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Der Teil mit dem Ende der Fahrt

DAPHNES MIXTAPE

Astrud Gilberto – Take It Easy My Brother Charlie

Das kleine Mädchen hatte große dunkle Augen, lange schwarze Locken und trug an den Füßen giftgrüne Plastiksandalen. Auf dem langen T-Shirt, das es als Kleid trug, war ein riesiger knallgelber Tweety mit einer rosafarbenen Schleife auf dem mutierten Riesenschädel. Das Mädchen war vier oder fünf Jahre alt und trat gelangweilt von einem Fuß auf den anderen, drehte sich um sich selbst und kaute gedankenverloren auf dem Zeigefinger seiner rechten Hand. Was Kinder eben taten, die nichts mit sich anzufangen wussten. Die Mutter des Mädchens unterhielt sich seit einer gefühlten Stunde mit einer mutmaßlichen Bekannten, die sie auf der Straße vor dem Waschsalon getroffen hatte, in dem Betty, Lucy und ich auf Bänken saßen und schwitzend darauf warteten, dass unser Waschgang beendet wurde.

Aus irgendeinem Grund hatte es das Mädchen auf mich abgesehen. Sie schaute immer wieder durch die Eingangstür, winkte mir schüchtern zu und versteckte sich kichernd hinter der Tür, wenn ich zu ihr hinübersah und müde zurückwinkte. Ich hatte keine Lust, mich mit dem Kind zu beschäftigen. Ich war zu gefangen in meinen Gedanken an Richard und unser nächtliches Telefonat. Ich konnte mich nicht entscheiden, was ich schlimmer fand: die Tatsache, dass er seinen Urlaub offensichtlich lieber ohne mich verbrachte, oder die Situation, die unser Streit heraufbeschworen hatte. Ich hier, er dort, das letzte Wort »Arschloch« und die Unmöglichkeit einzuschätzen, was das mit uns gemacht hatte. War jetzt Schluss? Wollte ich das?

Ich zwang mich zu erkunden, wie es mir mit dem Gedanken ging, und ja, der Verlauf des Telefonats, unser Streit, die Enttäuschung über das, was Richard getan hatte, das alles tat weh. Wenn ich mir jetzt aber vorstellte, dass er sich von mir trennen wollte, weil ich ihn Arschloch genannt hatte, und weil er ja auch kein Idiot war und genauso wie ich gemerkt haben musste, dass es in letzter Zeit nicht mehr schön mit uns war … wenn ich mir das vorstellte, war ich seltsamerweise nicht am Boden zerstört wie sonst immer, sondern erleichtert. Als dürfte ich nach einem langen Arbeitstag endlich nach Hause gehen. Gut möglich, dass ich unter einer Art Schock stand und dass ich, sobald dieser vorbei und es zwischen mir und Richard wirklich aus war, so schlimm leiden würde wie noch nie zuvor. Betty sagte, ich hätte vor ihm noch nie eine echte Beziehung gehabt. Bedeutete das dann nicht auch, dass ich keine Vorstellung davon hatte, wie sich eine echte Trennung anfühlte?

Ich war in meinem ganzen Leben noch nie in einem Waschsalon gewesen und stellte fest, dass das ein Fehler gewesen war. Waschsalons waren der perfekte Ort, um mal gründlich und ohne viel Ablenkung über Dinge nachzudenken.

Wir hatten Stunden gebraucht, um diesen einen zu finden. In Lissabon, so schien es, hatte sich das Geschäftskonzept noch nicht wirklich durchgesetzt, was daran liegen konnte, dass die Leute hier einfach keine Waschsalons brauchten. Wir wären ja auch prima ohne ausgekommen. Wenn Lucy nicht diese verdammte Katze gestreichelt hätte.

