13

Der Teil, in dem ein Wunder geschieht

BETTYS MIXTAPE

Bob Marley – Jammin’

Die Ereignisse der Nacht hatten mich wohl mehr mitgenommen, als ich vermutet hätte. Die Ereignisse der letzten Nacht, oder die der letzten Tage, vielleicht war es auch mein komplettes Leben, das mich so mitnahm. Jedenfalls schlief ich tief und fest wie ein Baby. Oder ein Stein. Und wachte erst auf, als die Vormittagssonne schon seit Stunden ihren Betrieb aufgenommen und die Luft über der Hochebene zum Flimmern gebracht hatte. Ich war mal wieder allein im Bus. Es war so heiß, dass ich mich damit begnügte, ein dünnes T-Shirt-Kleid überzuwerfen und in meine Sandalen zu schlüpfen, bevor ich die Tür öffnete und zunächst einmal nichts sah, weil die Sonne mich derartig blendete.

»Guten Morgen, Schätzelein«, hörte ich Bettys Stimme. Ich schirmte meine Augen mit der Hand gegen die Sonne ab und erkannte, dass sie neben Marco auf einem Klappstuhl vor seinem Camper saß, einen Joint rauchte und Kaffee trank. Marco hatte sich die langen Haare zu einem Zopf geflochten und sah ein bisschen so aus wie ein Indianer. Gemeinsam mit dem seltsamen Ort, an dem wir uns befanden, und dem grellen Licht, das alles überstrahlte, wirkte der Anblick ziemlich surreal auf mich, wie ein Traumbild.

Ich hob eine Hand zum Gruß. »Howgh!«

Marco runzelte die Stirn. »Hä?«

»Nicht so wichtig.« Als ich die Strecke zwischen Bus und Camper zurückgelegt hatte, schwirrte mir der Kopf, offenbar war mein Kreislauf noch nicht ganz auf der Höhe, ich ließ mich auf der Wiese nieder und zupfte an den vertrockneten spärlichen Grashalmen neben meinen Füßen. Mein Blick wanderte über die Ebene, auf der wir uns befanden. Um uns herum gab es nichts, keine Häuser, keine Bäume oder nicht einmal Schatten. Bloß den Bus und den Van, die Wiese, auf der wir saßen, Felder und Weiden und viel, viel Himmel. Wir waren weit oben auf dem Berg, über allem. Ein gutes Gefühl – ein bisschen mehr Heidi vielleicht, als ich es in diesem Urlaub erwartet hatte, aber an diesem Urlaub war ja schließlich so einiges anders, als ich es erwartet hatte. Langsam gewöhnte ich mich irgendwie daran.

Betty pustete in ihren Becher und hielt mir den Joint hin, aber ich schüttelte den Kopf. Ich hatte ja noch nicht einmal gefrühstückt.

»Du kannst dich auf meinen Stuhl setzten.« Marco erhob sich und machte eine einladende Bewegung. »Ich kümmer mich um euren Bus.«

Ich sah dankbar zu ihm hoch. »Dich hat echt der Himmel geschickt, Marco. Wir haben zwar nicht viel … also eigentlich gar nichts, aber wenn du dafür irgendeine Form von Bezahlung willst …«

»Mach dich nicht lächerlich.« Er grinste, holte seinen Werkzeugkoffer aus dem Van, schlenderte zu unserem Bus hinüber … und zog sich unterwegs ganz beiläufig und zu meiner großen Überraschung sein T-Shirt aus.

Eigentlich war der Anblick nicht wirklich das, was man gewöhnlich als schön oder sexy bezeichnete. Marco hatte nun einmal einen sehr massigen Körper. Und viele Haare, die überall auf diesem Körper wuchsen. Trotzdem musste ich einfach hinsehen. »Warum macht er das?«, fragte ich Betty, ohne den Blick abzuwenden.

Sie schmunzelte und nahm einen Zug.

»Für dich, oder?« Ich hatte es ja gewusst! »Er hat diesen kleinen Striptease für dich eingelegt.«

Ausatmen, ein Schluck Kaffee. »Schätzelein, ich glaube, ihm ist einfach heiß.«

»Vielleicht. Vielleicht machen die das in Hessen aber auch einfach so, wenn sie zeigen wollen, dass sie Interesse haben. So nach dem Motto: Ich zeig dir meins, zeig mir deins. Das würde dir doch auch ganz gut passen, oder?« Ich tat, als betrachtete ich intensiv meine Fingernägel. Dabei war ich hoch konzentriert damit beschäftigt, jede Reaktion von Betty wahrzunehmen und sofort zu analysieren. »Schließlich hattest du dir ja vorgenommen, im Urlaub ein bisschen Spaß zu haben …« Ich drehte meinen Kopf zur Seite und sah direkt in Bettys amüsiertes Gesicht.

