …«

»Kay, denk nach! … Er kann gar nicht bei Georgina gewesen sein … dann wüsste er, dass du nicht Georgina bist!«

Ich runzelte die Stirn. Joff hustete, ein Zittern ging durch seinen Körper. »Niemand war in den letzten Jahren … bei Georgina. Er lügt.«

Ich nickte benommen. Professor Freyer hatte so überzeugend geklungen … Und doch hatte Joff vermutlich recht. Ich hatte nur bedingt Ähnlichkeit mit Georgina. Wenn er sie vor Kurzem aufgesucht hatte, müsste er den Unterschied erkennen.

Joffs Hand grub sich in die Haut meines Unterarms. »Kay, du bleibst! Verstanden? Beharre auf unserer Geschichte … die ist wasserdicht. Alles wie besprochen.«

»Aber da ist noch etwas anderes!«, stieß ich schnell hervor, als Joff schon in den Lüftungsschacht gleiten wollte.

»Was?«, knurrte er und musterte mich voller Ungeduld.

»Ich habe gestern etwas gehört. Die Leute flüchten von hier. Und sie müssen verdammt verzweifelt sein, weil sie glauben, da draußen sicherer zu sein als hier.«

Joff musterte mich, als wäre ich geistesgestört. »Schwachsinn.«

»Nein. Joff, erinnerst du dich an diesen Typen bei unserem letzten Besuch im Intranet? Dave? Der, in dessen Avatar ich geschlüpft war?«

Joff stöhnte, was einen weiteren Hustenanfall auslöste. »Komm auf den Punkt … die Zeit wird knapp.«

»Also ich glaube, dass dieser Mann den Leuten versprochen hat, ihnen zur Flucht zu verhelfen.«

»Wieso sollte man von hier fliehen? Das ergibt … keinen Sinn.« Joff strich sich mehrfach durch das verschwitzte Gesicht.

»Ich weiß es nicht.«

»Deshalb musst du bleiben. Wenn du recht hast … und die Leute von hier weg wollen … dann brauchen sie einen verdammt guten Grund dafür. Du musst herausfinden … was hier vorgeht.«

Dann schob er sich in den Schacht, und das Letzte, was ich sah, war sein kahl rasierter Kopf.

Centro 03 - Das Ende
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