5
Der Teil mit dem Gartenzwerg
BETTYS MIXTAPE
Sublime – Santeria
An der Raststätte roch es nach Benzin und Bockwürsten, und das ewige Brausen der A1 war so penetrant, dass ich mich fragte, ob es jemals verschwand, und wenn ja, ob ich es dann vermissen würde. Lucy verdrückte bei geöffneter Schiebetür bereits das fünfte Stück Torte in dreieinhalb Stunden, Betty betankte den Bus, und ich konnte mich des Gedankens nicht erwehren, dass wir mit dem Flugzeug inzwischen überall auf der Welt hätten sein können, am Strand von Honolulu, im ewigen Eis von Spitzbergen, am Kap der Guten Hoffnung. Überall. Mit dem Bus hatten wir es gerade mal bis an den Rand von Münster geschafft. Und wirklich: Hier gab es nichts zu sehen. Es musste einfach gesagt werden. Jetzt sofort.
»Wir hängen total hinterm Zeitplan.«
»Ah ba, ba!« Betty legte mir eine Hand auf den Mund, während sie mit der anderen weitertankte. »Daphne hat das böse Wort gesagt.«
Ich schob ihre Hand weg. »Ich dachte, ich darf nur die Wörter Urlaub und Zeitplan nicht in einem Satz verwenden.«
»Da wir uns aber im Urlaub befinden, Schätzelein, ist ja immer und überall Urlaub, und das schlimme Z-Wort ist komplett gestrichen. Ist doch klar.«
»Gut. Merk ich mir.«
»Schön.« Betty rüttelte ein bisschen am Zapfhahn und zog ihn aus der Tanköffnung.
»Nichtsdestotrotz …« Ich nahm ihren mahnenden Blick wahr, fuhr aber unbeirrt fort. »Es ist jetzt halb neun. Vielleicht sollten wir uns langsam mal überlegen, wo wir die Nacht verbringen wollen.«
»Na, ich fahr so lang, bis ich nicht mehr kann, dann halten wir an einer Raststätte, und dann wird geschlafen.«
Ich sah mich auf dem düsteren, asphaltierten Parkplatz vor der Tankstelle um, an der wir uns jetzt befanden, und hatte plötzlich schlimme Bilder im Kopf, von betrunkenen LKW-Fahrern und irren Triebtätern. »Gibt es keine Alternative?«
Betty zuckte mit den Schultern.
Im Bus rumorte es, und Lucy schaute zu uns heraus, die Finger klebrig von der süßen Tortenfüllung und am Mundwinkel ein kleines, pistaziengrünes Stückchen Marzipan. »Remscheid.« Betty und ich sahen sie verständnislos an. »Remscheid«, wiederholte sie. »Da wo ich herkomme. Das ist nicht weit von hier, hundert Kilometer oder so. Ich kann Mami anrufen und ihr sagen, dass sie den Hund wegsperren soll. Soll ich?«
»Den Hund?«
»Das wird super, ihr könnt in meinem Zimmer auf der Luftmatratze schlafen, dann machen wir eine richtige Pyjama-Party. Wir können auch Wahrheit oder Pflicht spielen, wenn ihr wollt. Oder Scharade.«
»Mal sehen …«, sagte ich gedehnt.
»Also, von mir aus fahren wir nach Remscheid. Kann man ja mal machen.« Betty drehte den Tankdeckel zu. »Ich war da noch nie.«
»Es ist gaaaaaanz toll!«
Bestimmt. Hoffentlich.
Lucys Elternhaus war von oben bis unten mit schwarzgrauen Schindeln bedeckt, ebenso die dazugehörige Garage. Es lag am Hang, sodass der Teil des Hauses, den man zunächst für einen Keller hielt, auf der Gartenseite das Erdgeschoss mit einer raumhohen Panoramascheibe zur Terrasse hin bildete. Aber das konnten wir bei unserer Ankunft natürlich noch nicht erkennen.
