4

Der Teil mit der Sexfalle

LUCYS MIXTAPE

Kylie Minogue & Robbie Williams – Kids

»So weit, so gut. Und worüber regst du dich jetzt eigentlich auf?«

Ich hätte wissen müssen, dass Betty das nicht verstehen würde. Für Betty gab es nichts Besseres als Körperlichkeiten. Betty war die Frau mit der Theorie, dass es keinen Krieg in der Welt geben würde, wenn jeder Mensch jeden Tag eine zehnminütige Kopfmassage bekäme. Und, ja, das könnte man durchaus einmal testweise ausprobieren, schaden würde es wohl kaum. Aber darum ging es jetzt nicht.

»Darum geht es jetzt nicht!«

»Hä?«

»Faden verloren, sorry.« Ich starrte auf den Boden, sah die Gehwegplatten und die Ritzen dazwischen unter meinen Füßen vorbeifliegen und riss mich zusammen. »Also noch mal: Seit Monaten kriegen Richard und ich uns wegen allem möglichen Kleinscheiß in die Haare. Urlaub, Renovierung, Flurlampen, Intimwaxing … Irgendwas ist immer. Egal, wie viel Mühe wir uns geben, es kommt einfach keine Ruhe rein. Und dann schluck ich gestern all meinen Stolz runter – und das war ein fetter Brocken, das kannst du mir glauben …«

»Absolut. Ich hab ja nicht erst seit gestern mit dir zu tun, Schätzelein.«

»… und anstatt etwas aus dieser harmonischen Situation zu machen, mal in Ruhe reden, den ganzen Scheiß ein für alle Mal aus der Welt schaffen, ein bisschen liebevoller miteinander umgehen, macht er den ganzen Moment kaputt.«

Betty kaute auf ihrer Unterlippe. »Tja, also ich hätte jetzt irgendwie gedacht, Sex wäre schon so was wie liebevoller Umgang, aber na ja, man lernt eben nie aus.«

»Ich hab auch nicht prinzipiell ein Problem damit …«, nicht so wie Lucy, zum Glück, »aber gestern Abend hätte ich mir was anderes gewünscht, verstehst du?«

»Nö.«

»Dass wir die Chance nutzen, uns richtig auszusprechen. Und stattdessen erpresst er mich.«

»Er erpresst dich?«

»Ja. Er wusste ganz genau, dass ich nicht wollen würde, dass diese Versöhnungsaktion und das Stolz-Runterschlucken umsonst waren. Er wusste, dass ich nicht Nein sagen konnte. Er hat mich in einen Hinterhalt gelockt, in eine ganz miese Sexfalle. Wie sollen wir denn so bitte jemals …«

»Sexfalle?!« Betty lachte so sehr, dass sie stehenbleiben und sich den Bauch halten musste. »Das ist das Witzigste, was du je gesagt hast, seit ich dich kenne.«

»Okay, ich hab das falsche Wort benutzt. Aber rein vom Ding her …«

»Sexfalle!« Betty hielt sich an einen Laternenpfahl fest und machte ein gespielt verängstigtes Gesicht. »O nein! Die schreckliche Sexfalle.«

»Betty. Es reicht.«

Nach Luft ringend nickte sie und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. »Okay …« Dann wurde sie von einer weiteren Lachwelle geschüttelt. »Ich wünschte, so etwas würde mir mal passieren.«

Ich warf ihr einen bösen Blick zu. Betty rang mit sich. Sie presste die Lippen aufeinander, ihr Gesicht war verzerrt in dem Bemühen, nicht wieder loszuprusten. Gut, dass Lucy mit auf die Reise kommen würde. Das hatte dann hoffentlich einen ausgleichenden Effekt. Oder endet in einem Desaster, schoss es mir durch den Kopf, wie meistens, wenn zwei Extreme aufeinander trafen. Betty, das Sexmonster, und die keusche Lucy drei Wochen lang auf engstem Raum. Eigentlich war die Katastrophe vorprogrammiert

»Okay, vergiss es einfach«, sagte ich, und blieb an einer kleinen Kreuzung stehen. »Müssen wir hier rechts? Oder wie?«

»Auf jeden Fall müssen wir unsere Entscheidung mit höchster Sorgfalt treffen. Ein falscher Schritt, und wir tappen geradewegs in eine Sexfa-ha-ha …« All ihre Anstrengungen hatten nichts gebracht, und Betty ließ es einfach laufen, das Lachen.