»Schätzelein, Marco ist nicht gerade das, woran ich dachte, als ich sagte, dass ich etwas Spaß haben will«, lachte sie.

»Ja, aber warum denn nicht? Der ist doch …« Unsere Blicke wanderten hinüber zu dem pummeligen Indianer mit dem T-Shirt-Teint, der sich den behaarten Bauch kratzte und über ein Kfz-technisches Problem nachzudenken schien. »Na ja, er ist sehr hilfsbereit. Und witzig.«

»Tja. Da hat sie recht.« Betty nickte zustimmend. »Nur leider ist das für die Art von Spaß, an die ich dachte, gar nicht mal so wichtig.«

»Du bist ganz schön oberflächlich, Betty.«

»Nur beim Sex.«

»Ja, aber man soll doch beim Sex lachen. Das hab ich mal gelesen. Das ist gut für die Beziehung und die emotionale Verbindung, und für die Orgasmusfähigkeit ist das sicherlich auch auf irgendeine Art gut …«

Betty schien nicht überzeugt. Zu Recht. Ich fand das Argument ja selbst lahm. Außerdem war mir sowieso klar, dass es nicht dabei helfen würde, Marco Betty schmackhaft zu machen – auch wenn sie Orgasmen natürlich super fand. Trotzdem suchte sie sich ihre Männer nun einmal immer selbst aus, vom Verkuppeln hielt sie nichts. Und ich hatte in all den Jahren, die wir uns kannten, auch nie einen Versuch gestartet, sie mit einem Mann zusammenzubringen, egal wie gut er und Betty in meinen Augen zusammenpassten.

Das hier, allerdings, war ein Sonderfall, das spürte ich einfach. Irgendwas war zwischen diesen beiden. Eine Verbindung, die ich so noch in keiner von Bettys vorherigen Beziehungen bemerkt hatte. Nicht einmal zwischen ihr und Mo herrschten eine solche Harmonie und dieses wortlose Verständnis. Und dabei kannten sich Marco und Betty erst seit wenigen Tagen. Es war offensichtlich: Der Indianer aus Hessen und das Mädchen mit der alternativen Frisur waren füreinander bestimmt. Marco jedenfalls schien nur darauf zu warten, dem Ganzen eine Chance zu geben. Jetzt brauchte nur noch Betty einen Schubs in die richtige Richtung, und die Dinge würden ihren Lauf nehmen.

»Du kannst es ja einfach mal ausprobieren«, schlug ich etwas plump vor.

Betty lächelte. »Eher geh ich ins Kloster.«

Ich seufzte. Das war kein ermutigender Zwischenstand. Aber wir hatten ja Zeit. Etwas zwickte mich ins Bein. Biss Nummer acht. »Wo ist eigentlich Lucy?«

»Spazieren gegangen.«

»Hoffentlich trifft sie nicht den Yeti und läuft wieder vor Schreck davon. Ich hab keine Lust, jeden Tag ein Suchkommando zu starten.«

Der Joint knisterte. Es klingelte. Ja, wirklich. Das Geräusch war so ungewohnt, dass ich es erst gar nicht bemerkte. Dann dauerte es noch einen Moment, bis ich wahrnahm, dass ich gemeint war. Als ich endlich von dem Klappstuhl aufsprang und über die Wiese lief, hatte Marco seinen nackten Oberkörper schon unter dem Bus hervorgeschoben und rief: »Ey! Hier klingelt ’n Handy!«

»Ich weiß!«, rief ich außer Atem im Vorbeirennen, riss die Beifahrertür auf und bekam das Telefon gerade noch rechtzeitig zu fassen.

»Hallo?«

Richard klang genervt. »Ich wollte gerade auflegen.«

»Ich musste erst noch zum Bus laufen.« Ich atmete schwer, um den Wahrheitsgehalt zu unterstreichen.

»Seit Tagen ist das Handy aus. Ich hab schon gedacht, dir ist was passiert.«

»Ich hatte keinen Empfang. Der Bus ist liegen geblieben.« An dieser Stelle hätte ich besorgtes Nachfragen erwartet. Aber dazu hatte Richard wohl schon zu viel Wut aufgestaut.