Es goss in Strömen, und nachdem Betty den Bus in der Auffahrt geparkt hatte, beeilten wir uns, so schnell wie möglich durch das kleine grüne Gartentor mit dem »Hier wache ich«-Schild und dem gepflegten Vorgarten zur Haustür zu gelangen. Dabei trat ich einen Gartenzwerg um, der mit lautem Scheppern gegen die Treppe zum Eingang rollte und zerbrach. Ich sammelte erschrocken die Bruchstücke auf, alle, die ich finden konnte, und wischte mir den Regen aus den Augen. Auf einer Skala von eins bis zehn, wobei eins super und zehn frustrierend war, verdiente dieser erste Urlaubstag eine zwölf.
»Purzelchen!«
»Papi!«
Ein ziemlich großer, ziemlich dicker Mann mit einem beeindruckenden Schnurrbart war im kleinkarierten Hemd in der offenen Tür erschienen und breitete seine Arme aus. Lucy warf sich mit voller Wucht an seine Brust und ließ sich drücken, bis aus dem Drücken ein Quetschen geworden war. Ihr Vater machte Geräusche wie ein Gewichtheber in Aktion. Aus dem Haus rief eine aufgeregte Stimme: »Ist sie da? Ist sie da?«, und wenige Augenblicke später erschien eine kleine, erstaunlich sportliche Frau mit blonder Dauerwelle im Hauseingang. Sie trug einen pinkfarbenen Jogginganzug.
»Mausezähnchen!«
»Mami!«
Lucys Vater reichte seine Tochter weiter an seine Frau, stemmte die Hände in die Seiten und sah vom Eingang zu uns herab. »Und ihr seid dann also Purzelchens Freunde.«
Betty und ich standen noch immer wie zwei begossene Pudel in seinem Vorgarten, und es regnete weiter heftig, also trieb man das Ganze wohl besser etwas voran. Ich machte einen Schritt auf ihn zu und reichte ihm treppauf die nasse Hand. »Ich bin Daphne. Guten Abend, Herr Kottkewicz. Danke, dass wir so spontan vorbeikommen durften.«
Er brach mir gefühlte zwei bis drei Finger zur Begrüßung. »Freut mich, freut mich. Aber nicht so förmlich, okay? Ich bin der Mike.«
»Gut. Mike. Ähm.« Ich hielt ihm die andere Hand hin, die mit den Scherben. »Ich hab aus Versehen Ihren Gartenzwerg kaputt gemacht, befürchte ich.«
Herr Kottkewicz zog die Augenbrauen hoch und bemühte sich sichtlich um Lockerheit. »Aber das ist ja kein Weltuntergang. Daphne«, sagte er tonlos. Es gab keinen Zweifel: Er war der Zwergsammler in dieser Familie. Und am liebsten hätte er mir die verbliebenen Finger auch noch gebrochen. Absichtlich. So viel zum Thema guter erster Eindruck.
»Hallo!« Mutter Kottkewicz war mit der Begrüßung ihres einzigen Kindes fertig und streckte mir eine gut manikürte Hand hin. »Ich bin die Monika.« Ihr Blick fiel auf die Scherben in meiner Hand. Sie zog erschrocken die Luft ein. »Ach, du Schreck! Was ist denn das für eine Bescherung?!«
Vater Kottkewicz nickte zähneknirschend in meine Richtung. Er kämpfte weiterhin stark um Beherrschung. »Daphne hat den Gießkannenzwerg kaputt gemacht.«
»Aus Versehen!«
»Na«, Monikas Stimmung war merklich abgekühlt. »Da wollen wir mal keine große Sache draus machen.«
»Ist ja auch ein Zwerg«, versuchte ich, die Situation mit einem Witz aufzulockern. »Große Sache? Zwerg?« Das kam nicht so gut an. Also lachte ich allein. Kläglich.
Mikes Blick fiel auf Betty und blieb eine Weile an ihren Dreads hängen. »Und Sie sind?«
»Betty. Hi!« Sie streckte ihre Hand aus, und Mike und Monika schüttelten sie. Aber eher zaghaft und ein bisschen angewidert. Und nur kurz.