Langsam war es mir wirklich peinlich, dieses Thema überhaupt angesprochen zu haben. Aber wenn man seiner besten Freundin nicht von so etwas erzählen konnte, wem denn dann? »Ich rede erst wieder mit dir, wenn du dich beruhigt hast. Ich mein’s Ernst, Bettina.«

»Nenn mich nicht so, du verklemmtes Stück.«

Der Spielplatz an der Kreuzung beschallte die Umgebung mit Kindergeschrei, wie sich das für einen sonnigen Samstagvormittag gehörte. In der letzten Zeit hatte ohnehin verdächtig oft die Sonne geschienen. Je näher unsere Abreise rückte, desto mehr Sonnenschein. Konnte das ein Zufall sein?

Laut Skys Beschreibung musste sein Bus hier irgendwo stehen. Ich reckte den Hals und suchte die Reihe parkender Autos rechts von uns ab. Bingo. »Gelber Bus. Auf zehn Uhr.«

Ich zog Betty, die noch immer um Contenance rang und deswegen nicht allein gehen konnte, am Ärmel ihres Kapuzenpullis hinter mir her. Sie verhielt sich ruhig, bis ich den Schlüssel ins Schloss der leicht verbeulten Schiebetür steckte und sie laut »Halt!« rief.

Erschrocken fuhr ich zusammen. »Was?!«

»Ich will nur, dass du vorsichtig bist, Schätzelein. Es könnte sich um eine Sexfalle handeln …« Wieder brach sie in Gelächter aus.

»Das ist nicht witzig«, maulte ich, konnte mich aber nur schwer gegen das Grinsen wehren, das sich seinen Weg auf mein Gesicht bahnte. Weil ich Betty das aber nicht sehen lassen wollte, drehte ich ihr den Rücken zu und zog an der Schiebetür des Busses, hinter der sich unser Zuhause für die kommenden drei Wochen verbarg.

Ein muffiger Geruch von Patschuli-Räucherstäbchen und gerauchten Joints wehte uns entgegen, ein alter, dreckiger Flickenteppich lag auf dem grauen, mit Wasserflecken übersäten Holzfußboden, und das Laken auf der großen Matratze im hinteren Teil der Kabine hatte auch schon bessere Zeiten gesehen.

»Nette Vorhänge«, kommentierte Betty die gebatikten Tücher, die Sky vor die Fenster getackert hatte.

Warum bloß hatte ich mir den Bus vor unserer Abreise nicht einfach einmal angesehen? Einmal, das hätte ja gereicht. Einmal und nie wieder. »Das ist nicht Skys Ernst …« Ich öffnete das kleine Schränkchen unter dem verdreckten Kochfeld hinter dem Beifahrersitz und machte einen Schritt zurück, als mir zwei Plastikbecher entgegenfielen, aus denen vor längerer Zeit Kaffee getrunken worden war. »Er hat gesagt, er hat extra für uns aufgeräumt.«

»Ist doch ganz nett hier.« Betty war auf die Matratze gestiegen und hatte begonnen, die Regale darüber zu untersuchen. »Guck mal, er hat uns sogar was zum Lesen dagelassen.« Nachdem sie den Staub vom Umschlag gewischt hatte, hielt sie mir das Buch unter die Nase, und ich griff danach.

»›Die Kunst des Liebens‹?« Der Einband war schwarz und aus Gründen, die ich mir lieber nicht vorstellen wollte, extrem klebrig. Ich überflog schnell den Klappentext. Es ging um Philosophie. So viel verstand ich.

»Wenn du mich fragst: genau das Richtige für dich«, hörte ich Betty sagen. »Da kannst du sicher noch was lernen. Vielleicht hast du ja Glück, und es steht sogar was über Sexfallen drin.« Sie übersah geflissentlich mein Augenrollen, als ich ihr das Buch zurückgab, nahm es und warf es achtlos zurück in das Regal.