Betreten und mit rot geränderten Augen saß sie still am äußersten Ende der Wartebank, zwei freie Plätze zwischen ihr und Betty, starrte auf den gefliesten Fußboden und kratzte sich unablässig im Bereich ihrer Taille an der Stelle, an der wir heute Morgen die Bissstellen gefunden hatten. Vier an der Zahl. Der Floh hatte ganze Arbeit geleistet. Als klar wurde, was genau Lucy da gebissen hatte, war sie ausgerastet. Sie hatte geschrien und geweint und sich vor sich selbst geekelt. Marco, der an einer schnellen Lösung interessiert war, schon allein damit Lucy aufhörte zu heulen, hatte zunächst einmal versucht, die um sich greifende Panik in den Griff zu bekommen, indem er erklärte, dass der Floh eigentlich viel lieber Katzen biss und bestimmt schon wieder von Lucy heruntergehüpft war. Das beruhigte die ehemalige Flohwirtin allerdings kein Stück, also stellte er kurzerhand einen Schlachtplan zur Bekämpfung des Befalls auf: Der Bus sollte ausgesaugt und alle Textilien gewaschen werden.

Und so saßen wir Mädchen jetzt hier vor der surrenden, rumpelnden Industriewaschmaschine und sahen unserem Bettzeug beim Schwimmen zu, während Marco mit dem gelben VW-Bus zur nächsten Tankstelle gefahren war, um mit einem extrastarken Staubsauger den Innenraum von den kleinen Parasiten zu befreien. Jeden Winkel würde er säubern, das hatte er versprochen, als er uns beim Waschsalon abgesetzt hatte.

»Tja, Leude«, sagte Betty, die die Wartezeit damit überbrückte, Zigaretten auf Vorrat zu drehen. »Schade eigentlich. Wir hätten heute auch schön ein bisschen Sightseeing in Lissabon machen können.« Sie sah Lucy an und dann mich und zuckte mit den Schultern. »Aber hätte, hätte, hätte, nä?«

»Ich hätte Richard einfach nicht anrufen sollen.«

»Wie gesagt: Hätte, hätte, hä…«

»Ich weiß gar nicht, was plötzlich in mich gefahren ist. Ich war total … rollig.« Ein besseres Wort fiel mir nicht ein.

Aber Betty verstand. »Klarer Fall von Hormonüberfall, Schätzelein. Du hast Marco umarmt und den Männerschweiß aufgesogen«, sie atmete zur Demonstration tief durch die Nase ein, als wäre Männerschweiß ihre liebste Duftnuance, was theoretisch tatsächlich der Fall sein konnte, »und dann haben deine Geruchssensoren an dein Hirn gefunkt: ›Achtung, Mann!‹ oder ›Was ist eigentlich mit Sex?‹ oder so. Und dann ging’s ab.«

»Ja.« Ich nickte bitter. »Scheiße.«

»Dann hast du Richard angerufen, und das war doch total richtig, Schätzelein, ihr hattet doch ein nettes Gespräch.«

»Na ja, zumindest bis er mir erzählt hat, dass er jetzt freigeno…«

»Ja, genau, und das könntest du mir jetzt vielleicht noch mal genauer erklären, also worüber du dich eigentlich so aufregst. Dann macht Richard eben einen kleinen Urlaub ohne dich, ist doch okay. Er hat seinen Spaß, wir haben unseren Spaß …«

»Spaß?«, fragte ich und betrachtete die rumpelnde Waschmaschine.

»Okay, die meiste Zeit haben wir unseren Spaß. Wenn wir nicht gerade Flöhe im Bus haben.«

Lucy wimmerte und zog ihre Knie unters Kinn.

Betty seufzte. »Du wirst sehen, in zwei Wochen werden alle ihren Spaß gehabt haben, und dann treffen wir uns in Hamburg wieder und erzählen uns gegenseitig von unseren Abenteuern. Ist doch super.«

Ich wünschte, ich hätte das so sehen können wie Betty. Konnte ich aber nicht. Ich fühlte mich von Richard verarscht. Verraten. Ungeliebt. Ich machte »pff«, kratzte mich am Hinterkopf und fragte mich, ob ich auch Flöhe hatte. Eine kleine Welle des Ekels sorgte dafür, dass ich mich unwillkürlich schütteln musste.