Als wir endlich ins Haus gelassen wurden, stürmte Lucy voran. »Kommt! Ich zeig euch mein Zimmer!« In der Luft lag der Geruch von vielen vergangenen und dem aktuellen Abendessen, aus dem Wohnzimmer drang das gemütliche Gemurmel des Fernsehers. Die Tochter des Hauses polterte die Treppe hinauf.
Wir folgten ihr, nachdem wir unter Monikas strenger Beobachtung unsere Schuhe auf einer Plastikunterlage abgestellt hatten, und hörten die beiden Eltern noch murmelnd miteinander reden, als wir die knarrenden Stufen hinaufstiegen. Das Wort Drogen fiel.
»Es liegt an meinen Haaren«, flüsterte Betty.
»Natürlich liegt es an deinen Haaren.« Und nicht am Gießkannen-Gartenzwerg. Nein, Nein. »Warum hast du deine Mütze nicht auf?«
»Schätzelein, das geht jetzt echt zu weit. Ich setz mir doch nicht mitten im Sommer eine Mütze auf, nur weil die Kottkewiczs nichts mit alternativen Frisuren anfangen können. Hast du Monis Dauerwelle gesehen? Die macht mir mindestens genauso viel Angst wie denen meine Dreads. Aber ich kann mich zusammenreißen, das ist der Unterschied.«
Ich nickte zustimmend, nahm die letzte Stufe und betrat den Raum links vom Treppenabsatz. Lucys Zimmer. An der Wand hing ein Poster von Leonardo DiCaprio.
Monika Kottkewicz hatte ein spätes, schweres Abendbrot für uns zubereitet, das eine Viertelstunde später in der rustikalen Küche bereitstand. Im Wohnzimmer lief nach wie vor der Fernseher, irgendein Tierfilm, getrocknete Blumensträuße raschelten über unseren Köpfen, und aus geschätzten achthundert Bilderrahmen jeder Form und Farbe sahen uns die Freunde, Bekannten, Verwandten und Ahnen der Kottkewiczs dabei zu, wie wir uns über die überbordenden Teller voller Frikadellen, Kartoffelsalat und Brötchen hermachten. Außerdem gab es noch eine Wurstplatte, die zweifelsohne das komplette Aufschnittsortiment des Kottkewiczen Stammschlachters im Angebot hatte. Betty war anzusehen, dass sie im Begriff war, Lucys Mutter all ihre Vorurteile zu vergeben. Fleisch war der Schlüssel zu ihrem Herzen. Sie ließ einen kleinen Schrei der Begeisterung hören, als sie das Angebot sah, füllte ihren Teller bis zum Rand und aß mit großem Appetit und dem ihr ganz eigenen Mangel an Tischmanieren. Dass neben ihrem Teller auch Besteck bereitlag, ignorierte sie weitgehend. Unsere Gastgeber nahmen das mit einem dezenten Naserümpfen zur Kenntnis, verkniffen sich jedoch jeden Kommentar und konzentrierten sich stattdessen auf ihre heimgekehrte Tochter. Das Purzelchen. Das Mausezähnchen.
»Erzähl doch mal! Wie läuft es in der Firma?«, fragte Vater Kottkewicz, während er seine Brötchenhälfte konzentriert mit vier Scheiben Salami belegte.
