8

Der Teil mit dem bösen Wolf

DAPHNES MIXTAPE

Maximo Park – The Coast Is Always Changing

Betty kannte sich ein bisschen aus auf den Straßen Frankreichs. Sie wusste, dass sie schrecklich waren, lang und langweilig. Und dass man alle naselang anhalten und Geld dafür bezahlen musste, dass man auf den langen, langweiligen Straßen fahren durfte. Betty war der Meinung, je schneller wir Frankreich hinter uns ließen, desto glücklicher wären wir am Schluss. Außerdem war es wichtig, unter keinen Umständen in die Nähe von Paris zu kommen. »Unter. Keinen. Umständen«, betonte sie, während sie den Blick starr auf der Autobahn und ihren Fuß schwer auf dem Gaspedal ruhen ließ. »Wenn man erst mal in den Strudel reingeraten ist, dann gibt es keine Rettung mehr. Dann ist das unser Ende.«

»Was ist denn bloß so schlimm an Pa…«

»Ich will nicht darüber reden«, unterbrach sie mich unwirsch, kaute konzentriert auf ihrer Unterlippe, und damit war das Thema beendet.

Ich schob Lucys Kassette in das Kassettendeck. Sie war wieder dran. Außerdem wollte ich mich ein bisschen bei ihr beliebt machen, damit sie zumindest wieder mit mir redete. Irgendein zuckriger Sommerhit erfüllte den Bus, und ich drehte mich zu ihr um, um zu sehen, ob sie meine Geste der Entschuldigung zur Kenntnis nahm. Aber sie zeigte mir die kalte Schulter und fixierte ihren Blick auf die Landschaft, die vor dem Seitenfenster des Busses vorbeiflog. Nur kein Blickkontakt. Die Taktik kannte ich. Die benutzte ich selbst oft genug, wenn Richard und ich wieder einmal in einem unserer Beziehungsgrabenkämpfe steckten. Das war zermürbender als unter Beschuss zu stehen. Eine Taktik für Sadisten.

Überhaupt. Richard.

»Richard hat sich heute noch gar nicht gemeldet.«

»Das ist doch gut. Ist ja schließlich Urlaub.« Betty drehte sich im Fahren eine Zigarette. Mir kam die Idee, ihr ein T-Shirt mit dem Spruch drucken zu lassen. Der passte anscheinend immer.

»Ich mein ja nur. Als er gestern angerufen hat, war die große Hannes-Krise zu Hause ausgebrochen …«

»Sag den Namen nicht«, murmelte Betty.

»Ich werd hier eh ignoriert«, sagte ich und hoffte, dass Lucy es gehört hatte. Um es mir bequemer zu machen, legte ich meine Füße auf das Armaturenbrett und verschränkte die Arme über dem Bauch. »Ich hätte einfach gedacht, dass er sich heute noch einmal meldet, mit einem Update.«

»Wahrscheinlich ist alles wieder in Ordnung. Katastrophe abgewendet, ein paar Schnaps draufgeschüttet … Anstatt dir jetzt darüber den Kopf zu zerbrechen, könntest du dich lieber nützlich machen und mir das Feuerzeug geben.« Das tat ich. »Und jetzt schaust du in die Karte und sagst mir, wo wir als Nächstes hinfahren. Wir wollen ja schließlich etwas erleben.«

»Ach! Jetzt darf ich plötzlich die Route aussuchen?«

»Nicht die Route, nur das nächste Ziel. Und im Süden muss es sein, nä?«

»Wie wär’s mit Paris?«

»Spacken.«

Hinter uns räusperte sich Karol, der Pole, der zwischen der schmollenden Lucy und dem schnarchenden Viktor auf der Rückbank saß. »Ich mach ein Vorschlag, ja? Darf ich?«

Ich drehte mich um, und so musste Lucy sich fast den Hals verrenken, damit sie mich bloß nicht anzusehen brauchte. Es war einfach nur albern. »Lucy, es tut mir doch leid.«

»Ts!«, machte sie und stützte ihr Kinn auf der Hand auf.

»Vorschlag?«, fragte Karol wieder, und ich zuckte mit den Schultern.