»Und jetzt?«, fragte ich. »Durchwischen, Bett beziehen, einladen, abhauen?«

»Das ist der Plan.« Betty krabbelte aus dem Bus und schloss die Schiebetür mit einem Rumms, als wir beide wieder auf der Straße standen. »Und auf Pläne stehst du doch.«

Da ich Oma Mathildes Meinung zum Schlafengehen im Streit nur zu gut kannte, war es nicht schwer für mich, mir vorzustellen, was sie von einem Versuch gehalten hätte, die Sache mit der Sexfalle vor meiner Abfahrt noch einmal mit Richard zu besprechen. Gar nichts nämlich. Lass einen Mann nie mit Sorgen und Nöten zurück, kümmere dich selbst darum, sonst beschwörst du nur Unheil herauf. Das hätte sie gesagt. Und als Reaktion auf eine andere Ansicht meinerseits hätte sie mit strengem Blick einen Drops gelutscht und mir einen Vortrag darüber gehalten, warum es kein Wunder war, dass mich noch kein Mann hatte ehelichen wollen, wenn ich immerzu ihre guten Ratschläge ignorierte. Was ich oft tat, zugegeben. Aber nur, weil der größte Teil der guten Ratschläge von Oma Mathilde in den letzten fünfzig Jahren nach und nach seine Gültigkeit verloren hatte.

Hier und heute und was die Sexfalle betraf, war ich mit der alten Dame allerdings voll auf einer Linie. Ich würde das Thema unangetastet lassen und keinesfalls den nächsten großen Streit provozieren, den ich dann ungeklärt in meine dreiwöchigen Ferien mitnehmen müsste. Und Richard in seine Daphne-freie Zeit. Es blieb mir ja immer noch die Hoffnung, dass mein Ärger von ganz allein verfliegen würde, sobald wir die Elbbrücken passierten und ich damit beginnen konnte, meinen Freund zu vermissen.

»Die Nacht war schön«, flüsterte Richard in mein Ohr, sein Gesicht in meinem Nacken und die Arme um meine Taille gelegt.

Zur Antwort seufzte ich. Das konnte er auf seine Weise interpretieren, und ich konnte mir meinen Teil denken. »Pass ein bisschen auf Hannes auf, okay? Er wirkt so niedergeschlagen.«

Und er gab sich keine Mühe, das zu verbergen. Mit hängenden Schultern und schlurfenden Schritten half er Betty beim Einladen der Einkäufe. Er hatte sich wohl erhofft, Lucy wenigstens kurz zu sehen, vielleicht die Chance auf ein Gespräch zu bekommen. Aber er war enttäuscht worden. Lucy hatte darauf bestanden, aus ihrer Wohnung abgeholt zu werden. Dort saß sie nun vermutlich schon seit dem frühen Morgen auf gepackten Koffern und kaute nervös auf den Fingernägeln, weil wir viel zu spät dran waren. Dem Zeitplan nach hätten wir uns bereits irgendwo hinter Hannover auf der Autobahn befinden sollen. Aber laut Betty durfte man die Worte Zeitplan und Urlaub nicht in einem Satz verwenden.

»Und wer passt auf mich auf?«, fragte Richard und drückte mich an sich.

»Hannes«, antwortete ich. »Und falls du mich vermisst, kannst du ja anrufen.«

»Du kannst mich auch anrufen.«

»Klar, aber ich würde mich auch freuen, wenn du mich anrufst.«

»Ich würde mich auch freuen.«

Aaaahhhh! »Okay.« Mein Kopf pochte. »Ich ruf dich an. Zufrieden?«

»Nein.« Er drückte mir einen Kuss auf den Mund und ließ mich los. »Du wirst mir fehlen.«

Ich verkniff mir den Hinweis, dass ich ihm nicht hätte fehlen müssen, hätten wir diesen Urlaub gemeinsam … aber egal. Ich war die ewigen Wiederholungen leid. »Sind ja nur drei Wochen.«

»Schätzelein, beweg deinen Arsch!« Das heisere Quaken der Hupe ertönte dreimal, als Betty den Motor anließ und sich, eine Zigarette zwischen den Lippen, aus dem Fahrerfenster lehnte. »Der Tortenexpress ist ready to go.«

»Ich muss.« Ich legte den Kopf schief und ließ mich ein letztes Mal von meinem Freund küssen.