»Hm.« Lucy kaute und schluckte und nickte. »Ganz gut.«
»Arbeitest du auch nicht zu viel?«
»Nein, Mami. Alles ist super.«
Wäre Monika Kottkewicz nicht die Frau und Mutter, die sie war, hätte sie diese Antwort gehört wie gegeben und zufrieden einfach noch ein paar Krümel von dem Tischtuch mit dem Obst-Muster gepflückt. Doch Monika Kottkewicz war Monika Kottkewicz, die Frau, deren feine Antennen sich sofort meldeten, wenn mit ihrer Tochter etwas nicht stimmte. Selbst dann noch, wenn man sie in einen unterirdischen Salzstock sperrte. Und wenn diese Antennen sich meldeten, dann galt es herauszufinden, was passiert war. Bevor dieses Ziel erreicht war, durfte Monika Kottkewicz nicht ruhen. Eher fror die Hölle zu. Es war also egal, ob Lucy sagte, dass alles super war. Ihre Mutter hatte bereits das Signal empfangen und wusste, dass dem nicht so war. »Ist sonst alles in Ordnung, Mausezähnchen?«
»Ja, Mami.«
»Ganz sicher?«
»Ja!« Lucy säbelte fahrig mit ihrem Messer an der Frikadelle auf ihrem Teller herum und schnitt ein viel zu großes Stück ab, das sie sich aber wohl oder übel in den Mund stopfen musste, wenn sie das Zittern ihrer Unterlippe rechtzeitig überspielen wollte.
»Purzelchen, nicht so hastig.«
»Mike, jetzt lass sie doch mal!« Monika Kottkewicz wollte nicht, dass hier vom Thema abgelenkt wurde. Sie hatte die Fährte aufgenommen wie ein Bluthund, und sie war siegessicher. »Und dein Hannes?«, fragte sie scheinheilig. »Wie geht es ihm?«
Damit war klar, dass Lucy ihre Eltern, aus welchen Gründen auch immer, noch nicht darüber informiert hatte, dass Hannes nicht mehr ihr Hannes war. Das wunderte mich. Eigentlich hätte ich erwartet, dass sie sofort, nachdem die Sache beendet gewesen war, zum Telefon gegriffen, ihre Mutter angerufen und sich in dem Mitleid gesuhlt hatte, das aus der Hörmuschel tropfte wie flüssiger Honig. Auf der anderen Seite war das vielleicht genau das Letzte, was man tat, wenn man überfürsorgliche Eltern wie Mike und Moni hatte. Das konnte ich nicht einschätzen, ich hatte mit überfürsorglichen Eltern keine Erfahrung. Wenn ich mal in Not war und mich dazu durchrang, meine Mutter anzurufen, empfahl die mir, Tee zu trinken, und ging dann zum Pilates.
Nicht so Monika Kottkewicz »Hm? Lucy? Mausezähnchen? Was ist denn los?«
Ihre Tochter steckte sich mit einer schnellen, in den langen Jahren einer schweren, traurigen Pubertät perfektionierten Bewegung eine komplette Frikadelle in den Mund, atmete stoßartig aus, soweit das noch möglich war, lehnte sich auf der Eckküchenbank zurück und stützte den Kopf an die getäfelte Wand. Tränen rannen ihr das Gesicht hinunter.
»Du meine Güte, was ist denn passiert?«
Schluchzer schüttelten Lucys Körper, während sie kaute und kaute und weinte. Ich warf Betty einen betretenen Blick zu, sie aber zuckte bloß mit den Schultern und schmierte sich ein Leberwurstbrot. Der Abend war eh gelaufen, da konnte man genauso gut weiteressen.
Ich vermied es, Lucy anzusehen. Ich fühlte mich fehl am Platz. In jedem anderen Moment hätte ich sie mit allen Tricks, die mir zur Verfügung standen, zu trösten versucht. Aber ich wusste, hier und jetzt würden mich Mike und Moni nicht in die Nähe ihres Nachwuchses lassen. Sie würden sie verteidigen wie zwei Stockenten ihre Küken. Und außerdem hasste Vater Kottkewicz mich sowieso, nach allem, was ich seinem Gießkannenzwerg angetan hatte, das merkte ich daran, wie er mich zwischendurch immer ansah.
»Ist Hannes krank?«, fragte Monika Kottkewicz. Dabei hatte sie die Situation längst erfasst.
»Wir sind nicht mehr zusammen!«, platzte es aus Lucy heraus, im wahrsten Sinne des Wortes. Ich hätte schwören können, dass das kleine Frikadellenstückchen waren, die da auf meinem Handrücken gelandet waren.