»Ach, Schätzelein.« Betty platzierte eine fertig gedrehte Zigarette in ihren Tabakbeutel und legte mir einen Arm um die Schulter. »Jetzt mal Butter bei die Fische: erst die Sexfalle, jetzt diese Urlaubsangelegenheit … Du machst immer eine Riesensache aus nichts. Und wenn das dein Beziehungsstil sein soll, dann machst du’s nicht mehr lang, dann geht dir die Puste aus, bevor du ›Ja, ich will‹ sagen kannst, das kann ich dir versprechen.«

»Aber ich muss doch den Mund aufmachen, wenn mich etwas stört.«

»Wenn dir danach ist? Ja klar. Regel Nummer eins, jeder soll immer machen, was er will. Aber bevor du den Mund aufmachst, kannst du dich ja auch einfach mal so aus Bock fragen, was eigentlich schlimmer ist: das, was dich stört, oder das, was kommt, nachdem du den Mund aufgemacht hast. Du hättest gestern auch einfach sagen können: ›Ja, cool, genieß deine freie Zeit. Hau rein!‹ Dann machst du eben ein anderes Mal mit Richard Urlaub. Das musst du ja sowieso, oder? Denn jetzt bist du mit uns hier, und er hängt zu Hause cool ab, so isses nun mal. Und daran hat das ganze Drama gestern rein gar nix geändert.«

»Dafür hat man Freunde!«, unterbrach ich sie bestürzt, »damit man sich noch dümmer vorkommt als ohnehin schon.«

»Du bist nicht dumm, Schätzelein. Du bist einfach ein Mensch mit sehr konkreten Vorstellungen. Und du wirst immer nervöser, je mehr die Realität von dem abweicht, was du dir vorgestellt hast.«

»Quatsch …«, begann ich.

»Kein Quatsch. Ich glaub, der Satz, den ich in den letzten Tagen am häufigsten von die gehört habe, war: ›So hab ich mir das nicht vorgestellt.‹ Wir wissen beide, dass du dir bloß selbst das Leben schwermachst, weil alles immer so sein soll, wie du glaubst, dass es am besten ist. Du kannst einfach nicht lockerlassen. Ich versuch schon seit Jahren, das aus dir rauszukriegen, aber du bist wie ein Rottweiler, der sich in einen Kinderarm verbissen hat.« Sie schüttelte betrübt den Kopf.

Schmollend zog jetzt auch ich wie Lucy meine Knie unters Kinn, und als das kleine Mädchen mir von der Eingangstür aus zuwinkte, winkte ich nicht zurück. »Warum denkst du eigentlich immer, dass du alles besser weißt als ich?«

»Weiß ich ja vielleicht gar nicht.« Betty nahm den Arm von meiner Schulter. »Aber ich hab weniger Stress mit dem Leben als du, das immerhin weiß ich. Ich erwarte eben nicht so viel von anderen Leuten. Ich sorg selbst dafür, dass es mir gut geht und mach das nicht von anderen abhängig so wie du. Ich versuch, die Dinge ganz entspannt auf mich zukommen zu lassen und mir eben nicht zu viel vorzustellen. Und wenn dann mal etwas nicht so ist, wie ich mir das ausnahmsweise vorgestellt habe, bricht für mich nicht die Welt zusammen. Aber du … Du wirst immer gleich sauer.« Sie hielt mir eine ihrer selbst gedrehten Zigaretten unter die Nase. »Rauchen?«

Vielleicht taten wir Lissabon unrecht, ganz bestimmt sogar, aber wir hatten genug von der heißen Stadt, dem Flohzirkus und den lauten Straßen. Wir wollten so schnell wie möglich wieder Meer sehen und frische Luft atmen. Also hieß es, nachdem Marco uns drei beim Waschsalon aufgegabelt hatte, adeus, Lisboa!