»Ruf mich an!«

»Ja-ha.« Ich umarmte Hannes im Vorbeilaufen, rannte auf die andere Seite zur Beifahrertür und zog mich auf den Sitz. »Warum ist das so, Betty?«

»Was genau?«

»Man kann reden, wie man will, und es bringt alles nichts. Aber schlaf mit einem Mann, und er ist anhänglich wie ein kleiner Hund.«

»Das Wunder des Sex, Schätzelein. Körperliche Nähe ist die stärkste Kraft, die auf diesem Planeten existiert. Und ich sag dir eins: Wenn jeder Mensch jeden Tag eine zehnminütige Kopfmassage bekommen würde …«

»Ich weiß«, unterbrach ich sie. Der Sitz vibrierte unter mir, und der Motor knatterte, als ich mir den Gurt anlegte. Draußen standen Hannes und Richard und sahen irgendwie verloren aus.

Betty zündete ihre Zigarette an, zog einmal dran und blies den Rauch aus. »Ansonsten, würde ich sagen, ist es das männliche Umkehrdreieck.«

»Nie gehört.«

»Wenn ein Mann mit dem Kopf denken soll, denkt er mit dem Schwanz. Wenn er auf sein Herz hören soll, kommt er einem mit Vernunft. Und wenn man einfach nur Sex will, fängt er von Liebe an. Das ist ein Fehler in der Kopf-Herz-Schwanz-Synchronisierung.«

Ich nickte anerkennend. »Absolut auf den Punkt.«

»Selbstverständlich.« Sie drückte erneut auf die Hupe, legte den Gang ein und lehnte sich aus dem Fenster. »Seid schön brav!«

Richard grinste. »Ihr aber auch!«

»Nix da.«

Ich winkte über Bettys Schulter hinweg den beiden Männern auf dem Bürgersteig zu – der eine war meiner, groß und schön, der andere ein Häuflein Elend –, bekam ein Winken und ein »Viel Spaß!« zur Antwort, und alle gemeinsam riefen wir noch einmal »Tschüss!«, denn in Hamburg sagt man das so. Der Bus setzte sich in Bewegung, und dann waren wir endlich unterwegs. Endlich auf dem Weg. Nach Barmbek.

»Ich dachte schon, ihr kommt nicht mehr.« Lucys Stimme schwankte irgendwo zwischen Vorwurf und Erleichterung, als sie sich von der kleinen Stufe vor dem verklinkerten Mietshaus erhob, einem Sechzigerjahre-Kasten mit quadratischen Fenstern, in dem sie, und eigentlich auch Hannes, wohnte.

Bettys Tonfall war ausschließlich vorwurfsvoll, als sie sah, was mit Lucy auf uns gewartet hatte. »Drei Koffer, Lucinda?!« In der Tat, drei Koffer. In unterschiedlichen Größen zwar, aber trotzdem komplett den Rahmen sprengend. Und pink. Natürlich.

Lucy warf einen nachdenklichen Blick darauf, als hätte sie sie noch nie vorher gesehen. »Ist das denn zu viel?«

»Ja!«

Ich hob den größten Koffer an und fragte mich, wie Lucy es wohl geschafft hatte, ihn aus dem dritten Stock herunterzutragen. »Was hast du denn da drin?«

»Nichts.« Das stimmte natürlich nicht. »Na, wir fahren doch drei Wochen weg. Da braucht man so viel.«

»So viel was? Ambosse?« Ich musste lachen.

»Also Ambosse nehm ich nicht mit.« Mit vor der Brust verschränkten Armen schüttelte Betty vehement den Kopf. »Da kriegen wir an der Grenze nur Probleme, und das wird eh schwierig mit meinen Haaren und dem Gras.«

Lucy runzelte die Stirn. »Gras? Hä? Wozu hast du denn Gras dabei?«

»Zur Entspannung, Lucinda.«

»Versteh ich nicht.«

»Okay, ist ja auch egal«, unterbrach ich die beiden. Je weniger Lucy verstand, desto weniger wusste sie, und je weniger sie wusste, desto besser für uns, wenn wir wirklich in eine Kontrolle gerieten. Obwohl ich nicht damit rechnete. »Wir bleiben in der EU, Betty, oder? Bleiben wir doch?« Genau genommen wusste ich ja gar nicht, ob dem so war.