Vater Kottkewicz schlug mit der Faust auf den Tisch. »Dieser miese …« Er wies mit erregt ausgestrecktem Arm auf ein grün gerahmtes Foto neben dem Kühlschrank. »Und von dem haben wir ein Bild an der Freunde-Wand hängen!« Es war wohl bei einem Familienfest der Kottkewiczs entstanden. Lucy und Hannes saßen an einem Tisch, vor ihnen bunte Plastikbecher und Pappteller mit Würstchen drauf, von hinten umarmte sie Mike Kottkewicz, einen Arm um Hannes und einen um seine Tochter gelegt. Hannes lächelte starr. In seinen Augen war der blanke Horror zu erkennen.
Monika zog Lucy an sich heran und wiegte das weinende Kind in ihren Armen hin und her. »Alles wird gut …«
»Es tut so we-eh-eh …«
Herr Kottkewicz erhob sich vom Küchentisch. »Jetzt kommt erst mal das Foto von diesem Scheißtyp von unserer schönen Wand.«
»Nein, Papi!« Lucy befreite sich aus dem Klammergriff ihrer Mutter.
Monika schnalzte mit der Zunge. »Ach, mein armes Mausezähnchen …«
»Vielen Dank für das Abendessen. Sehr lecker.« Betty stand ebenfalls von ihrem Platz auf und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Ich bin dann mal draußen im Bus und telefonier mit meinem Sohn.«
Kein Kottkewicz reagierte, sie hatten größere Sorgen als das Mädchen mit der verdächtigen Frisur. Das war gut, denn es bedeutete, dass auch ich unbemerkt vom Tisch aufstehen und mir ein ruhiges Fleckchen suchen konnte, um von dort aus Richard anzurufen. Eigentlich hatte ich das gar nicht vorgehabt, nicht sofort am ersten Abend. Aber so, wie die Dinge standen, mit Moni und Mike und den Frikadellenstückchen auf meiner Haut, war der Gedanke an ein Gespräch mit meinem Freund wie Balsam auf meiner aufgewühlten Seele. Ich hätte sofort einen weiteren Streit mit Richard über den Zustand unserer Wohnung gegen dieses gartenzwergumstellte Vorstadtdrama eingetauscht. Doch für den heutigen Abend würde es wohl bei Remscheid bleiben, bei Remscheid und einem Telefongespräch. Und da Betty sich bereits den Bus als Rückzugsort gesichert hatte, blieb mir nur der Platz auf Lucys Bett, unter dem schmachtenden Blick eines sehr jungen Leonardo. Ich war nie Fan gewesen, sonst hätte ich jetzt sagen können: Es war wie früher.
»Ja?«
»Ich bin’s.«
»Na?«
»Ja … äh … na?« Es raschelte und rumpelte da, wo Richard war. Ich versuchte anhand der Geräusche zu erraten, an welchem Platz in unserer Wohnung er sich befand. Ich tippte auf die Küche. »Machst du dir was zu essen?«
»Ja.«
Was den Informations- und Spaßgehalt dieser Unterhaltung betraf, fühlte ich mich in den Erdkundeunterricht der achten Klasse zurückversetzt. »Was gibt es denn?«
»Brot.«
Ich stöhnte frustriert. »Mann, Richard!«
»Was denn?«
»Erst soll ich dich unbedingt anrufen, und jetzt mach ich das, und du bist so.«
»Wie? So?«
»Wortkarg.«
»Find ich nicht.«
»Ich aber schon.«
»Also, Daphne, es tut mir ja leid, dass du mehr erwartet hast, aber ich hab Hunger und bin müde. Ich ess jetzt schnell noch was, und dann geh ich pennen.«
»Gut. Dann sag das doch.« Ich klang gereizt. War ich auch. Wo blieb der Balsam auf meiner Seele? »Du freust dich echt gar nicht, dass ich anrufe, oder?«
»Doch. Klar.« Offensichtlich ungefähr so sehr wie über Herpes.
