3
Der Teil mit dem Waxing
DAPHNES MIXTAPE
Clor – Love + Pain
Es war alles ein bisschen anders gelaufen als gedacht.
Ursprünglich hatte ich für den Vorabend unserer Abfahrt ein Essen für alle Freunde in unserer Küche geplant. Mit Sekt und Räucherlachs. Für Betty, Mo, Sky, Lucy, Hannes, Richard und mich selbst. Das klappte aber nicht.
Unter anderem weil Mo bereits mit Max im Gepäck und den Großeltern im Schlepptau im Zwei-Auto-Konvoi auf dem Weg zur Ostsee war. Betty fühlte sich deswegen um einen letzten Abend mit ihrem Kind betrogen und hatte schlechte Laune.
Lucy torpedierte meinen Plan, ganz nebenbei eine Aussprache zwischen ihr und ihrem Exfreund zu ermöglichen, indem sie sich weigerte, unsere Wohnung oder auch nur die Straße, in der wir lebten, zu betreten, solange sich dort Hannes, der freundliche, aus gegebenem Anlass jedoch äußerst deprimierte Hausgeist, aufhielt. Und auch wenn dieser angeboten hatte, die Räumlichkeiten für die Dauer des Essens zu verlassen, so war das natürlich keine Lösung, die ich akzeptieren konnte. Sollte das jetzt ewig so weitergehen? Es war unmöglich für mich, mich für oder gegen einen der beiden zu entscheiden. Schlimm genug, wenn man nach einer Trennung ausdiskutieren musste, wer die gemeinsame Wohnung behalten durfte. Oder wer denn nun die Beasty-Boys-LP mit in den gemeinsamen Haushalt gebracht hatte. Richtig haarig wurde es dann spätestens bei der Frage, wie man mit dem gemeinsamen Freundeskreis verfahren sollte. Ich fühlte mich ein bisschen wie damals, mit zehn, als Scheidungskind. Dabei bestand das ganze Dilemma erst seit einer knappen Woche.
Und als wäre es nicht schon traurig genug, auf Hannes und Lucy verzichten zu müssen, ließ mich auch noch Sky hängen, der zwar vorgab, untröstlich zu sein, weil er den geselligen (na ja) Abend verpassen würde, an diesem Umstand jedoch beim besten Willen nichts ändern konnte, da er sich quasi bereits auf dem Weg zu einem kleinen Goa-Festival befand. Er musste bloß noch schnell seine neue Freundin abholen, bevor er die Stadt verließ. Sie hieß Tabea und war Apothekerin von Beruf, was Sky als glückliche Fügung betrachtete.
Und apropos glückliche Fügung: Wahrscheinlich war es das Beste für alle, dass dieses Essen nicht stattfand. Denn selbst wenn alle Gäste erschienen und nett zueinander gewesen wären: dafür, dass am Tisch trotzdem keine gute Stimmung herrschte, hätten Richard und ich garantiert gesorgt. Darin waren wir gut, vor allem jetzt, da sich die Fronten zwischen uns zunehmend verhärtet hatten. Weil die Küchenwand nach einer Woche noch immer fleckig und die Milch alle war, ich mir im dunklen Flur etwa ein Dutzend neue blaue Flecken geholt hatte, und weil ich mich über all diese Dinge nicht direkt bei Richard beschweren konnte, weil er so gut wie nie da war und wir uns allerhöchstens mal zufällig über den Weg liefen. Und dann war da noch die Sache mit dem Waxing …
Im Grunde war Leila Schuld. Leila, meine einzige Angestellte in Schimanski’s Antiquitätenladen. Am Montag hatte sie mich gefragt, ob ich schon einen Termin gemacht hätte.
»Was für einen Termin?«, hatte ich gefragt.
»Na, fürs Waxing.« Und weil ich sie nur verständnislos anstarrte, eine alte Schneekugel in der einen Hand und ein Staubtuch in der anderen, erklärte sie genauer, was sie meinte, und zwar ganz langsam. »Haar-ent-fernung? Du fährst doch an den Strand, oder?«
Ich nickte. »Ja.«
»Und du trägst einen Bikini?«
Ich nickte wieder.