»Aha«, war das Einzige, was er sagte.

»Ist das alles?«

»Na ja, du hättest doch sicherlich irgendwo ein Münztelefon finden können, um dich zu melden. Wenn du gewollt hättest.«

Ich war kurz davor, zu sagen, dass ich eben nicht gewollt hatte, nur war ich inzwischen schlau genug zu wissen, dass genau das die Sätze waren, die man später bereute. Später, wenn es zu spät war. »Tut mir leid.« Wobei ich es allerdings auch nicht belassen wollte. »Du kannst aber nicht einfach davon ausgehen, dass ich mich jeden Tag bei dir melde, Richard. Ich bin im Urlaub.«

»Wir haben vor fünf Tagen das letzte Mal miteinander gesprochen.«

»Vier.«

»Oh, na dann ist es natürlich was anderes.«

Ich kratzte an der Stelle mit dem frischen Stich, die inzwischen angefangen hatte, zu jucken wie blöd. »Wie geht’s dir so?«

»Mir?«

»Ja. Klar.« Als wäre das so eine abwegige Frage.

»Alles normal. Wie immer.«

»Und Hannes?«

»Unverändert. Er redet ausschließlich über Lucy. Wir waren gestern Abend aus. So ein Mädel hat ihn angebaggert. Er hat sie sogar auf ein Bier eingeladen, worüber ich wirklich erleichtert war. Ich dachte, jetzt geht es endlich bergauf. Tja.«

»Was, tja?«

»Sie hat sich eine halbe Stunde lang sein Gelaber über Lucy angehört, und als er angefangen hat zu heulen, ist sie gegangen.«

»Er hat geheult?«

»Jep.«

»Freitagnacht auf dem Kiez?«

»Wenn man genauer darüber nachdenkt, ist das eigentlich gar nicht so außergewöhnlich, oder?«

Das stimmte. Freitagabende auf dem Kiez boten oft genug Anlass, sich mal so richtig schön auszuweinen. Hannes tat mir trotzdem leid. »Der arme Hannes.« Plötzlich kam mir in den Sinn, dass wir während all unserer Telefonate bisher ausschließlich gestritten oder über Hannes gesprochen hatten. Oder wegen Hannes gestritten. Jedenfalls ging es immer nur um Hannes. Ich dachte an Ehepaare, die miteinander nur über ihre Kinder reden. Oder ihren Hund. Oder mit ihrem Hund, aber nicht miteinander. Hannes war unser Hund, im übertragenen Sinne. »Ist dir in den letzten Tagen nicht irgendetwas Aufregendes passiert?«, fragte ich Richard, und es war eigentlich mehr ein Flehen.

»Nein, Daphne, hier geht alles seinen gewohnten Gang.«

»Verstehe. Warum rufst du mich denn dann an?«

»Weil ich fand, dass es nach fünf Tagen mal wieder Zeit wäre.«

»Vier.«

»Und?«

Geht so, dachte ich. Das war das Ende.

»Das ist das Ende«, stöhnte ich, und ließ mich neben Betty auf den zweiten Klappstuhl fallen. Er quietschte erschrocken.

»War das Richard?«

»Warum habe ich hier oben eigentlich Empfang?«, ignorierte ich ihre Frage. Betty zeigte auf die Funkmasten, die auf den Bergspitzen um uns herum standen. »Na toll.«

»Was hat er denn gesagt?«

»Nichts. Und ich hab auch nichts gesagt. Das ist es ja. Es gibt nichts mehr zu sagen. Wir sind tot.« Das war vielleicht etwas zu dramatisch ausgedrückt, aber so fühlte es sich an.

»Mo und ich haben uns auch nicht viel zu sagen. Das meiste ist nach über zehn Jahren ja auch schon gesagt, daran liegt es wahrscheinlich. Wir schweigen ziemlich oft einfach nur. Aber das ist okay, denn dann haben wir Sex, das ist ja das Schöne. Weniger reden, mehr Zeit für Sex.«

Jetzt ging das wieder los, das war so typisch Betty. »Ich hab doch keine Beziehung bloß für Sex!«

»Aber natürlich hast du das. Reden kannst du doch auch mit mir.« Ich sah sie zweifelnd an. »Schätzelein, was soll das denn jetzt? Mit mir kannst du immer reden!«

»Ja«, antwortete ich düster. »Aber zu welchem Preis?«

Sie seufzte und tätschelte mir aufmunternd den Oberschenkel. »Keine Sorge. Ich weiß, wie ich dich aufheitern kann.«

»Na, da bin ich aber gespannt«, murmelte ich, während sie ihre Hände trichterförmig um den Mund legte, tief Luft holte und rief: »Ey, Marco! Schon mal was von der Sexfalle gehört?«

»Halt die Klappe!«, prustete ich und schlug ihr aufs Bein.