Betty vermied eine direkte Antwort. »Dreads sind überall verdächtig.«

»Dann setz dir eine Mütze auf. Und Lucy: Es tut mir leid, aber du musst auf jeden Fall etwas von dem Kram hierlassen. Wenn wir alle drei Koffer in den Bus laden, ist da drin kein Platz mehr für uns.«

»Aber ich kann das doch jetzt nicht alles wieder auspacken«, maulte sie. »Und wieder einpacken. Da vergess ich dann doch die Hälfte.«

Betty legte ihr aufmunternd den Arm um die Schulter. »Keine Sorge, Lucinda. Wir helfen dir.« Mein Handy klingelte, und ich rannte zum Bus. »Okay, gut, dann helf ich dir eben allein.«

»Sorry!«, rief ich den beiden über die Schulter hinweg zu, als sie ächzend und stöhnend die beiden größeren Koffer zurück ins Haus trugen. Parallel dazu klappte ich das Telefon auf. »Ja?«

»Kind!«

»Mutter!«

»Bist du schon unterwegs?«

»Quasi.«

»Bitte tu mir einen Gefallen und pass gut auf dich auf.«

»Okay.«

»Nur abgekochtes Wasser trinken, nimm nichts von Fremden an, lass Betty nicht betrunken Auto fahren, wenn etwas ist, rufst du mich sofort an … Und nicht am Strand übernachten, hörst du?«

Ich hätte darauf so einiges erwidern können, zum Beispiel, dass ich einunddreißig Jahre alt war und inzwischen sehr gut auf mich selbst aufpassen konnte, aber das hätte weder die Sorgen meiner Mutter zerstreut noch mir Zeit gespart. Mütter diskutierten solche Dinge nicht. Sie ordneten an. Also sagte ich: »Ja, Mutter.«

»Gut. Und ruf mich an.« Genau dafür fuhr man also in den Urlaub. Um in ständiger telefonischer Verbindung mit seinem Freund und der besorgten Mutter zu stehen. »Und Daphne?«

»Ja?«

Betty kam aus Lucys Treppenhaus und verdrehte die Augen, als sie mich sah. Ich formte mit den Lippen eine lautlose Entschuldigung.

»Da gibt es etwas, was mich ein wenig wundert.«

Ich war abgelenkt von Betty, die unter größter Anstrengung Lucys dritten Koffer vom Boden aufhob und ins Haus trug. »Ach ja?«, fragte ich abwesend und strich mir eine Haarsträhne aus der Stirn. Es war wirklich warm. Ausgerechnet jetzt. Wir verließen die Stadt, und der Sommer kam.

»Die Torte.«

Ich verschluckte mich und musste husten. »Torte?«

»Wir hatten eine vierstöckige Torte für das Bankett bestellt, Daphne. Jetzt sehe ich mir die Fotos von der Hochzeit an, und ich weiß nicht, wie das passieren konnte … Es ist mir an dem Abend selbst gar nicht aufgefallen, aber, Daphne … glaub es oder nicht: Da fehlte ein Stockwerk.«

Die nostalgische Vorliebe meiner Mutter, von Bildern Abzüge zu bestellen und ihr absolutes Unverständnis für Digitalfotografie hatten mir also, ohne dass es mir klar gewesen war, eine Galgenfrist beschert, die jetzt wohl abgelaufen war. »Das kann doch gar nicht sein …«

»Aber es ist so. Du weißt nichts darüber? Hast du dich vielleicht bei der Bestellung vertan?«

Fahrig fummelte ich an einem Gurt meines Rucksacks herum. Einrollen. Aufrollen. »Ich?! Nein?«, quetschte ich heraus.

»Gut. Dann ruf ich gleich bei dem Konditor an und beschwere mich. So dreist bin ich noch nie über den Tisch gezogen worden. Auf meiner eigenen Hochzeit auch noch, das muss man sich mal vorstellen!«

»Ach …« Ich überlegte fieberhaft, ich wollte etwas Beschwichtigendes sagen. »Aber es sind doch alle satt geworden. Oder?«

»Darum geht es nicht.«

Nein. Darum ging es nicht.