Sie zog ihre Augenbrauen hoch, aufmunternd, als würde das dem Groschen beim Fallen helfen.
Und das tat er auch. »Aaaach soooo!« Ich rieb mit dem Tuch an einer imaginären Verschmutzung auf der gläsernen Kuppel der Schneekugel herum. »Nein, ich hab keinen Termin gemacht.«
»Na, dann wird es aber Zeit.«
Damit mochte sie recht haben. Ich wusste es nicht. Denn: »Ich hab so was noch nie gemacht.«
Leila sah ehrlich schockiert aus. Sie hatte dieses Gesicht, das viel besser als Worte ausdrücken konnte, was sie meinte. Wenn sie nicht gerade Kaugummi kaute. Sie hätte Schauspielerin werden sollen, nicht Teilzeitkraft in einem Antiquitätenladen. »Du hast noch nie die … die … äh …« Sie ließ ihre Hände, während sie nach dem richtigen Ausdruck suchte, v-förmig an der Innenseite ihrer Schenkel hinuntergleiten. Professionelle Scharadistin wäre eine weitere Karriereoption für sie gewesen. Aber dafür war es ja nie zu spät.
»Bikinizone?«, kam ich ihr zu Hilfe.
Sie sah erleichtert aus. »Ja, genau. Ich wollte jetzt nicht Muschi sagen.« Erschrocken schlug sie sich mit der Hand vor den Mund. »Jetzt hab ich’s doch gesagt.«
»Macht nichts. Ich bin alt genug.« Allerdings war ich mir nicht sicher, ob ich als Führungskraft mit meiner neunzehnjährigen Angestellten über solche Dinge reden sollte. Wahrscheinlich nicht. »Kannst du übrigens mal im Lager nachsehen, ob wir noch Luftpolsterfolie haben?«, versuchte ich, von dem Thema abzulenken. »Vielleicht müssen wir welche nachbestellen, ich weiß grad gar nicht …«
»Meine Tante kann das machen.«
»Luftpolsterfolie nachbestellen?«
»Deine Bikinizone enthaaren.« Ich verdrehte die Augen hilfesuchend gen Ladendecke, während Leila sich über den massiven Schreibtisch aus dem neunzehnten Jahrhundert lehnte, den wir als Kassentresen benutzen, und nach dem Geschäftstelefon griff. »Meine Tante Filiz hat einen Schönheitssalon, die machen das wirklich gut da. Ich ruf sie mal schnell an und sag ihr, dass ich einen Notfall für sie habe.«
Bisher hatte ich meine Bikinizone nicht als Notfall betrachtet, aber bitte, Leila war ohnehin nicht aufzuhalten.
Also lag ich zwei Tage später nach Ladenschluss für meinen Geschmack viel zu nackt und mit angewinkelten Beinen auf Tante Filiz’ Behandlungsliege und fragte mich wieder und wieder, warum ich nicht einfach abgelehnt oder den Termin hatte ausfallen lassen.
Und auch Filiz stellte Fragen. Sie erkundigte sich nach meinem Urlaubsziel, meiner Reisebegleitung und der Farbe meines Bikinis. Wahrscheinlich um herauszufinden, ob sich das Rot meiner wunden Haut später damit beißen würde. In der Luft lag der angenehme, süße Geruch von warmem Wachs.
»Und wie macht sich Leila so? Arbeitet sie gut?«, fragte Tante Filiz beiläufig, als würden wir uns schon ewig kennen und hätten uns gerade zufällig an der Käsetheke getroffen. Nichts in ihrer Stimme ließ darauf schließen, dass sie gerade mit einer völlig Fremden plauderte, während sie heißes, klebriges Wachs auf der Innenseite ihrer Schenkel verteilte.