Marco schaute unter dem Bus hervor und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. »Sexfalle? Nee, aber ich glaub ich hab das Problem gefunden!« Er sah nicht so aus, als hätte er gute Neuigkeiten.

Wir erhoben uns von unseren Plätzen und gingen auf den Bus zu. »Damit ist dann ja wohl alles klar«, flüsterte Betty mir unterwegs zu. »Selbst wenn ich es wollte: Wie soll ich denn bitte mit jemandem Spaß haben, der so eine Steilvorlage nicht nutzt? Hm? Eben. Geht nicht.«

Von mir aus, dachte ich. Ein Blick in Marcos Gesicht sagte mir, dass wir im Moment ganz andere Sorgen hatten.

Er hatte lediglich eine Vermutung, was mit dem Bus nicht stimmte, die er in ein paar Sätzen für uns zusammenfasste. Ich verstand nur Bahnhof. Betty nickte nachdenklich. Marco erklärte uns, wie er das vermutete Problem beheben wollte. Ich tat so, als würde ich zuhören. Betty nickte wieder. Das Einzige, was ich wirklich verstand, war, dass er, wenn überhaupt, den Bus nur provisorisch reparieren konnte und dass wir bei nächster Gelegenheit eine Werkstatt ansteuern mussten. Betty dankte ihm. Dann setzten sie und ich uns wieder in die Sonne und schauten Marco stumpf bei der Arbeit zu.

Die Sonne brannte erbarmungslos auf uns herunter. Sie stand direkt über uns, der Camper warf nur noch einen sehr schmalen Schatten, es war unmöglich, ihr zu entkommen. Erschöpft stützte ich meinen Kopf auf meiner Hand ab und pustete mir die Haare aus dem Gesicht. »Es ist so heiß …«

»Das kommt vor, wenn man in den Süden fährt, Schätzelein.« Betty zog lange Blättchen und Filterpappe aus ihrem Tabakbeutel – »ich bau noch mal einen, nützt ja nix« – und machte sich an die Arbeit.

Ich sah ihr zu und dachte über unsere Situation nach. Der Bus fuhr nicht mehr, und wenn Marco ihn nicht reparieren konnte, würde er uns irgendwohin abschleppen müssen, was in diesem Terrain mit den kurvigen Straßen und den Steilhängen ganz sicher keine entspannte Angelegenheit werden würde. Bis es aber überhaupt so weit war, bis Marco einsehen musste, dass er keine Ahnung von VW-Bussen hatte und sich geschlagen gab, würde dieser Tag vorbei sein, so viel stand jetzt schon fest. Wir würden hier heute nicht mehr wegkommen. »Verdammt, jetzt hängen wir hier fest …«

»Wieso verdammt?«, fragte Betty, ohne von ihrer Bastelarbeit aufzusehen.

»Weil wir wohl oder übel hierbleiben müssen, es sei denn, wir laufen.«

»Aber das ist doch kein Problem. Dann hängen wir hier eben ein bisschen in der Sonne ab. Ist doch schließlich Urlaub.«

»Ja, aber so hab ich mir das irgendwie nicht vorgestellt.« Ich fächerte mir mit der Hand Luft zu, weil mich das auf die Dauer aber mehr anstrengte als erfrischte, ließ ich es schnell wieder sein. »Wir wollten an den Strand, und jetzt machen wir Urlaub auf einer Bergwiese …«

»Also, ich finde, das klingt alles sehr gut: Bergwiese, Strand, Autobahn, Hauptsache Urlaub.«

Offensichtlich redete ich mit der falschen Person über meine Unzufriedenheit. Aber es gab ja auch noch andere Themen wie zum Beispiel: »Und was ist jetzt mit Lucy?«

»Die ist spazieren. Sag ich doch.«

»Ja, aber so lange?«

»Wenn sie darauf Bock hat? Jetzt entspann dich doch mal. Die passt schon auf sich auf.«

»Ach ja?« Ich warf Betty einen zweifelnden Blick zu. »Und was war gestern …?«

»Sie hat sich im Gebüsch versteckt, und das war’s. Alles richtig gemacht.« Betty legte den fertig gerollten Filter auf das Blättchen und streute Tabak daneben.