Sommer hin oder her. Es hatte noch nie einen besseren Grund gegeben, für ein paar Wochen die Stadt zu verlassen.

Als Betty und Lucy fünfzehn Minuten später mit einem Koffer und einer Reisetasche wieder aus dem Haus kamen, saß ich hinten im Bus und kaute auf meiner Unterlippe. Ich fühlte mich, als hätte ich ein abscheuliches Verbrechen begangen. Das perfekte Verbrechen zwar, für das ich nie geschnappt werden würde. Aber ich wusste, dass mein schlechtes Gewissen mich mein Leben lang verfolgen würde. Und der Umstand, dass wir die Leiche quasi mit in den Urlaub nahmen, war mir alles andere als angenehm.

»Was ist denn passiert, Schätzelein?« Betty wuchtete Lucys Koffer an mir vorbei in den Bus. Seine Besitzerin blieb auf dem Gehweg stehen und richtete einen schmollenden Blick auf ihre rosa lackierten Zehennägel.

Mit einem Seufzen erhob ich mich von meinem Platz und winkte ab. »Nichts Ernstes«, sagte ich. »Aber wir müssen diese Torte so schnell wie möglich verschwinden lassen. Ich empfinde ihre Anwesenheit als echte Belastung.«

Betty nickte verständnisvoll. »Geht mir genauso. Stell dir vor: Sie wollte partout ihr Glätteisen und den Föhn mitnehmen. Mit Aufsätzen!«

»Ich kann das alles hören!«, maulte Lucy aus einem Meter Entfernung.

»Betty, Lucy ist nicht die Torte, die ich gemeint habe.«

»Ich aber schon, Schätzelein, ich aber schon.« Während ich auf den Beifahrersitz kletterte, machte Betty eine einladende Bewegung in Richtung Schiebetür. »Hüpf rein, Lucinda. Das Meer wartet.«

»Na, toll.« Ich hatte Lucy selten so aufmüpfig erlebt. Aber frisch Getrennten musste man ja bekanntlich so einiges nachsehen. »Meer ohne Glätteisen. Sobald meine Haare auch nur ein bisschen feucht werden, krieg ich so eine dämliche Naturkrause. Das sieht voll bescheuert aus. Richtig hässlich.«

»Dann mach’s wie ich!« Betty zeigte stolz auf ihre Dreads.

»Igitt!« Angewidert verzog Lucy das Gesicht. »Die sind dreckig und müffeln.«

Jetzt war es Betty, die beleidigt die Unterlippe vorschob. »Na, wenn das so ist, muss ich wenigstens nicht in der Mitte schlafen.«

»Ich aber auch nicht!«, rief Lucy von hinten.

Das bedeutete dann also … Ich fuhr herum. »Moment mal!«

Mit einem lauten Knall flog die Schiebetür zu, und kurz darauf kletterte Betty neben mir auf den Fahrersitz. »Tut mir leid, Schätzelein. Wie sagten noch gleich die alten Griechen? Die Würfel sind gefallen.«

»Das waren die Römer.«

Sie ignorierte meinen Einwand und zog eine Musikkassette aus der Hosentasche, die sie mit sanfter Gewalt ins Kassettenfach der Vorderkonsole drückte.

Ein CD-Deck oder einen Anschluss für MP3-Player suchte man in Skys Bus vergeblich. Radio oder Tapes, eine andere Möglichkeit Musik zu hören gab es nicht. Betty und ich hatten die Gelegenheit genutzt, um ganz nostalgisch, wie früher, unseren Urlaubssoundtrack auf zwei 90er zu bannen. Zum Glück hatte ich mein altes Tapedeck immer aufbewahrt. Es war zwar etwas verstaubt, funktionierte aber noch einwandfrei, und so verbrachte ich einige einsame Abende – denn Richard war ja nie da –, umgeben von Bergen von CDs auf dem Boden vor dem Gerät in unserem unfertigen Wohnzimmer, rauchte Zigaretten und schwelgte in musikalischen Erinnerungen. Allein dafür musste ich mich irgendwann bei Sky bedanken.