Es war trotz allem ein schöner Tag. Die Sonne schien und brachte Autos, Bäume und Häuser zum Strahlen, die Menschen auf den Straßen sahen entspannt und zufrieden aus, und der Bus war von Flöhen und dem Dreck unzähliger Reisen befreit, die er mit Sky in all den Jahren unternommen hatte. Er duftete sogar. Nach Weichspüler. Durch die offenen Fenster wehte eine sanfte Brise, und auch wenn es in den letzten zwölf Stunden einige unerfreuliche Vorkommnisse gegeben hatte, lag etwas undefinierbar Vielversprechendes in der Luft. Es konnte alles sein. Vielleicht sogar bloß ganz simple Vorfreude auf den Strand und das Meer und den wunderschönen Sonnenuntergang in Sagres, von dem uns Marco erzählt hatte. Immer der A2 nach, gen Süden, bis es nicht mehr weiterging. Dann noch eine kurze Strecke Richtung Westen, ausnahmsweise, und dann sollten wir ihn erreicht haben: den südwestlichsten Punkt des europäischen Festlandes, der in Anbetracht unserer schwammigen Reiseroute so etwas wie ein Ziel war, denn weiter südwärts würden wir an dieser Stelle nicht kommen. Es sei denn, Skys Bus entpuppte sich als Amphibienfahrzeug.

Jesus verabschiedete uns mit offenen Armen, als wir über die Ponte 25 de Abril fuhren. Nicht der Kfz-Jesus vom Berg der Wunder (wo der sich aufhielt, wusste nur er selbst und Gott vielleicht), sondern die große Statue, die auf der anderen Seite der Bucht, gegenüber dem Stadtzentrum, steingrau und weiß in den blauen, wolkenlosen Himmel ragte, und von dort über alles zu wachen schien.

»Ist das Jesus?«, fragte Lucy von der Rückbank.

Betty zog an ihrer Zigarette und duckte sich ein bisschen, um die Statue vollständig durch die Windschutzscheibe sehen zu können. »Jep. Jesus. Ganz richtig, Lucinda.«

»Aber ich dachte, wir kommen aus Lissabon.«

»Kommen wir ja auch.«

»Nee.« Lucy schüttelte den Kopf und kratzte sich nebenbei am Bauch. »Also wenn das Jesus ist, dann kommen wir gerade aus Rio. Weiß doch jedes Kind.«

Betty blies grinsend Rauch aus dem Fenster. »Cool. Dann kann ich hinter Rio ja einen Haken machen.«

Ich steckte ihre Kassette in das Tapedeck und drückte auf Play.

Etwa vier Stunden sollte die Fahrt bis Sagres laut Marco dauern, die miese Spitzengeschwindigkeit unseres Busses mit eingerechnet.

Wir hätten es besser wissen müssen.

Es gab Gründe dafür, warum das Wort Zeitplan in diesem Urlaub verboten war. Nicht nur, weil Betty damit ein Problem hatte, sondern weil es einfach sinnlos war. Bisher war jedes Mal, wenn wir auf dieser Reise so etwas wie einen Plan gemacht hatten, etwas Unvorhergesehenes passiert. Manchmal auch etwas Katastrophales. Ganz sicher passierte nicht das, was wir uns vorgestellt hatten.

Vier Stunden bis Sagres? Nicht mit uns.

Etwa dreieinhalb Stunden nachdem wir Lissabon verlassen hatten, passierte das Unvermeidliche. Es traf uns, trotz allem, unvorbereitet und schlich sich an wie ein hinterhältiges Raubtier. Betty war die Erste, die es bemerkte.

Eben gerade hatte sie noch vergnügt ein Lied auf Lucys Tape mitgesungen – das eine von Lady Gaga über diesen spanischen Typen –, als sie plötzlich mitten im schönsten »Ale-ale-jandro« verstummte und stirnrunzelnd die Anzeigen auf dem Armaturenbrett studierte. Dem folgte ein verwirrter Blick nach unten, auf ihren Fuß, der das Gaspedal kräftig nach unten trat.

Ich spürte, dass der Bus trotzdem an Geschwindigkeit verlor. Sogar mir war klar, dass das nicht richtig sein konnte, und das obwohl ich ansonsten nichts über die Technik oder die Bedienung von Kraftfahrzeugen wusste.

»Stimmt was nicht?«, fragte ich besorgt.