Anscheinend fand sie es überhaupt nicht seltsam, dass ausgerechnet Lucy, der Bewegung ein Graus war, sich jetzt schon seit mehreren Stunden auf einem ausgedehnten Spaziergang befinden sollte, noch dazu bei dieser Hitze. Ich konnte das einfach nicht glauben. Irgendetwas Schlimmes musste passiert sein. »Vielleicht ist sie von einer Kuh umgerannt worden.«

»Richtig. Wir sind ja in Spanien, da gehört so was zum guten Ton …«

»Nein, wirklich Betty. Kühe können gefährlich sein.«

»Noch gefährlicher als Sexfallen?«

Ich stand auf und entfernte mich ein paar Schritte vom Camper, um einen besseren Überblick über die Weidelandschaft zu bekommen, und erkannte plötzlich am Horizont einen Punkt, der näher zu kommen schien. »Ich glaub, ich seh sie!«

»Na also.« Betty leckte das Paper an. »Wir atmen tief und ohne Angst.«

»Warte mal …« Zu dem ersten Punkt gesellte sich ein zweiter. Keine Kuh. Eine Person. Ich starrte in die Ferne, bis ich mir ganz sicher war, dass das da hinten wirklich Lucy war. Neben ihr ging ein fremder Mann. »Sie ist nicht allein.«

Betty zündete in aller Seelenruhe den Joint an, nahm einen Zug und blinzelte in die Sonne. »Je mehr, desto lustiger.«

Nicht schon wieder. »Das wird doch wohl kein Anhalter sein.«

»Vielleicht ist es ja ein Torero …«

Ich kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können, und sagte gedehnt. »Nein.« Ziemlich sicher war das kein Torero. »Kein rotes Tuch in Sicht.«

»Das ist doch eh nur für die Show, oder?«

Lucy hatte mich inzwischen entdeckt und winkte. Ich winkte zurück und wartete, bis sie und ihr Begleiter unseren Lagerplatz erreicht hatten. Der junge Mann neben ihr war groß, schlank, braun gebrannt, trug Jeans und ein verwaschenes, rotes T-Shirt, in der Hand hielt er einen ausgebleichten Rucksack, der einmal blau gewesen sein musste und jetzt taubengrau aussah. Sein dichtes schwarzes Haar war ungekämmt und seine Augen dunkelbraun. Er sagte »Hola!«. Was das hieß, wusste selbst ich. Aber damit war mein Spanischwortschatz dann leider auch schon ausgereizt. Es war ein Trauerspiel.

»Hi«, antwortete ich, um ein bisschen Abwechslung in die Unterhaltung zu bringen.

Betty winkte dem Neuankömmling zu, den Joint zwischen Zeige- und Mittelfinger ihrer Winkehand, und nickte in seine Richtung, als sie Lucy fragte: »Wen hast du mitgebracht?«

»Tja, also das«, antwortete sie und verteilte ihr Lächeln gleichmäßig auf Betty, mich und unseren Besucher, »ist Jesus.«

»Klar. Wer sonst?«, bemerkte ich trocken.

Er grüßte noch einmal in die Runde, ließ seinen Rucksack fallen und setzte sich daneben ins Gras. Betty reichte ihm den Joint, er nahm ihn dankbar lächelnd entgegen und inhalierte den Rauch.

»Sieh mal einer an. Jesus kifft.«

»Ja, aber Daphne, das heißt nicht Jesus«, verbesserte mich Lucy. »Das heißt Chesuus, mit spanischem Akzent. Mit Ch statt J und langem U.«

»Danke, Lucy.«

»Ey, Marco!«, rief Betty den Beinen unter unserem Bus zu. »Jesus ist hier, sag Hallo!«

»Betty! Ch statt J«, korrigierte Lucy sie ungeduldig, »Ch statt J, das ist doch nicht so schwer …«

Ein ölverschmierter Oberkörper schob sich unter der Karosserie hervor, und kurz darauf kam Marco über die Wiese auf uns zugetrottet. Er reichte Jesus die Hand. »Hi. Marco.«

»Jesus.« Der junge Mann neigte seinen Kopf nach hinten, damit er Marco besser sehen konnte. »Cómo estás?«

»Bien.«

Ein Hoffnungsschimmer. »Marco, sprichst du Spanisch?«

»Ich? Nö.« Er ließ sich erschöpft ins Gras fallen und streckte eine Hand nach dem Joint aus. »Das mit dem Bus klappt alles nicht so, wie ich dachte«, erklärte er frustriert.