»Dann ruf ich dich eben nicht mehr an.«
»Ich hab doch gesagt, dass ich mich freue.«
»Aber du hast es nicht so gemeint.«
»Ach ja, nee, richtig. Hatte ich ganz vergessen, dass du ja immer besser als ich weißt, was ich meine.«
»Das hab ich gar nicht gesagt.« Interessant, welche zerstörerischen Kräfte dieses Telefonat innerhalb einer Minute entwickelt hatte. Interessant und schrecklich zugleich. Ich warf Leonardo einen verzweifelten Blick zu. Ein Zeitsprung zurück wäre jetzt gut. Eine zweite Chance. Aber er konnte mir nicht helfen. Er war nur ein Poster. »Ich weiß überhaupt nicht, was du meinst. Das ist ja das Problem.«
»Eben. Deswegen geht es mir auch so auf die Nerven, wenn du so tust, als wüsstest du es.«
Er schwieg.
Ich schwieg.
Im Erdgeschoss heulte Lucy.
Die dumpfe Stimme im Fernsehen erklärte: »Stockenten sind Nestflüchter. Jedoch beschützen die Alttiere ihre Jungen während der Aufzucht mit allen Mitteln.«
Mein Freund schwieg noch immer.
»Alter! Richard!«, entfuhr es mir.
Richard seufzte. »Wir können ja morgen noch mal telefonieren.«
»Ja. Da hab ich richtig Bock drauf. Noch so ein Gespräch.«
»Dann lass es eben, Daphne.« Und erstaunlich sanft und ruhig fügte er hinzu: »Schlaf gut. Ich liebe dich.«
Ich war sauer, und wenn ich sauer war, konnte ich nicht »Ich liebe dich« sagen. Also legte ich wortlos auf und war so erschöpft, dass ich es am liebsten Lucy gleichgetan hätte. Geheult hätte. Wie ein kleines Kind.
»Für Beziehungen, die eh im Arsch sind, sollte Telefonverbot herrschen.« Ich zog missmutig an der Zigarette, die Betty für mich gedreht hatte, und lehnte mich auf dem Beifahrersitz des VW-Busses zurück. Draußen, vor der Windschutzscheibe, lag das nächtliche Remscheid hinter einem Vorhang aus Regen.
»Welche Beziehung ist denn im Arsch?«
»Meine und Richards.«
Betty zog die Augenbrauen hoch und legte ihre Füße links und rechts neben dem Lenkrad auf das Armaturenbrett, sodass sie aussah wie ein Frosch. Oder ich beim Waxing. »Aber Schätzelein, eure Beziehung ist doch nicht im Arsch. Die ist ganz normal.«
»Von wegen. Ich kann mich nicht an den letzten Tag erinnern, an dem wir uns nicht in die Haare bekommen haben oder mindestens einer den anderen scheiße fand.«
Wenn ich erwartet hatte, dass Betty deswegen besorgt reagieren würde, wurde ich enttäuscht. Sie blieb ganz gelassen. »Nützt ja nix.«
»Wie, nützt ja nix? Ich weiß ja nicht, wie das bei dir so ist, aber ich habe eigentlich immer gedacht, dass Streit eine Beziehung kaputt macht.« Und Oma Mathilde im Übrigen auch, aber weil die Betty kein Begriff war, hielt ich sie aus der Diskussion raus.
»Überrascht mich nicht, dass du das denkst, du kennst dich mit Beziehungen ja auch nicht aus.«
»Was soll das denn heißen?!«
»Schätzelein, in Sechs-Monats-Beziehungen lernt man so etwas nicht, das hab ich dir schon mal gesagt. Du weißt solche Sachen einfach nicht.«
»Natürlich weiß ich solche Sachen!«, erwiderte ich empört.
»Nee, eben nicht. Bei dir ging’s doch bisher immer nur um Schmetterlinge. Und wenn die weg sind, ist für dich gleich die Beziehung vorbei.«
Ich drückte schmollend meine Zigarette im Autoaschenbecher aus. »Kann ich doch nichts dafür, dass die immer alle mit mir Schluss machen.«
»Vielleicht doch.«
Ich schnappte gekränkt nach Luft.