»Weiß nicht«, murmelte Betty und lenkte den ausrollenden Bus rechts an den Straßenrand. Kaum standen wir, begann der Bus zu blinken oder vielmehr, die Anzeigenlämpchen, alles blinkte wie verrückt, dann begann das Piepen. Ein hoher, schlimmer Ton, der an sich schon scheußlich war, aber dadurch noch scheußlicher wurde, dass wir nicht wussten, wie wir ihn abstellen konnten. Oder woher er überhaupt kam. Der uns deutlich machte: Hier ist etwas kaputt. Wirklich kaputt.

»Was ist das?«, schrie Lucy von hinten, sprang fast gleichzeitig von der Bank, riss die Schiebetür auf und rannte ins Freie. »Explodiert der Bus?!«, kam ihre panische Stimme vom Standstreifen.

War das wirklich möglich? »Explodiert der Bus?«, wiederholte ich flüsternd die Frage und sah Betty mit schreckgeweiteten Augen an, eine Hand an der Beifahrertür, bereit zur Flucht. »Kann er das? Einfach so explodieren?«

Betty machte Anstalten, den Motor erneut zu starten. Sie hatte die Hand bereits am Zündschlüssel, überlegte es sich im letzten Moment aber anders. »Aussteigen«, sagte sie, öffnete ihre eigene Tür und griff nach ihrem Handy. »Ich ruf Marco an.«

Aber das war nicht nötig. Kaum war ich von meinem Sitz gerutscht, sah ich ihn schon auf uns zurennen. Offenbar war ihm aufgefallen, dass wir ihm nicht mehr folgten. Sein Wagen stand ein paar Hundert Meter entfernt ebenfalls am Straßenrand. Die Hitze flimmerte über dem Asphalt, Autos brausten an uns vorbei, und Marco schwitzte in der Nachmittagshitze – auf Höhe seiner Achselhöhlen hatten sich dunkle Flecken gebildet, gut sichtbar, obwohl er sein schwarzes Iron-Maiden-T-Shirt trug. Männerschweiß, dachte ich unwillkürlich, dem komme ich besser nicht zu nahe.

»Was ist denn passiert?«, erkundigte er sich atemlos, noch im Laufen.

Betty zog die Schultern hoch. »Keine Ahnung. Plötzlich ging nichts mehr, und dann war Komplett-Alarm …« Sie wischte sich über die Stirn. »Keine Ahnung«, sagte sie noch einmal.

Marco hängte sich durch die geöffnete Fahrertür in den Bus und betrachtete das Blinklichtfeuerwerk auf dem Armaturenbrett. »Hattet ihr alles nachgefüllt? Öl? Wasser?«

Betty kam näher. »Da war laut Anzeige auf jeden Fall genug drin … Und das musst du doch auch gesehen haben, als du vorgestern den Bus repariert hast.«

»O mein Gott!«, rief in diesem Moment Lucy. Obwohl es mehr ein Kreischen als ein Rufen war. »Es brennt!« Und während wir anderen uns erst einmal orientieren und herausfinden mussten, wo genau es brannte und was überhaupt, war Lucy schon dabei, hektisch ihren pinkfarbenen Koffer aus dem dem Untergang geweihten Fahrzeug zu zerren. Er war nicht verschlossen, und T-Shirts, Unterhosen und Sonnencremetuben fielen heraus und verteilten sich auf der staubigen Straße. Aber das war das kleinere Übel, verglichen mit der absoluten Auslöschung all ihres mitgebrachten Hab und Guts im Flammenmeer, zu der es unweigerlich wenige Augenblicke später kommen musste – davon schien zumindest Lucy überzeugt zu sein. Und vielleicht lag sie damit ja gar nicht so falsch, denn in der Tat schwebte in dichter werdenden Fahnen Rauch aus dem Inneren des Busses in den portugiesischen Himmel.

Ein ermattetes »Scheiße« war alles, was mir dazu noch einfiel. Das war dann wohl das Ende der Reise.