In Anbetracht dieser Tatsache gingen mir ganz andere Dinge durch den Kopf als die Arbeitsleistungen meiner Aushilfe. Zum Beispiel, wie sehr es wehtun würde, wenn Filiz diesen Wachsstreifen später wieder abzog. Ich fragte vorsichtshalber nach. »Tut das sehr weh?«
»Das Abziehen?«
Ich nickte.
Filiz wiegte den Kopf. »Das ist ganz unterschiedlich. Bei manchen mehr, bei anderen weniger.« Ich betete, dass ich zu den anderen gehörte. »Im Endeffekt reiße ich dir an einer sehr empfindlichen Stelle deine Haare mit der Wurzel aus. Wenn du das nicht merken würdest, wäre das ein Grund zur Sorge. Aber wie heißt es?« Sie lächelte mich sanft an, aufmunternd, aber auch irgendwie mitleidig. »Wer schön sein will, muss leiden. Bereit?«
Ich nickte wieder. »Nein.«
»Wieso gehst du denn so komisch?«, fragte Richard.
Es war halb eins. Das sagte jedenfalls die antike Uhr an der schiefen, fleckigen grauen Küchenwand. Eigentlich lag ich schon im Bett und war nur noch einmal aufgestanden, um mir ein Glas Wasser zu holen. Weil ich nicht schlafen konnte, weil der Schmerz prickelte. Ich trug Richards weite Pyjamahose. Die schubberte nicht so. Und ja, ich watschelte. Dafür gab es keinen geringeren Grund als den, dass ich mir einbildete, es würde zwischen meinen Beinen brennen. Ein echtes Feuer. Wie zur Waldbrandsaison in Kalifornien. Wie hätte ich ahnen sollen, dass meine Haut derart empfindlich reagieren würde? Wie gesagt, ich hatte so etwas ja noch nie vorher gemacht.
»Ich war beim Waxen.«
Richard war gerade erst von der Arbeit gekommen. Er hatte sich weder Schuhe noch Jacke ausgezogen und war stattdessen direkt in die Küche an den Kühlschrank gegangen, um, mal wieder, Orangensaft direkt aus der Flasche zu trinken. Ich sagte mir, dass es kleinlich war, sich darüber zu ärgern. Und ärgerte mich trotzdem, dafür aber still und heimlich, während ich demonstrativ ein Glas für mein Wasser aus dem Schrank holte.
Er trank geräuschvoll mehrere Schlucke, setzte ab und atmete schwer aus. »Du warst wo?«
»Beim Waxen.« Und weil er mich nur verständnislos ansah, während er den Verschluss auf die Saftflasche schraubte, schob ich zur Erklärung hinterher: »Haarentfernung. In der Bikinizone.«
»Ich weiß, was Waxing ist, Daphne.«
»Echt?« Das überraschte mich ein bisschen.
Leicht empört verschränkte Richard die Arme vor seiner Brust. »Was denkst du denn? Ich leb doch nicht hinterm Mond. Ich kapier nur nicht, wieso du das gemacht hast.«
»Na, ist doch klar.«
»Du bist unter die Masochisten gegangen?«
»Nein, Richard«, erklärte ich, langsam und logisch, so wie Männer das angeblich mögen: »Ich fahre am Samstag in den Urlaub. Und ich finde es unästhetisch, wenn links und rechts und oben und überhaupt ein Busch aus meinem Bikinihöschen wächst.«
»Aha.« Die Flasche wurde an ihren Platz zurückgestellt, und irgendwie wurde es kälter in der Küche, was vielleicht am offenen Kühlschrank lag. Oder daran, dass sich etwas anderes abgekühlt hatte. Mein Freund.