»Ist ja auch egal. Es geht ja jetzt um Richard und dich. Schluss mit Schmetterlingsgarten, Schätzelein, ihr seid jetzt im Dschungel. Ihr seid wie zwei Raubkatzen, die sich nur zum Paaren treffen.«
Nicht einmal das, ergänzte ich in Gedanken. Denn wenn ich nicht gerade zufällig in Richards Sexfalle tappte (und dazu war es bisher nur dieses eine Mal gekommen, denn das war eine brandneue Strategie), war in Sachen Paaren bei uns nicht viel los. Entweder hatte ich Lust, aber Richard war schon eingeschlafen oder noch beim Soundcheck. Oder Richard hatte Lust, aber ich nicht, weil ich mich den ganzen Tag über den Zustand unserer Wohnung hatte ärgern müssen und darüber jegliches Interesse an Sex irgendwie verpufft war. Dann las ich ein Buch, und Richard war genervt. Oder bei Soundcheck.
»Ganz schön haarige Sache«, fuhr Betty fort. »Ich meine, mit allen anderen streitet man sich ja auch und denkt nicht ständig darüber nach, ob man die jetzt nun nie wiedersehen will oder nicht. Aber in Beziehungen ist immer alles schwarz oder weiß. Entweder big love und bis zum Tod glücklich oder Trennung und nie wieder sehen und für immer hassen. Total bescheuert, wenn du mich fragst.«
»Es gibt Pärchen, die sich nie streiten.«
»Also, mir sind die unheimlich. Da muss doch mindestens einem von den beiden die Persönlichkeit wegamplutiert worden sein …«
»Amputiert. Ohne l.«
»Schätzelein, ich bin weder Deutschlehrerin noch Arzt. Aber eins weiß ich: Mo und ich sind seit neun Jahren beste Freunde und haben ein Kind, und manchmal haben wir Sex, und manchmal streiten wir uns, aber das läuft, und ich mach mir keine Sorgen.«
Ich runzelte die Stirn. »Du hast doch noch gestern gesagt, du glaubst, dass er eine Neue hat.«
»Ja. Das hab ich gesagt.« Betty drückte ihre Zigarette im Aschenbecher aus und schaute eine Weile durch die Frontscheibe des Busses auf den dunklen Ziergarten, in dem die überlebenden Gartenzwerge friedlich schliefen. »Stimmt. Aber irgendwie ändert das nichts. Das zwischen mir und Mo ist eben so. Dann hat er eine Neue, na und? Dann fahr ich eben in den Urlaub und mach ein paar heiße Boys klar. Das ändert nichts daran, wie wichtig wir uns sind.«
»Bist du gar nicht eifersüchtig?«
»Doch. Aber damit muss ich wohl klarkommen. Ich kann ja nicht ändern, dass ich ihn liebe.«
»Hm.«
Es war immer schwierig, mit Betty über Beziehungen zu reden. Wir hatten einfach komplett unterschiedliche Ansichten, was dieses Thema betraf. Ich war eher der konservative Typ. Ein Mann, eine Frau, dann mischt man Liebe mit rein, und wenn sich beide einig werden, gehören sie zusammen. Alles oder nichts. Ein Korsett, das manchmal zwickte und zu eng war, aber auch eine gewisse Sicherheit bedeutete, in der man sich wohlfühlen und fallenlassen konnte. Im besten Fall. Mir fehlte leider zu oft das nötige Vertrauen.
Für Betty ging es um den Menschen, in dessen Nähe man sein wollte. Man fand ihn, und dann nahm man die Wellen, wie sie kamen – Berge und Täler, egal wie hoch oder tief. Das war der Mensch, zu dem man gehörte. Auch wenn er Sachen tat, die verletzend waren, selbst wenn man kaum etwas von dem, was man gab, zurückbekam … Es nützte ja nichts, solange man liebte, ging man da durch.