Marco und Betty rannten von der Vorder- zur Rückseite des Busses, öffneten todesmutig die Heckklappe und die Klappe zum Motorraum und fanden sich sofort in einer dichten Wolke aus Qualm wieder. Lucy entfuhr ein erneuter Schrei. Ich wünschte, sie könnte sich ein bisschen zusammenreißen. Nicht alles noch schlimmer machen mit ihrer Hysterie. Nur einmal. Jetzt wäre zum Beispiel ein guter Augenblick dafür gewesen.

Nachdem die Sicht auf den Motor sich etwas verbessert hatte, warf Marco einen Blick darauf und nickte, als er seine Vermutung bestätigt sah. »Hab ich’s mir doch gedacht. Zu wenig Kühlwasser.« Er warf Betty einen Blick von der Seite zu, der zwei Dinge ausdrückte. Erstens: Der fährt erst mal nicht mehr. Und zweitens: So einen Anfängerfehler hätte ich dir niemals zugetraut.

Betty verstand. »Aber laut Anzeige war alles in Ordnung!«, wehrte sie sich aufgebracht. »Ich hab wirklich drauf geachtet!«

Das entsprach der Wahrheit. Betty hatte in der Tat äußerst penibel auf die Kühlwasseranzeige geachtet, aber geholfen hatte das trotzdem nicht, denn die Anzeige log. Das stellte sich eine Stunde später heraus, als der Bus von einem alten, braun gebrannten Mechaniker begutachtet wurde, dessen Werkstatt, zu der uns Marco abgeschleppt hatte, im Randgebiet von Lagos lag, einer kleinen Stadt an der Algarve. Zu der Werkstatt gehörten ein niedriges, kastenförmiges Betongebäude, das Büro und Lager zugleich war, und ein sandiger Hof, von einer Mauer umgeben, auf dem Autos parkten, die nie wieder fahren würden und nur noch als Ersatzteillager dienten. Ich schluckte bei dem Anblick und fragte mich, ob Skys Bus dasselbe Schicksal ereilen würde. Lucy saß etwas abseits auf einem Stapel alter Reifen in der Sonne und kratzte unglücklich an ihren Flohbissen.

»Lucy! Nicht kratzen!«, rief ich ihr zu. »Davon wird es nur schlimmer!«

Sie sah mich traurig an, sagte »Okay« und kratzte weiter.

Wir anderen standen neben dem Bus, ein gebührender Abstand zwischen uns und dem faltigen, hageren Fachmann, der den Schaden untersuchte und mürrisch portugiesische Wörter murmelte, von denen wir selbstverständlich mal wieder kein einziges verstanden.

Ohne Ana wären wir aufgeschmissen gewesen.

Ana war die Tochter des Mechanikers. Sie war etwas jünger als wir und so ungefähr das hübscheste Mädchen, dass ich je gesehen hatte. Sie hatte lange, dicke Haare, ein schmales Gesicht mit goldenem Teint, der ihre grünen Augen zum Strahlen brachte. Außerdem war sie zwar kleiner als ich, hatte aber diese perfekten, schlanken, langen Beine, für die ich sie reflexmäßig gern gehasst hätte, weil sie meine eigenen wie Stummel erschienen ließen. Aber ich konnte sie nicht hassen, denn sie war wirklich reizend und sprach außerdem, wenn auch nur gebrochen, Deutsch – »Wir haben Tante und Onkel in Hamburg« – und rettete uns damit in dieser Situation den Arsch.

»Das Thermometer im Wassertank ist verrutscht. Also war weniger Kühlwasser drin als angezeigt«, fasste Marco ihre etwas krude Erklärung der aktuellen Lage zusammen.

Betty war erleichtert. »Also war es wirklich nicht meine Schuld. Hab ich doch gesagt.«

»Da hast du recht.«

»Gut.« Betty nickte zufrieden. »Danke.«

»Und jetzt?«, fragte ich Marco.

Er zuckte mit den Schultern und ließ Ana antworten.

»Motor su heiß und dann …« Sie machte ein Geräusch wie eine kleine Explosion. Wir schauten betreten den Bus an, als könnte das die ganze Katastrophe ungeschehen machen. Konnte es natürlich nicht. Währenddessen wechselte Ana ein paar Worte mit ihrem Vater, dessen Gesichtsausdruck nichts Gutes verheißen ließ. Als die Unterhaltung beendet war, spuckte er auf den Boden und wischte sich seine ölverschmierten Hände an einem nicht weniger ölverschmierten Tuch ab.