»Aha, was?«
»Na ja, interessant, dass du das im Urlaub unästhetisch findest. Und sonst nicht.«
Ich stand an der Spüle und fühlte mich ziemlich dumm mit diesen viel zu großen Hosen und dem pavianarschroten Schritt darunter. »Was soll das denn jetzt?«
»Ich mein ja nur. Für mich hast du das noch nie gemacht. Aber Hauptsache die Kerle am Strand haben was zu gucken, oder wie?«
»Bist du etwa eifersüchtig?« Ich versuchte zu lachen, weil ich hoffte, er würde dann mitlachen und merken, wie albern das alles war. »Das hat doch nichts mit anderen Kerlen zu tun …«
»Aber mit uns hat es vielleicht etwas zu tun.« Richard lachte leider nicht. Er sah sogar ziemlich ernst aus. »Ich kann mich nicht daran erinnern, wann du dir das letzte Mal für mich Mühe gegeben hast.«
Und so wurde aus dem schwelenden, diffusen Gefühl des »Etwas stimmt hier nicht«, in dessen Zeichen die letzten Tage und Wochen gestanden hatten, etwas Handfestes. Jetzt war es also so weit: Ein Streit entzündet sich an meinem feuerroten Intimbereich. Das ultimative Waxing-Gate. Die Haarwurzel allen Übels. Wie überaus albern, dass ich hier breitbeinig stand und mit dem Mann, mit dem ich für immer zusammenbleiben und Kinder zeugen sollte, über Haarentfernung debattierte. Und wie albern, dass ich dem keinen Riegel vorschob, sondern, im Gegenteil, voll darauf einstieg.
»Gut, dass du es ansprichst, Richard. Das Sich-Mühe-Geben. Ich kann nämlich auch nicht sehen, dass du dich besonders ins Zeug legst«, motzte ich ihn an und nickte in Richtung der hässlichen Küchenwand.
Die Antwort darauf war ein genervtes Schnalzen mit der Zunge. »Es ist nur eine beschissene Wand!«
»Genau. Beschissen. Aber nicht nur eine, Richard. Die ganze Wohnung ist voll mit beschissenen Wänden.« Mit einem Knall stellte ich mein Glas auf dem Küchentisch ab und hoffte, dass Hannes davon nicht wach geworden war. »Und was ist mit mir? Ich fahr am Samstag für drei Wochen in den Urlaub. Und du kannst nicht mal einen Abend freinehmen und früher nach Hause kommen, damit wir vorher noch ein bisschen Zeit zu zweit verbringen? Nachdem du ja schon nicht mitkommst, weil es ja anscheinend unmöglich ist, dich für ein paar Tage von deinem blöden Job zu lösen.«
»Ich kann’s nicht mehr hören, Daphne. Ich hab dir schon tausendmal erklärt, dass es einfach nicht geht. Ich find’s ja selber scheiße.«
»Es geht schon. Du willst nur nicht.«
»Das ist doch Quatsch.«
»Aha, das ist also Quatsch. Aber dass du mir vorwirfst, ich würde mir die Haare wegen irgendwelcher Spacken am Strand rausreißen lassen, das ist kein Quatsch, oder was?«
Richard atmete hörbar aus und lehnte sich an den Kühlschrank. »Was das eine jetzt mit dem anderen zu tun haben soll, kapier ich nicht, tut mir leid.«
»Das hängt alles zusammen, Richard, alles. Denn wenn du wirklich so einen Scheiß denkst, komm doch einfach mit! Dann kannst du aufpassen, dass ich dich nicht mit dem erstbesten Typ in Badehose betrüge. Denn davon gehst du doch aus, oder nicht? Aber nein!« Ich warf dramatisch die Arme in die Luft. »Dein Job ist wichtiger. Ist doch kein Wunder, dass ich mir nie diese Mühe für dich mache. Du würdest es eh nicht sehen. Du bist ja nie da! Und wenn du doch da bist, schläfst du oder stehst vor dem Kühlschrank und trinkst aus der Flasche Orangensaft, statt zu dem beschissenen Schrank da drüben zu gehen und dir ein beschissenes Glas rauszunehmen. Obwohl mich das nervt. Aber selbst darauf Rücksicht zu nehmen ist von dir anscheinend schon zu viel verlangt.«
Richard erwiderte daraufhin nichts.