»Was heißt das?«

Marco nahm einen Zug und atmete den Rauch langsam aus, bevor er sagte: »Ich hab keine Ahnung, wie ich das Ding wieder zum Fahren bringen soll.«

Lucy sah mich mit ängstlichen Augen an. Ich hätte sie gern getröstet, aber ich wusste ja selbst nicht, wie wir aus dieser Patsche wieder herauskommen sollten, und war ähnlich verzweifelt wie sie. Es half alles nichts, wir brauchten ein Wunder. Es traf sich gut, dass ganz zufällig Jesus vorbeigekommen war.

Jetzt ragten also zwei Beinpaare unter dem Bus hervor, während Lucy daneben kniete und plapperte. Sie nannte das »Gesellschaft leisten«. Wahrscheinlich war es nur eine Frage der Zeit, bis Marco sie entnervt bitten würde, lieber Betty und mir in dem jetzt wieder breiteren Schatten vor dem Van Gesellschaft zu leisten, damit er sich wieder auf seine Arbeit konzentrieren konnte. Was Jesus betraf, so ging Lucys Sprachfluss bei ihm logischerweise zu einem Ohr rein und zum anderen sogleich wieder raus und hatte wahrscheinlich keine negativen Auswirkungen auf seine Effizienz. Manchmal war die Sprachbarriere ein wahrer Segen.

»Wie macht sie das bloß?«, fragte Betty.

»Pausenlos zu reden?«

»Nein. Diese Typen. Ausgerechnet Lucinda. Erst der Pole, jetzt der Spanier. Bestes Urlaubsspaßmaterial. Die fliegen ihr einfach so zu. Und ich?«

»Du hast Marco«, sagte ich. »Aber der genügt ja deinen hohen ästhetischen Ansprüchen nicht. Ich frage mich: War es denn überhaupt nicht schön, als er an deinem Po gesaugt hat?«

Betty ignorierte mich. »Wie macht sie das bloß?«

»Frag sie doch.«

Lucy war von ihrem Platz neben dem Bus aufgestanden und kam zu uns in den Schatten. Sie sah ein bisschen zerknirscht aus. »Marco sagt, ich störe ihn bei der Arbeit.«

Ich verkniff mir ein Schmunzeln. »Sag mal, Lucy … Wo hast du Jesus eigentlich gefunden?«

»Auf der Kuhweide, wieso?«

Selbstverständlich. Auf der Kuhweide. Wo man sich eben so kennenlernt. »Und was hat er da gemacht?«

Lucy schien meine Frage irgendwie unsinnig zu finden. »Er war einfach da?«

»Siehst du?!« Betty schlug mit der flachen Hand auf die Armlehne ihres Klappstuhls. »Er war einfach da. Das gibt’s doch nicht!«

Vielleicht ja doch. Wer suchet, der findet. Aber wer nicht sucht, findet auch – nämlich das, was er nicht sucht. Was eigentlich viel besser ist.

Ich befühlte besorgt meine Stirn und beschloss, dass es zu heiß zum Philosophieren war. Erschöpft schloss ich meine Augen und schlief ein.

Am Horizont schob sich die Sonne als roter Ball aus unserem Sichtfeld, als Marco in den VW-Bus einstieg, den Schlüssel ins Zündschloss steckte und nach rechts drehte. Der Motor sprang problemlos an, und der gelbe Bus vibrierte und brummte im Abendlicht. Marco ließ einen Jubelschrei hören (eher Cowboy als Indianer), stellte den Motor wieder ab und hielt die Hand zum High Five mit Jesus aus dem Fenster.

»Gott sei Dank«, seufzte ich.

»Wohl eher Jesus sei Dank«, korrigierte mich Betty.

Lucy lief barfuß über die Wiese und umarmte unseren Retter.