»Vielleicht kann man heil machen, vielleicht nicht«, erklärte seine Tochter, und ich hatte nicht das Gefühl, nach diesem Fazit in irgendeiner Weise beruhigter oder auch nur ein bisschen schlauer zu sein als vorher.

»Und wenn nicht?«, fragte ich, ohne viel Hoffnung. Ich rechnete mit dem Schlimmsten. Autofriedhof, schoss es mir durch den Kopf. Der gelbe Bus würde hierbleiben und ausgeweidet werden, wie ein verendetes Tier in der Steppe. Umkreist von Geiern.

»Neue Motor.« Sie rieb Daumen und Zeigefinger der rechten Hand aneinander und sagte in einem Tonfall, der deutlich machte, wie bedauerlich sie das alles fand: »Leider sehr teuer.«

»Auch das noch!« Ich sank auf den harten Boden und blieb im Staub sitzen. Das passte alles ganz und gar nicht zu meinem vielversprechenden Gefühl vom Morgen. Betty tätschelte mir den Kopf.

Der Mechaniker wischte sich die Hände an einem verdreckten Tuch ab, ließ einen kleinen Redeschwall auf seine Tochter regnen und nickte dann in unsere Richtung, damit sie übersetzte. »Mein Vater erst sehen, ob er kann … reparar?« Sie sah Marco fragend an.

»Reparieren«, antwortete er hilfsbereit.

»Einfach, não?« Ana lächelte schüchtern. Es war ihr deutlich anzumerken, dass es ihr unangenehm war, dass ihr Deutsch so holprig war. Völlig zu Unrecht, ich wünschte, ich spräche nur halb so gut Portugiesisch. Oder Spanisch. Oder auch Französisch. Es war erschreckend, wie wenig von der Sprache nach drei Jahren Frontalunterricht in meinem Gehirn hängen geblieben war … »Reparieren dauern funf oder seis«, Ana hielt sechs Finger hoch, »Tage. Wenn nicht, dann …«, Schulterzucken, »Motor nicht hier, nicht in Portugal. Nur in Alemanha.«

Ich schirmte meine Augen gegen die Sonne ab und sah zu Marco hoch. »Und dann tragen wir den Bus zurück nach Hamburg, oder wie?«

»Na? Haste Bock?« Marco grinste, aber es sah nicht fröhlich aus.

»Und dann is noch eine Sache mit …« Ana suchte nach dem richtigen Wort, fand es aber nicht und nahm stattdessen Marcos und meine Hand und führte uns zur Fahrerkabine, wo sie auf das zerstörte Handschuhfach zeigte. »Totalmente quebrado, leider, das ist nicht su retten …«

Ich räusperte mich peinlich berührt. »Tja, also, das ist eine andere Sache … Hat jetzt auch nicht wirklich oberste Priorität.«

»Also nicht reparieren?«

Ich zuckte mit den Schultern.

»Ich glaube«, sagte Marco, »jetzt musst du mal langsam den Typen anrufen, dem das Ding gehört.«

»Sky …«

»Daphne!«

»Richtig. Ich bin es.«

»Ich hab gerade an dich gedacht.«

»Ach, wirklich. Wie nett.«

»Keine Ursache, Daphne. Schön, von dir zu hören. Genießt ihr euren Urlaub?«

Ich dachte eigentlich, der wütende Unterton in meiner Stimme würde deutlich machen, dass ich mit Sky ein fettes Hühnchen zu rupfen hatte. Aber er war eben einfach nicht so der Typ, der die Dinge automatisch negativ interpretierte. Eher war es andersrum der Fall.