Das war eine edle und herausfordernde Idee, und im Gegensatz dazu fühlte sich meine Auffassung von einer Beziehung schäbig und besitzergreifend an. Vielleicht lebte Betty die wahre Liebe. Vielleicht war das aber auch großer Schwachsinn, und sie ließ sich von vorne bis hinten verarschen.
Doch ich war heute nicht mehr in der Verfassung für tiefschürfende Analysen … »Wie geht es Max?«
»Er hat schon geschlafen. Er war müde vom Buddeln und der Seeluft und so.« Sie zuckte mit den Schultern. »Es geht ihm gut. Morgen ruf ich früher an, dann kann Mo ihm den Hörer ans Ohr halten.«
Ich nickte. Ich merkte, dass sie traurig war. »Kommst du mit rein?«
»Ich schlaf im Bus. Ich glaube, Moni findet das auch besser. Immer wenn ich an ihr vorbeigehe, schnüffelt sie so.«
»Wir können dir ja ein Duftbäumchen umhängen.«
»Sehr witzig, Schätzelein. Du bist auch nur auf Bewährung, vergiss das nicht. Du hast den Gartenzwerg umgebracht.«
»Es war ein Unfall«, sagte ich, gab Betty einen Kuss auf die Wange und kletterte aus dem Bus.
Lucy schlief schon und schnarchte leise, wegen der vom Weinen geschwollenen Schleimhäute. Ich zog mich aus, wühlte mich in den Synthetik-Schlafsack auf der Luftmatratze vor Lucys Bett und fühlte, wie mir sofort alle Haare elektrisiert zu Berge standen. Ich drehte mich um, die Luftmatratze quietschte. Außerdem merkte ich, wie ich langsam immer weiter dem Rand entgegenrutschte, weil das glatte Material des Schlafsacks keinen Halt auf der Plastikoberfläche fand. Ich versuchte, genau in der Mitte der Matratze so ruhig wie möglich auf dem Rücken zu liegen, heftete meinen Blick an die Leuchtsterne an der Zimmerdecke und dachte, dass ich mir solche auch immer gewünscht hatte. Als ich acht war. Ich dachte an Richard, ob ich mich bei ihm entschuldigen sollte oder er sich bei mir. An den morgigen Tag. Daran, ob mit Lucy überhaupt etwas anzufangen sein würde, oder ob wir sie lieber hier zurücklassen sollten, drei Wochen Liebeskummerkur mit Fleischanwendungen bei Mutti. Und während ich all das dachte, fühlte ich den harten Boden unter meiner rechten Schulter. Zu weit gerutscht. Ich seufzte und rollte mich auf den Bauch. Die Matratze quietschte wieder.
Am Kopfende der Matratze stand Lucys Nachttisch, ein kleines Schränkchen mit eingebautem Bücherregal. Ich sah mir den Inhalt an und fand ein Poesiealbum im Neunzigerjahre-Design. Ich hatte ungefähr das Gleiche gehabt. Amüsante Erinnerungen an eine Zeit, in der die Eltern für Essen und Unterkunft sorgten und Schuldiscos das Aufregendste waren – eng tanzen mit den Jungs, bis man um neun abgeholt wurde. Kleine Freuden, die sich groß anfühlten. Ich nahm das Buch aus dem Regal und blätterte darin. Die Seiten waren leer. Ich begann von vorn und schlug Seite um Seite auf. Nichts, nichts, nichts. Dann, etwa auf Seite zwanzig, fand ich einen Eintrag. Es war eine lieblose, gemeine Zeichnung. Ein mit schwarzem Filzstift hingekritzeltes Schwein. Darunter stand in krakeliger Schrift: »Das ist Lucy.«
Ich starrte das Bild eine Weile an und lauschte dem Atem meiner schlafenden Freundin. Dann klappte ich das Buch zu, stellte es wieder ins Regal und brachte meine Knirschschiene in Position. Ich versuchte zu schlafen. Aber das ging nicht.