»Von mir aus.«

»Arcachon ist gut.« Der Bus war erfüllt von dem typischen Rauschen und Brummen eines alten, klapprigen Fahrzeugs in Bewegung, und irgendwo unter dem Geräuschteppich taten Take That ihr Bestes, um Gehör zu finden. Karol hingegen schien gesagt zu haben, was er zu sagen hatte. Weitere Ausführungen waren nicht geplant.

Also hakte ich nach. »Und was ist an Arcachon so gut?«

Er öffnete und schloss den Mund, augenscheinlich auf der Suche nach den richtigen Worten. »Dort ist Sand. Viel Sand auf einem Platz.« Er gestikulierte mit den Händen und malte Wellen oder Berge oder so was in die Luft. »Wydma.«

»Was-ma?«

»Ist doch egal, Schätzelein, jetzt guck in die Karte und sag mir, wie wir da hinkommen. Ich seh da vorn einen Laster, der nimmt uns bestimmt im Windschatten mit.« Betty wechselte die Spur, während ich die Straßenkarte aufschlug. »80! 85! 90!«, jubelte sie. »Arcachon, wir kommen!«

»Tja, wieder was gelernt.« Betty stemmte die Hände in die Hüften und studierte das große Informationsschild am Rand des Parkplatzes.

Ich stand neben ihr und tat dasselbe. »Wydma. Da hätte ich auch keine Ahnung gehabt, wie ich das übersetzen soll.«

»Mit Wanderdüne vielleicht?«

»Ach, Betty, was würde ich nur ohne dich machen?« Ich klopfte ihr ironisch auf die Schulter und beendete die Lektüre des deutschen Informationstexts: Dune du Pyla. Die größte Wanderdüne Europas, ein 108 Meter hoher Sandberg. Und auf der anderen Seite wartete der Atlantik auf uns. »Auf jeden Fall ein Erlebnis.«

»Und das Beste, Schätzelein: Wenn wir uns jetzt gleich auf den Weg machen, können wir uns sogar noch den Sonnenuntergang über dem Ozean ansehen.«

»Das sollten wir tun.«

»Is ja schließlich Urlaub, nech?«

»Allerdings.«

Wir gingen zurück zum Bus, packten Decken, Wasser und Torte in meinen Rucksack, zogen Jacken an und fragten die Polen, ob sie Lust hätten, uns zu begleiten. Wir fragten auch Lucy. Das heißt, Betty fragte sie. Mit mir redete sie nach wie vor kein Wort, und überhaupt wollte sie lieber weiter beleidigt sein, im Bus bleiben und alte SMS von Hannes aus ihrem Handy löschen. Und da ja schließlich Urlaub war und jeder so sollte, bedrängten wir sie nicht weiter. Das heißt, Betty bedrängte sie nicht weiter. Ich stand nur daneben und fragte mich, ob das jetzt die kommenden Tage und Wochen so weitergehen würde.

Wir stapften los in Richtung Sonnenuntergang. Und obwohl ich mir eigentlich nichts mehr wünschte als Harmonie im Camp, stellte ich überrascht fest, dass ich zum ersten Mal seit Langem zufrieden war. Als wir das Waldstück am Fuß der Düne durchquerten und ich den Tag Revue passieren ließ, kam ich zu dem Schluss, dass der Urlaub jetzt endlich angefangen hatte. Und er hatte gut angefangen. Selbst wenn sich zwei polnische Anhalter in die Reisegruppe eingeschlichen hatten und Lucy mich vorübergehend hasste. Wir waren unterwegs, wir erlebten etwas und das, was ich mir erhofft hatte, als ich in Hamburg in den Bus gestiegen war, war eingetreten: Mit jedem Kilometer, den ich zwischen mich und mein Zuhause brachte, wurden die Sorgen, die dort die Tage trüber gemacht hatten, kleiner. Die Farbeimer im Flur, die Leiter im Schlafzimmer. Arbeit, Fernsehen, Schlafen gehen – Alltag eben. Und dann immer der Druck, etwas Besonderes aus der seltenen freien Zeit zu machen, die man ab und zu hatte. Das alles kam mir, als meine Füße in den kühlen Sand sanken, nicht mehr wichtig vor. Und war fast vollständig aus meinem Kopf verschwunden, als meine Oberschenkel wenig später wie Feuer brannten, weil die Steigung der größten Wanderdüne Europas nicht von schlechten Eltern war.