Es war der Auftakt zu einem gemütlichen Abend in außerordentlich gelöster Stimmung auf unserem Berggipfel. Marco und Betty bastelten ein kleines Lagerfeuer zusammen, wobei sie natürlich sämtliche Brandschutzbestimmungen vorbildlich beachteten. Das wusste ich, weil sie uns andere immer wieder darauf hinwiesen. Es stellte sich außerdem heraus, dass Jesus nicht nur VW-Busse reparieren konnte, sondern auch in der Lage war, aus unserem spärlichen Vorrat ein köstliches Mahl zuzubereiten – Nudeln mit Zwiebeln und Thunfisch aus der Dose –, das wir unter einem unendlich weiten, sternenübersäten Himmel zu uns nahmen. Um den Abend perfekt zu machen, zauberte unser stiller Gast zwei Flaschen Rotwein aus seinem Rucksack, die wir untereinander weiterreichten (wobei Lucy wie gewohnt ablehnte), und unsere einzige Sorge war, dass der Wein nicht den Joint und umgekehrt der Joint nicht den Wein überrundete.

Marco holte seine Gitarre aus dem Van und spielte als Tribut an unseren unerwarteten Helden des Tages die Johnny-Cash-Version von »Personal Jesus«. Your own personal Jesus, someone to hear your prayers, someone who cares. Wir waren schwer beeindruckt von seiner Fingerfertigkeit an den Saiten (ich wies Betty darauf hin, aber sie winkte nur ab) und seiner überraschend guten Stimme. Den »Reach out and touch faith«-Teil sangen wir alle gemeinsam, das war gut für das Gruppengefühl, wobei unser ganz persönlicher Jesus sich aus allem raushielt, einfach nur dasaß und still lächelte. Der Schein des Feuers spielte auf seinem Gesicht, seine strubbeligen Haare wippten, während er im Takt nickte. Es war seltsam, er hatte uns gerettet, uns ein Abendessen gekocht und die letzten Stunden mit uns verbracht, aber er interagierte nicht mit uns. Er war einfach nur da. Und das, ohne dass es unangenehm war oder ich mich gezwungen fühlte, ihn einzubinden oder mit ihm zu reden. Was ohnehin nicht möglich gewesen wäre, mit »Hola« allein ließ sich schwer ein Gespräch führen. Umso schöner, dass es gar nicht nötig war.

Marco spielte noch andere Hits, »Nothing Else Matters« und »Knockin’ On Heavens Door«, Jungskram eben. Aber das war okay, weil die Musikauswahl perfekt auf den Berg und zum Lagerfeuer passte. Er lieh Betty eine Mundharmonika, mit der sie allen möglichen Quatsch anstellte, aber kein Lied zustande bekam. Lucy sang in ihrem typischen, ausgedachten Kauderwelsch mit, ich klatschte den Takt, und wir konsumierten noch den einen oder anderen Joint, bis nach und nach erst Lucy, dann Marco und schließlich Betty eine gute Nacht wünschten und es sich in ihren Betten gemütlich machten.

Nur ich saß noch da, Jesus gegenüber, der zwar auch glasige Augen hatte, aber wohl eher vom Rauch, nicht weil er müde war. Er wirkte jedenfalls hellwach und sah aus, als wäre er gerade eben erst gekommen. »Gracias«, sagte ich. Das einzige weitere spanische Wort, das mir nach langem Überlegen noch eingefallen war.

Jesus nickte und lächelte.

»Where?«, fragte ich und legte meine Hände mit den Handflächen aufeinander und schmiegte meine Wange daran, um Schlaf darzustellen. Wo würde Jesus schlafen? Marco hätte bestimmt nichts dagegen, wenn er in seinem Camper übernachtete.

»Aquí«, sagte Jesus, und deutete auf seinen Platz neben dem schwächer werdenden Feuer.

»Aber es wird bestimmt … äh …«, ich legte meine Arme um den Körper und machte »Brr!«. Kalt, es würde kalt werden, spätestens wenn das Feuer ausging.

Aber Jesus lächelte mich nur an und sagte noch einmal »aquí«, und da gab ich es auf. Es brachte nichts zu diskutieren, wenn einem mehr als neunundneunzig Prozent der nötigen Vokabeln fehlten. Ich erhob mich und wünschte ihm auf Englisch eine gute Nacht, er antwortete mit »Buenas noches«, und als ich in den Bus stieg und mich noch einmal zu ihm umdrehte, saß er mit dem Rücken zu mir am Feuer. Vielleicht beobachtete er die Sterne. Ganz sicher lächelte er still in sich hinein, das spürte ich irgendwie. Und es freute mich. Ich warf einen Blick nach oben, und es präsentierte sich mir ein Nachthimmel, so dicht bedeckt mit Sternen, dass es aussah, als hätte er Masern aus Licht. Ich fand ihn wunderschön. Dann ging ich schlafen.