Und ich sagte auch nichts mehr. Ich schnaufte noch einmal, dann waren mir die Worte ausgegangen.
Und so standen wir einander gegenüber. Keine Ahnung, wie es ihm ging. Vielleicht so wie mir. Vielleicht hätte er mich am liebsten in den Arm genommen, so wie ich ihn, und das alles vergessen. Vielleicht wollte er mich, so wie ich ihn, gleichzeitig am liebsten zum Teufel jagen. Und vielleicht stand er deswegen, so wie ich auch, einfach da. Wartete ab, was ich tun würde. Tat, was ich tat. Nichts. War mir böse, dass ich nicht Tor eins wählte, die Versöhnung. So verlockend einfach das gewesen wäre – etwas war im Weg und machte es schrecklich schwer. Eine Mauer aus Stolz. Oder Dummheit.
Die Küchenuhr tickte so laut, dass es mir auf die Nerven ging, und die Kälte des verdammten Altbauküchenfußbodens kroch mir die Beine hoch. Fußkälte. Das waren also die Dinge, mit denen man sich nach zwei Jahren Beziehung auseinandersetzen musste. Im Ernst?
Richard sprach zuerst. »Ich schlaf heute auf dem Sofa.«
»Geht nicht«, antwortete ich, »da schläft schon Hannes.«
»Tja«, sagte Richard.
Insgesamt hatte ich mir das alles also viel harmonischer vorgestellt. Lachen, Liebe und Lachs sozusagen. Damit Betty und ich mit einem guten Gefühl und einer schönen Erinnerung an zu Hause in den Urlaub aufbrechen konnten. Jetzt saßen wir zu zweit in der Küche, während Hannes und Richard im Wohnzimmer auf ihren Gitarren herumspielten und sich auf drei Wochen Männerwirtschaft einstimmten. Vereint in ihrer Enttäuschung über die Frauen.
»Und das ganze Theater wegen ein paar Haaren.« Betty schüttelte den Kopf. »Tat es denn nun weh?«
»Sagen wir mal so: Ich brauch das nicht jeden Tag.«
»Bescheuert von Richard, sich darüber so aufzuregen. Er hätte ja auch schön noch ein paar Tage davon profitieren können, Sex mit seiner geilen, haarlosen Alten.«
»So weit hat er nicht gedacht.«
»Du ja offenbar auch nicht.« Sie zündete sich eine selbst gedrehte Zigarette an und blies den Rauch langsam aus. »Ich kapier das einfach nicht. Wieso sollte man sich streiten, wenn man auch einfach Sex haben kann?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Ich kann keinen Sex haben, wenn ich sauer bin.«
»Und ich hab keinen Sex. Punkt.« Sie kniff die Augen gegen den Rauch zusammen. »Ich glaube, Mo hat ’ne Neue. Der versucht es nicht einmal mehr bei mir. Aber«, sie warf mir einen verschwörerischen Blick über den Tisch hinweg zu, »dafür fahren wir ja in den Urlaub. Unter anderem.«
»Also ich nicht!«
»Nee, du nicht, Schätzelein. Du willst lieber drei Wochen lang darüber nachdenken, was es noch alles für Sachen gibt, die dich an Richard stören. Aber ich, ich habe vor, mich vollkommen und komplett zu amüsieren. Mit allem, was dazugehört. Sonne, Strand, Völlerei, Sex. Das ganze Programm.« Mit einem verschmitzten Grinsen auf den Lippen nahm sie einen weiteren Zug von ihrer Zigarette.
Ich musste lachen. »Von mir aus. Nur zu.« Irgendwo in meinem Bauch kribbelte es. Vorfreude. Die Aussicht auf drei Wochen ohne den ganzen Ärger. Und wenn ich zurück war, würde sich bestimmt alles klären, ein bisschen Abstand hatte schon oft wahre Wunder bewirkt, war es nicht so? Absence makes the heart grow fonder.