»Man muss was tun für die Torte, Schätzelein!«, rief Betty, die mir ein paar Schritte voraus war. Aber selbst das mit der Torte war jetzt auch nicht mehr so wichtig.

Viele Leute gingen ja regelmäßig joggen, weil sie dabei den Kopf frei bekamen und gut nachdenken konnten. Ich joggte nie. Ich fand das unsinnig, laufen ohne Ziel. Ich machte auch keinen anderen Sport, und vielleicht war das der Fehler, weil sich ein Knäuel von Gedanken seit Längerem immer mehr in meinem Kopf verhedderte und ich nie die Gelegenheit hatte, es zu entwirren. Jetzt bestieg ich eine Wanderdüne und erlebte plötzlich einen dieser Joggingmomente der Klarheit: Als ich an Richard dachte und mir bewusst wurde, dass ich froh war, ohne ihn hier zu sein, weil das bedeutete, dass ich mich nicht mit ihm streiten musste, nicht darüber nachdenken, ob die Kleinigkeiten, die in unserer Beziehung immer wieder zu Streitereien führten, eben nicht nur Kleinigkeiten waren, sondern Indizien dafür, dass wir eigentlich nicht zusammengehörten. Und das war doch eigentlich die große Frage. Die, die mir Angst machte.

Betty ging davon aus, dass Richard und ich heiraten und Kinder bekommen würden. Ich war mir nicht einmal sicher, ob wir zusammenbleiben sollten, oder ob ich mir nur etwas vormachte, wenn ich mir sagte, dass er der Mann für mich war und den ganzen Ärger wert. Natürlich hatten wir schöne Momente, aber die wurden weniger, natürlich war ich gern in seiner Nähe, aber Nähe hatte es in letzter Zeit kaum gegeben. Und auch jetzt war Richard nicht hier. Und das war kein Problem. Im Gegenteil: Es ging mir gut damit. Ich vermisste ihn nicht. Kein bisschen. Nicht ein Stück.

Betty war vor mir auf dem Dünenkamm angekommen und stand dort stolz wie der erste Mensch auf dem Mond. Es fehlte nur die Fahne, die sie in den Sand rammen konnte. Da es sich bei der Dune du Pyla aber um ein Naturschutzgebiet handelte, war ich mir nicht sicher, ob das überhaupt gestattet gewesen wäre. Und ohne Fahne ging es ja auch.

»Beweg deinen Arsch, Schätzelein. Die Sonne wartet nicht auf dich.«

»Ach«, keuchte ich zu ihr hinauf, »die kommt morgen wieder.«

»Aber dann sind wir schon wieder ganz woanders. Wir machen es wie die Wanderdüne.« Betty ließ sich in den Sand fallen, und ich setzte mich, als ich endlich oben angekommen war, keuchend neben sie. »Kann es eigentlich sein, dass die Düne mit uns wegwandert, während wir hier sitzen?«, fragte sie mich nach einer Weile.

»Ich glaube, die wandert so langsam, da müssen wir uns keine Sorgen machen.«

»Gut.« Betty zog den Rucksack zwischen ihre Beine und holte zwei Tortenstücke heraus. »Ich hab nämlich keine Taschenlampe dabei, das macht den Rückweg eh schon schwer genug. Und wenn wir dann auch noch kilometerweit abgewandert werden, kann ich für nichts garantieren.«

Ich lachte und beobachtete die Polen, die etwas weiter weg den Sand hinunter Richtung Atlantik rutschten. »Wie lang wollen wir die beiden eigentlich noch mitnehmen?«

Betty zuckte mit den Schultern. »Von mir aus können wir sie morgen irgendwo absetzen. Ich hatte ja gedacht, dass ich mit dem einen oder anderen vielleicht ein bisschen Spaß haben könnte, aber dann hat Lucinda sich den Guten einfach unter den Nagel gerissen.«

Ich schnappte in gespieltem Entsetzen nach Luft. »Aber Betty! Die sind doch viel zu jung!«