Ich musste also deutlicher werden. »Nein, Sky, wir genießen den Urlaub nicht.«

»Nicht? Dann muss das an dir liegen, Daphne. Ich hab doch gesagt: Lass die Vierzigjährige mal zu Hause. Mach dich locker. Leb geschmeidig …«

»Ich hab’s wirklich versucht, aber …«

»Ganz, ganz sicher?«

»Ganz, ganz sicher. Es ist nur leider etwas dazwischengekommen … Sky, wenn ich jetzt das Wort Kühlwassertankthermometer sage, fällt dir dazu etwas ein?«

Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. »Allerdings. Das ist verrutscht. Muss man drauf achten. Also, lieber immer ein bisschen früher Wasser nachfüllen, als das angezeigt wird. Gut, dass du es ansprichst.«

Ich saß auf einem umgedrehten Eimer im schmalen Schatten der Werkstattmauer und schlug mir wiederholt mit der flachen Hand gegen die Stirn. Damit kompensierte ich, dass ich nicht tun konnte, wonach mir eigentlich der Sinn stand: nämlich Sky wiederholt mit der geballten Faust auf die Nase zu boxen. Irgendwie schaffte ich es, so ruhig wie möglich, zu fragen: »Warum hast du uns das nicht vorher gesagt?«

»Vor was?«

»Bevor wir abgefahren sind?« Ich versuchte, die Wut herunterzuschlucken. Aber sie suchte sich ihren Weg, und schließlich sprang ich von meinem Eimer auf und schrie ins Telefon: »Bevor wir mit deinem kaputten Bus einmal quer durch Europa gefahren und auf einer Landstraße in Portugal liegen geblieben sind? Bevor uns diese Schrottkiste fast um die Ohren geflogen wäre und ein Schaden entstanden ist, für dessen Reparatur wir jetzt Tausende von Euro zahlen müssen, die wir nicht haben?!«

»Oh, ihr seid in Portugal? Klasse!«

Ich starrte das Handy in meiner Hand einige Sekunden ungläubig und noch immer wutschnaubend an, schüttelte fassungslos den Kopf und platzierte es wieder an meinem Ohr. »Sky!?«

»Wieso, ist doch cool«, sagte er, entspannt und vergnügt, als hätte ich lediglich seinen Regenschirm verlegt. »Macht euch ein paar schöne Tage in Portugal … Wo genau seid ihr denn da?«

»Lagos«, antwortete ich tonlos.

»Hm, na ja. Ein bisschen touristisch, aber ganz nett. Kann man auch seinen Spaß haben.«

»Kannst du mir bitte mal erklären, wie wir hier Spaß haben sollen, wenn wir am Rande des Ruins stehen, weil du vergessen hast, uns mitzuteilen, dass dein Bus kaputt ist?«

Am anderen Ende der Leitung zog Sky an einer Zigarette oder, wahrscheinlicher, einem Joint, atmete langsam aus und sagte mit gepresster Stimme, als würde er ein Husten unterdrücken: »Meine Güte, wie kann man nur so scheiße drauf sein, wenn man quasi mit einem Fuß im Atlantik steht?«

Ich wollte ja nicht nerven, aber ich hatte das Gefühl, Sky hatte mich noch immer nicht verstanden. »Weil wir hier ein echtes Problem haben.«

»Ist doch ganz einfach. Ich schick dir das Geld, und dann lässt du den Bus reparieren. Gehört ja schließlich mir, das Ding.«

Ganz einfach also. Ich war ein bisschen perplex, weil die ganze Situation in Skys Welt, der Welt des reichen Erben eines Schwammimperiums, gar keine Katastrophe war, nicht einmal eine Bodenwelle, einfach nur ein veränderter Umstand. Aber auch, wenn das Problem mit den Reparaturkosten jetzt aus der Welt war, gab es noch ein zweites. »Es dauert mindestens sechs Tage, den Bus zu reparieren, Sky. Und vielleicht braucht er einen neuen Motor, dann muss er nach Deutschland abtransportiert werden. Ich muss in zehn Tagen zu Hause sein, das klappt nie …«

Sky seufzte. »Wenn das alles zu lang dauert, ruf mich an, dann kauf ich dir ein Flugticket nach Hamburg. War’s das, Daphne? Sonst noch was? Oder willst du dir jetzt endlich diesen Stock aus dem Arsch ziehen und einfach wieder Urlaub machen?«