»Moment!« Ich nahm meinen Rucksack auf die Knie und wühlte darin herum. »Ich hab doch auch ein Mixtape gemacht.«

Betty warf mir einen seltsamen Blick zu. »Ich weiß. Ich auch.«

»Ich dachte das wäre …« Ich zeigte verwirrt auf die Buskonsole.

»Das ist das Mixtape von Lucinda. Das hören wir zuerst. Schadenersatz, weil sie umpacken musste.«

»Oh, nein, bitte nicht …«

In den Boxen rauschte und knackte es. Dann ein paar Takte Musik. Dann Howard Carpendales unverkennbarer Akzent. »Du sagtest ti amo, das heißt isch lieb disch so.« Betty und ich warfen uns einen Blick zu, dann startete sie den Motor.

»Woo-hoo. Süden, wir kommen«, rief sie, aber es klang nicht begeistert.

Und hinten im Bus jaulte Lucy: »Was ist geblieben von deinem mich lieben. Von hundertmal ti amo. Sagtest du das nur so. Weil es dazu gehört. Worte sind billig, sind manchmal so billig …«

In meiner Vorstellung hatte es zu unserer Fahrt über die Elbbrücken andere Begleitmusik gegeben. Ein letzter Blick auf das schöne Hamburg, die aufsteigende Sehnsucht und die kribbelnde Urlaubsfreude im Bauch. Dazu vielleicht der Klassiker: Bob Marley. Oder was Freshes von De La Soul. Alles eigentlich. Aber Belinda Carlisle?

Betty fand’s gar nicht sooo schlecht, bat aber darum, geweckt zu werden, falls sie vor Langeweile ins Koma fiel. Diese Aussage beunruhigte mich ein wenig. Was mich außerdem beunruhigte, durfte ich nicht ansprechen, weil die Worte Zeitplan und Urlaub ja schließlich unvereinbar waren. Aber es ging, nun ja, um unseren Zeitplan. In meiner perfekten Vorstellung vom perfekten Beginn dieser perfekten Reise hatten wir die Elbe um die Mittagszeit im gleißenden Sonnenlicht überquert. In der Realität passierten wir diese Stelle erst fünf Stunden später, und es bot sich uns zwar der schöne Anblick orangefarbener Vorabendwolken, sehr viel Strecke würden wir aber heute nicht mehr machen. Wir hatten ja nur eine Fahrerin. Betty. Ich hatte keinen Führerschein, und Lucy hatte Angst, den Bus zu fahren. Die nicht zu ignorierende Wahrheit war, dass wir unseren ersten Urlaubstag komplett vertrödelt hatten. Das frustrierte mich. Weil ich deswegen aber nichts sagen durfte, stöhnte ich lediglich leise genervt.

»Schätzelein, wenn du Hunger hast, iss ein Stück Torte. Der Kühler quillt über mit dem Scheiß.«

»Ich will keine Torte essen, Betty.« Es war schlimm genug, dass ich mich des Verbrechens schuldig gemacht hatte. Jetzt auch noch die Beweismittel wegzufuttern, dafür war ich nicht abgebrüht genug.

»Torte?!«, fragte Lucy, die zwar auch nicht abgebrüht, aber ahnungslos war. Eine unwissende Mittäterin.

Ich drehte mich auf meinem Sitz zu ihr nach hinten um und zeigte auf die kleine Luke in der Bank neben dem Küchenschrankherd. »Im Kühler.« Sie beugte sich nach vorn und wollte die Klappe öffnen, doch im letzten Moment legte ich meine Hand darauf: »… wenn wir die Kassette wechseln dürfen.«

»Ich könnte auch einfach heimlich essen.«

»Aber das würdest du nicht tun.«

Sie sah mich abschätzend an, aber ich hielt ihrem Blick stand, bis sie zuerst woanders hinguckte. »Na gut.«

Ich nahm die Hand weg und drehte mich wieder nach vorn. »Betty?«

»Schon passiert!«

Es rauschte in den Boxen, und eine Sekunde später erfüllte schneller Ska den gelben Bus. Wir fuhren mit Tempo achtzig der Nacht entgegen. Es fühlte sich berauschend an.