»Zu jung für was, Schätzelein?« Ich schüttelte amüsiert den Kopf, und Betty zog ihr Handy aus der Hosentasche. »Apropos, ich ruf mal meinen Sohn an und erzähl ihm, dass ich gerade in der größten Sandkiste Europas sitze. Der wird platzen vor Neid.«

Und während sie Mo anrief und sich an Max weiterreichen ließ, legte ich uns die Decke über die Schultern und sah der Sonne dabei zu, wie sie orange und rot und groß im Atlantik versank. Es war ein Moment für Romantiker: Händchenhalten, andächtige Stille und dann am Ende ein gehauchter Liebesschwur. Ich saß hier allein. Und genoss es trotzdem.

Erst dachte ich, in den Wäldern rund um die Dune du Pyla gäbe es Wölfe. Betty und ich befanden uns auf dem Weg zurück zum Bus, mit nichts als dem Mond als Lichtquelle, als das Heulen begann. Leidvoll und lang gezogen, und ich griff erschrocken nach der Hand meiner Freundin und hoffte, dass sie wusste, was zu tun war, wenn man einer riesigen, haarigen Bestie mit gefletschten Fangzähnen auf unbekanntem Terrain gegenüberstand. Sich flach auf den Boden legen? Auf einen Baum klettern? Rennen?

Ich bin noch nie auf einen Baum geklettert, dachte ich panisch und fasste Bettys Hand ein wenig fester, bis sie stehenblieb, um erst unsere verschlungenen Finger und dann mich irritiert anzusehen.

»Gibt es einen Grund dafür, dass du mir das Blut in meiner linken Hand abklemmst?«

»Wolf«, flüsterte ich, und das Heulen setzte erneut ein, wie in einem sehr schlechten Film über zwei junge Frauen, die sich in einem nächtlichen Wald verlaufen und von Wölfen überfallen werden. Ich hielt den Atem an. Betty horchte in die Nacht.

»Das ist kein Wolf, Schätzelein«, bestimmte sie schließlich und versuchte, meinen Griff abzuschütteln.

Aber ich war noch nicht bereit, wieder allein auf mich gestellt zu sein. »Was soll das denn bitte sonst sein?«, flüsterte ich panisch.

Sie zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht. Irgendein Vogel?« Plötzlich weiteten sich ihre Augen vor Schreck. Sie zog scharf die Luft ein und griff auch noch nach meiner anderen Hand, die sie so fest drückte, dass ich zu verstehen begann, was sie mit dem Blutabklemmen gemeint hatte. »Oh, oder es ist ein Geist.« Mit ängstlichem Blick suchte sie die Wipfel der Bäume ab und begann zu zittern. »Ganz bestimmt, das ist es! Der Geist eines irren Massenmörders, der vor zwanzig Jahren hier in der Gegend Hunderte von Frauen umgebracht und zerstückelt hat.« Ich wimmerte. »Er hat sie in den Wald gelockt«, flüsterte sie hastig, »und dann hat er sie mit dem Heulen so lang durch die Nacht getrieben, bis er sie in einen Hinterhalt locken konnte. Jagen, Fangen, Ragout draus machen.«

»Betty, hör auf!«

»Nein, du musst die Wahrheit erfahren, Schätzelein. Falls er mich fängt und du ohne mich ums Überleben kämpfen musst.«

»Waaahhh!« Ich war kurz davor, vor Angst zu weinen.

»Am schlimmsten war die Methode, mit der er die Frauen gefangen hat«, fuhr sie fort. »Es war unglaublich grausam … Soll ich es dir erzählen? Ach, was heißt, soll … Ich muss es dir erzählen, du musst alles wissen. Jedes widerliche kleine Detail.«

»Ich will aber nicht«, quetschte ich aus meiner zugeschnürten Kehle.