»Hast du schon gepackt?«, fragte ich Betty und war nicht überrascht von ihrer Antwort.
»Mach ich morgen früh.« Nebenan entfesselten Hannes und Richard ihren inneren Kurt Cobain und gaben eine krude Wohnzimmerversion von »About A Girl« zum Besten. »Erinner mich daran, dass ich meine Gitarre mitnehme.«
»Wann? Jetzt?«
»Und vielleicht morgen noch einmal, wenn wir auf der Autobahn sind«, Betty lehnte sich auf der Küchenbank zurück. »Dann scheiß ich drauf und fahr einfach weiter.«
»Apropos weiterfahren …« Ich beugte mich über den Tisch und klaute Bettys Zigarette, um auch einen Zug zu nehmen. »Wohin fahren wir eigentlich?« Es mag erstaunlich klingen, aber die Frage unseres Reiseziels hatten wir bisher nicht geklärt. Wir hatten den Bus, wir waren frei. So sah Betty das und hatte sich bisher auf kein Ziel festlegen wollen. Da sie unsere einzige Fahrerin war, lag diese Entscheidung ohnehin im wahrsten Sinne des Wortes in ihrer Hand. Und das war im Grunde auch in Ordnung. Aber: »Die grobe Richtung wüsste ich schon gern, Betty. Ich hab’s nicht so mit der großen Ungewissheit.«
»Woher soll ich denn jetzt bitte wissen, wo wir …«, begann sie, hielt aber an sich, als sie mein Gesicht sah. »Du bist echt ein Kontrollfreak, Schätzelein, weißt du das?«
»Abenteuer waren noch nie mein Ding.«
»Ja, und dagegen solltest du dringend etwas tun. Wenn man immer alles durchplant, bringt man sich ja um den ganzen Spaß.«
»Betty …!«
»Ist doch so.« Sie nahm mir die Zigarette wieder ab und seufzte entnervt. »Da hab ich mir ja genau die richtige Reisepartnerin ausgesucht. Großartig. Aber okay, gut, von mir aus. Wir fahren …«
Ich lächelte sie erwartungsvoll an. »Ja?«
»Richtung …«
»Jetzt sag!«
Mit einem Grinsen drückte sie die Zigarette im Aschenbecher aus. »Im Zweifel immer südwärts.«
Meine Großmutter hatte mir zwei wichtige Beziehungstipps mit auf den Weg gegeben. Nummer eins: Man soll niemals im Streit ins Bett gehen. Zu ihrer Zeit war diese ganze Versöhnungssex-Angelegenheit anscheinend noch nicht so weit verbreitet gewesen. Oder sie existierte nur als stiller Zusatz: Man soll nie im Streit ins Bett gehen, es sei denn, man hat vor, ihn mit hemmungslosem Versöhnungssex vergessen zu machen. Betty hätte das unterschrieben, ich war wie gesagt nicht der Typ dafür. Für mich kam erst die Versöhnung, dann der Sex. Und wenn es keine Versöhnung gab, dann gab es auch keinen Sex. Schlimmer noch: Dann kam es zu dem, wovor Oma Mathilde eigentlich hatte warnen wollen: dem Einschlafen im Zorn.
Ihre zweite Warnung: Eine Beziehung ist wie eine Vase. Wird sie nicht pfleglich behandelt, dann bekommt sie Risse. Man kann sie natürlich kleben, aber das sieht dann meistens scheiße aus. Oma Mathilde hätte nie das Wort »scheiße« benutzt, aber sinngemäß war es so: Wenn man zu oft kitten muss, kann man das Ding irgendwann auch einfach wegschmeißen.