Ich hatte irgendwie damit gerechnet.

Als ich am nächsten Morgen meine Augen öffnete, früh, noch bevor die Sonne den Bus hatte aufheizen können, hörte ich erst eine Kuh muhen. Dann eine zweite. Und dann hörte ich Lucy, die ihren Kopf durch die Schiebetür steckte und atemlos verkündete: »Jesus ist weg!«

»Hast du unterm Bus nachgesehen?«, murmelte Betty im Halbschlaf.

Lucy schnaufte wütend – »sehr witzig!« – und ließ uns wieder allein, um über die Weide zu rennen und immer wieder »Jesus!« zu rufen. Die Antwort darauf war weiteres vereinzeltes Kuhmuhen. Ein Außenstehender hätte sie für verrückt erklärt.

»Tja, es ist schon ein bisschen merkwürdig«, meinte Marco dazu, nachdem wir unsere Sachen in den Bussen verstaut und die Hinterlassenschaften unseres Aufenthalts auf dem Berg weggeräumt hatten. »Mysteriös, könnte man auch sagen.« Er überblickte nachdenklich die Weiten der Kuhweide und rührte in seinem Morgenkaffee. Betty stand neben ihm und tat dasselbe. Die Fahrer brauchten Koffein. »Taucht hier auf, sagt kein’ Ton, rettet uns den Arsch, verschwindet einfach wieder.«

»Ohne Tschüss zu sagen«, ergänzte Lucy empört. Ich sah ihr an, dass es sie beschäftigte, dass schon wieder eine ihrer Bekanntschaften sang- und klanglos abgehauen war. Das war nicht gut fürs Selbstwertgefühl, keine Frage. Aber in Jesus’ Fall war das etwas anderes als vor ein paar Tagen mit Karol. Meine Meinung.

Betty nahm einen Schluck Kaffee und runzelte die Stirn. »Was meint ihr? War das nur Glück? Oder Zufall? Oder war Jesus jetzt wirklich Jesus oder was?«

»Der wusste eine Menge über VW-Busse, so viel steht mal fest.«

»Jesus. Sohn eines Kfz-Mechanikers.«

Wir standen einen Moment schweigend nebeneinander im Morgensonnenschein auf dem Berg der Wunder und dachten über den seltsamen vergangenen Tag nach. Dafür reiste man, um solche Dinge zu erleben. War es nicht so?

»Aber er hätte wirklich mal Auf Wiedersehen sagen können, oder?« Lucy schlug nach einem Insekt auf ihrem Arm und starrte in Richtung der Kühe. »Also echt mal. Ich wollte ihm zum Dank das Einhorn-Bild schenken.«

»Vielleicht hat er ja davon Wind bekommen und ist deswegen abgehauen …« Marco grinste.

Lucy sah schwer getroffen aus. »Was weißt du schon? Ich bin mir sicher, Jesus hätte es sehr gern gemocht.«

Plötzlich fing Betty an zu lachen, so sehr, dass ihr Kaffee über den Rand schwappte und sie den Becher auf dem Boden abstellen musste, um sich nicht zu verbrühen. »Hahaha!«

»Betty?«, fragte ich besorgt und versuchte, Blickkontakt mit ihr aufzunehmen. »Ist es wegen des Einhorns?«

»Ihr seid blöd!« Lucy verschränkte beleidigt die Arme vor ihrer Brust.

Schnaufend schüttelte Betty den Kopf. »Nee, ich hab nur gedacht …« Sie musste wieder lachen und sich außerdem an Marcos Camper abstützen. »Ich hab nur gedacht: Is ja klar, dass der Pole ’nen polnischen Abgang hinlegt. Aber der Spanier?«

»Ts!«, machte Lucy und stapfte, die Arme noch immer verknotet, zum Bus. Und das war auf jeden Fall besser, als wenn sie über die Felder weggelaufen wäre – bei Lucy hätte das inzwischen niemanden mehr überrascht –, denn wir waren schließlich abfahrbereit. Es war Zeit, den Berg der Wunder zu verlassen.

Und zum Abschied sagte ich noch einmal leise: »Gracias, Jesus.«