»Zu spät. Es gibt kein Zurück mehr, und jetzt hör mir genau zu: Er hat Ihnen eine Falle gestellt. Aber es war keine gewöhnliche Falle, kein Fallstrick und kein Loch im Boden, sondern …« Betty machte einen kleinen Schritt auf mich zu, sodass ihre Nase fast meine berührte. Sie holte tief Luft und sagte mit Grabesstimme: »… eine Sexfalle.«

Im nächsten Moment waren die Nacht und der Wald an der Dune du Pyla erfüllt von Bettys schallendem Gelächter. Ich lachte nicht, mein Herz klopfte mir in den Ohren, zwei Tränen des Horrors rollten mir links und rechts die Wangen herunter, und ich war derartig empört darüber, dass Betty mir solche Angst gemacht hatte, dass ich mich nicht einmal mehr vor dem mutmaßlichen Wolfsgeheul fürchten konnte, das wieder in der Luft lag. »Du bist echt eine dumme Scheißkuh«, murmelte ich. »Ich hätte mir deinetwegen fast in die Hose gemacht.«

»Ach, Schätzelein«, sie legte mir einen versöhnlichen Arm um die Schulter, »sei doch froh. Ohne mich hättest du dir bei dem Versuch, auf der Flucht vor dem bösen Wolf auf einen dieser Bäume hier zu klettern, beide Arme und Beine gebrochen.«

»Soll mich das jetzt aufheitern oder was?«

»Klar. Oder hättest du gern gebrochene Arme und Beine?«

»Was ist das denn bitte für eine dumme Frage?«

»Eben.«

Die Quelle des »Wolfsgeheuls« war gleichzeitig das Ziel unserer Wanderung. Der gelbe VW-Bus auf dem Parkplatz. Das hätte Stoff für weitere schlimme Befürchtungen und Horrorgeschichten liefern können, aber damit war ich fertig und hatte außerdem die größte Wanderdüne Europas bestiegen (Jogging-Moment der Erleuchtung), also dachte ich zur Abwechslung mal klar und logisch und kam zu dem Schluss: »Lucy!«

Ich lief die letzten paar Meter bis zur Schiebetür, riss sie auf und entdeckte sofort das Häuflein Elend auf der hinteren Ecke der Matratze, die Knie an den wuchtigen Körper gezogen, der bei jedem Heulen und Seufzen bebte. Ihr Kopf war gesenkt, ihr Gesicht bläulich illuminiert von dem Handydisplay in ihrer Hand.

»Lucy«, sagte ich noch einmal mit einer möglichst sanften Stimme, krabbelte über unser Bett zu ihr in die Ecke und umarmte ihren Kopf, alle anderen Teile ihres Körpers waren einfach zu kompakt umeinander geschlungen, da war kein Rankommen. Ihre Haare, ihr Gesicht, sogar ihre Ohren – alles war klatschnass. In meinen Armen wurden unverständliche Schluchzer geschluchzt.

»Hm? Was?«, flüsterte ich.

Mehr unverständliche Schluchzer.

»Lucy, ich kann dich nicht verstehen. Hol mal ordentlich Luft, ja?«

Sie holte Luft. Dann schluchzte sie etwas Unverständliches.

»Lucinda! Mensch!« Betty kletterte lachend durch die offene Schiebetür in den Bus und zog sie mit einem Rumms zu. »Du hast unserer lieben Daphne einen Mörderschreck eingejagt. Die hat sich eingenässt vor Angst.«

Ich warf ihr einen genervten Blick zu. »Fast, Betty, ich hätte mich fast eingenässt.«

»Wie dem auch sei, mal was ganz anderes: Ihr müsst immer die Fenster und Türen schließen, sonst fressen uns die Mücken.«

»Also, ich finde, wir haben im Moment wirklich andere Sorgen.«

»Das sagst du jetzt. Aber warte mal, bis du heute Nacht kein Auge zumachen kannst, weil diese Mistviecher dir um den Kopf surren und dein Blut trinken wollen.« Noch ein Blick von mir, quasi als letzte Verwarnung. »Was ist denn hier überhaupt los?«

Lucy befreite ihren Kopf und sah an mir vorbei Betty an. Dann schluchzte sie etwas, das nicht zu verstehen war.

»Hä?«, machte Betty.

»Betty, willst du vielleicht mal nach den Polen sehen? Ich glaube, die haben wir irgendwo im Wald verloren.« Ich hob nachdrücklich die Augenbrauen.