Als Betty sich verabschiedet und Hannes sein Nachtlager im Wohnzimmer aufgeschlagen hatte, lagen Richard und ich nebeneinander in unserem Bett, zum letzten Mal für die Dauer von drei Wochen, und mir kam Oma Mathilde in den Sinn, die immerhin von ihrem siebzehnten Lebensjahr bis zu ihrem Tod mit achtundachtzig Jahren eine stabile Ehe mit Opa Gerald geführt hatte. Zumindest bis er neun Jahre vor ihr gestorben war. Irgendetwas musste also an ihren Tipps dran gewesen sein. Doch trotzdem, obwohl ich das alles wusste, lag ich hier schweigend neben meinem Freund, den ich liebte, und tat genau das, was falsch war – nämlich weiterschweigen. Spring über deinen Schatten, dachte ich, wer weiß, wie oft Mathilde das in ihrem Leben tun musste. Unzählige Male sicher. Beziehungen waren eben kein Softeis.
Während ich einerseits noch mit mir selbst kämpfte und andererseits zu ergründen versuchte, wie um alles in der Welt ich bloß auf diese Softeisanalogie gekommen war, räusperte sich Richard neben mir:
»Tante Doris sagt, man soll nicht im Streit ins Bett gehen.«
»Die auch?«, fragte ich matt, und dachte: Großartig. Jetzt hat schon wieder Richard den Punkt auf der Vernunftskala eingeheimst. Und dabei war dieser schon so gut wie meiner gewesen. Aber knapp vorbei …
»Wer denn noch?«
»Hm?«, machte ich abwesend.
»Wer sagt das noch?«
»Ach so. Meine Oma.«
»Tja.« Richard zupfte seine Decke gerade. »Und jetzt?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht. Lernen wir von den Alten und Weisen?«
Und wenn ich sagte wir, dann meinte ich das eigentlich auch so. Dass wir uns gemeinsam miteinander versöhnen sollten, sodass keiner klein beigeben musste, etwas, das weder Richard noch ich gern taten. Allerdings stand ich mit meinem Bemühen um Diplomatie allein da, denn Richard machte keine Anstalten, auf mein verstecktes Angebot einzugehen. Er lag einfach nur da, die Hände hinterm Kopf verschränkt, und sah mich erwartungsvoll an.
Ich hielt seinem Blick eine Weile stand, bevor ich leicht genervt fragte: »Was?«
»Ich denke, wir versöhnen uns.«
»Ja. Eben. Wir. Warum muss ich denn jetzt den Anfang machen?«
»Ist doch egal, wer den Anfang macht.« Richard setzte sich lachend auf. Für ihn hatte die ganze Sache längst an Brisanz verloren und war nichts weiter als ein Spiel. Eigentlich mochte ich an ihm, dass er die Dinge nicht so ernst nahm. Eigentlich. Ausgenommen Momente wie dieser, in dem für mich die Spielphase noch nicht erreicht war.
»Ich will aber nicht diejenige sein, die klein beigibt«, murmelte ich in mein Kissen.
Richards Belustigung war offensichtlich. »Aber hier geht es doch nicht um Gewinnen oder Verlieren, Daphne. Das ist doch kein Boxkampf …«
Ja, da hatte er recht. Ich holte tief Luft und bemühte mich, liebevoll, sanft und versöhnlich zu klingen: »Wollen wir uns nicht vertragen? Ich würde es hassen, morgen im Streit wegzufahren.«
»Ich auch«, sagte er, strich mir über die Wange und legte sich wieder hin.
»Gut«, sagte ich. Und wartete darauf, dass noch etwas von ihm kam. Ein kleines Lob vielleicht, ein Kompliment, eine Freundlichkeit irgendeiner Art. Aber nichts dergleichen war von der anderen Seite des Betts zu hören. Irritiert knautschte ich das Kissen unter meinem Kopf zu einer bequemen Rolle zusammen und platzierte die Knirschschiene in meinem Mund. Und bemerkte in dem Moment, als ich meine Augen schloss, Richards Hand, die sich ihren Weg meine Taille hinab suchte und mich näher an sich zog. Dann ein Kuss in den Nacken und sein warmer Atem in meinem Ohr. Und schließlich ein Wort, das eigentlich keine Frage war:
»Versöhnungssex?«