Betty verstand zum Glück, nahm die Taschenlampe vom Regal, öffnete die Bustür und nickte mir zu. »Keine Sorge, Schätzelein, die Polen werden gefunden werden. Aber ich mach jetzt diese Tür hinter mir zu. Und wenn ich zurückkomme und sie steht grundlos offen, dann werde ich euch zwingen, jede einzelne Mücke, die sich hier eingeschlichen hat, von Hand zu fangen und …« Ich hätte meine Augenbrauen schon aus rein anatomischen Gründen nicht noch höher ziehen können. »Ja, okay, ich bin dann mal weg. Erstma!«

Sieben Blatt Küchenrolle und ein Stück Torte später war Lucy so weit wiederhergestellt, dass sie sich zumindest artikulieren konnte. Sie war noch immer ein kompaktes Häuflein Elend, sie hielt noch immer den Kopf gesenkt, aber immerhin war sie etwas getrocknet und leckte sich Marzipanreste aus dem Mundwinkel, es ging also bergauf. Ich griff nach ihrem pinkfarbenen Handy und ließ es zwischen Daumen und Zeigefinger kreisen, klappte es auf und zu und überlegte, wie ich am besten fragen sollte. »Hat er sich gemeldet?«, war schließlich der Satz, für den ich mich entschied, weil er einigermaßen neutral klang und nicht den Namen Hannes enthielt, den ich inzwischen als Trigger für ausschließlich negative Reaktionen – vom akuten Heulen bis hin zum Langzeitschmollen – identifiziert hatte.

Lucy begann trotzdem wieder zu weinen. Leise immerhin. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, wie viele Leute außer mir auch gemeint hatten, einen Wolf zu hören. Im schlimmsten Fall war uns schon wieder die Polizei auf den Fersen. Oder ein Sonderkommando Hobbyjäger. Mit Schrotflinten und Fackeln.

»Hat er?«, fragte ich noch mal.

Sie schüttelte den Kopf. Nein also.

»Möchtest du, dass er sich bei dir meldet?«

Sie sagte nichts, zog nur die Nase hoch und starrte auf ihre Hände. Ich interpretierte das als »ja, aber ich würde es nie zugeben«. Ungelenk wischte sie sich mit dem Handrücken über Nase und Wangen. »Die SMS. Ich wollte sie eigentlich bloß löschen. Aber dann hab ich angefangen, sie zu lesen. Eine nach der anderen. Und dann konnte ich nicht mehr.«

Ich nickte, was Lucy natürlich nicht sehen konnte, weil ihr Kopf noch immer nach unten hing. Das konnte auf die Dauer nicht gut sein. »Sag mal, tut dir nicht der Nacken weh?«

»Doch.« Sie hob den Kopf, lehnte ihn gegen die Buswand und starrte an die Decke.

»Wenn es dich so traurig macht, dass ihr nicht mehr zusammen seid«, sagte ich nach einer Pause, »kann das nicht bedeuten, dass du eigentlich gar nicht mit ihm Schluss machen wolltest? Ich meine, vielleicht warst du einfach nur wütend. Jeder ist mal wütend auf die Person, die er liebt, und manchmal ist man so wütend, dass man denkt, dass man eigentlich Schluss machen will, aber eigentlich ist man eben nur … sehr …« Lucy sah mich so seltsam an, so ernst und stolz wie noch nie. Es war ein so fremder Blick, dass er mich komplett aus der Bahn warf. »… wütend?«

Draußen pfiff der Wind und wuschelte durch die Baumwipfel, ein Käuzchen rief, aber der Wolf war verschwunden.

»Hannes hat alles kaputt gemacht. Es gibt eine Sache, ein Problem. Das wusste er von Anfang an. Ich hab ihm alles erzählt, und es war nicht leicht. Ich hab ihm vertraut. Er hat gesagt, dass er mich versteht. Aber er hat nichts verstanden. Er hat alles kaputt gemacht.«

Ich hatte keine Ahnung, wovon sie redete und wusste nicht, was ich sagen oder fragen durfte, ohne dass die Situation wieder eskalierte. Ich hatte das Gefühl, dass ich Lucy nicht drängen durfte, weiterzureden. Schon gar nicht aus dem falschen Grund, aus Neugier. Denn das, worüber sie eben so kryptisch gesprochen hatte, musste etwas sein, das sie lieber für sich behielt, weil es zu schwer war, davon zu erzählen. Wenn sie irgendwann beschloss, die Geschichte mit mir zu teilen, musste ich sie als Freundin hören wollen, als jemand, der bereit war, ihr beim Tragen ihrer Last zu helfen. Ich wusste nicht, ob ich dazu in der Lage sein würde, wenn schon Hannes daran gescheitert war. Aber gemeinhin wuchs man ja mit seinen Aufgaben …

»Ich will jetzt nicht darüber reden«, flüsterte Lucy, als hätte sie meine Gedanken mit angehört. Vielleicht war das Glück. Oder unheimlich. Wie so vieles an diesem Abend.

Ich bemühte mich, einen Arm um sie zu legen und rutschte näher an sie heran. »Es tut mir leid, wenn du das Gefühl hattest, ich hätte dich verraten, weil ich mit Hannes über eure Trennung geredet habe.«

»Mir tut es leid, dass ich weggelaufen bin.«

»Schon okay. Manchmal muss man eben weglaufen.« Im Grunde tat ich selbst ja nichts anderes. Lucy zog die Nase hoch, ich kratzte mich am Bein. Ein Mückenstich. Der erste dieses Urlaubs. »Ich sitz im Moment wirklich zwischen den Stühlen, Lucy. Ich meine … Was soll ich tun? Du und Hannes, ihr seid beide so wichtige Freunde für mich. Ich kann mich unmöglich für einen von euch entscheiden. Und ich weiß zwar nicht genau, was er gemacht hat und warum es dich so verletzt hat, aber ich weiß, dass er dich liebt.«

Lucy machte »Pff!«, und mir wurde klar, dass das Thema für den Abend gestorben war. Vielleicht für immer. Sie streckte die Beine aus und zupfte ihr T-Shirt mit den kleinen Kätzchen darauf zurecht. Eine der Katzen trug eine Schleife auf dem Kopf.

»Geht’s wieder?«, fragte ich, und sie nickte. »Gut, da bin ich froh.« So war zumindest für den Moment die Harmonie in der Reisegruppe wiederhergestellt, und ich konnte mich auf andere Dinge konzentrieren. Hunger. »Haben wir eigentlich noch Blutwurst an Bord?«

Lucy warf mir einen schuldbewussten Blick zu. »Ich hab die Wurst aufgegessen.«

»Die ganze Wurst?!«

»Wenn ich traurig bin, muss ich essen, das war schon immer so.« Sie sah an sich herunter und zog die Beine wieder an, wie um ihren Bauch zu verstecken. »Deswegen bin ich auch so fett.«

»Nein, komm, Lucy … hey, das ist doch nicht schlimm. Mit der Wurst. Und du bist nicht fett, okay? Und ich finde schon was anderes zu essen.« Ich öffnete den Deckel unserer Vorratsbox und wühlte ein bisschen in den leeren Wurstpapieren herum. »Blutwurst lockt eh nur die Mücken an, glaub ich. Vielleicht ein Stück Torte stattdessen?« Allein bei dem Gedanken an noch mehr Torte drehte sich mir der Magen um.

Insofern war es die helfende Hand des Schicksals, die in diesem Moment die Schiebetür rumpeln ließ und den Blick nach draußen freigab, auf Betty, Karol, Viktor und die Flasche Wodka, die sie mitgebracht hatten.

»Lucinda? Schätzelein? Ich bringe euch die Polen. Und polnischen Wodka. Karol?«

»Na zdrowie!«

»Das war Russisch«, stellte ich trocken fest.

»Nix da. Polnisch für Prost ist das. Karol wird das ja wohl wissen.« Betty scheuchte die Jungs zu uns in den Bus und schmiss schnell die Tür zu, bevor die Mücken eine weitere Angriffswelle starteten, um unser mobiles Zuhause zu entern. Dann schraubte sie die Flasche auf und hielt sie triumphierend in die Höhe. »Also dann. Nasströffchen! Auf den Urlaub!«

Zum Glück hatte Sky, aus mir völlig schleierhaften Gründen, Eierbecher an Bord.