20

Der Teil in flagranti

DAPHNES MIXTAPE

Fourth Of July – Tan Lines

Felix war ungehalten, weil unser Abend zu zweit gestört worden war. »Was ist das denn bitte für ein Clown?«

»Das musst du gerade sagen.« Richard hatte recht. Nachdem ich mir den Lippenstift vorsichtshalber ziemlich dick aufgetragen und Felix mich unerwartet ziemlich stürmisch geküsst hatte, war er nun rund um die Lippen dermaßen rot verschmiert, dass er tatsächlich ein bisschen so aussah wie ein Clown. Mir wurde schlagartig bewusst, dass es bei mir mit großer Wahrscheinlichkeit nicht anders war, und ich wischte mir beiläufig mit dem Handrücken über den Mund. Aber eigentlich hatte ich jetzt ganz andere Probleme als das. Größere. »Richard …«, begann ich, wurde aber von Felix unterbrochen.

»Ach, das ist also dein Freund?«

»Und du bist?«

»Richard, das ist Felix. Mein Exfreund.« Den letzten Satz murmelte ich kaum hörbar, weil es mir peinlich war. Peinlicher als mein verschmierter Mund.

Felix hingegen, der sich nach wie vor nicht im Klaren darüber zu sein schien, wie bescheuert er aussah, grinste überheblich. »Tja, du der Freund, ich der Exfreund. Hätte man so jetzt nicht gedacht, oder?«

Richard war nicht der Typ, der sich provozieren ließ, was wirklich für ihn sprach. Und so wie ich ihn kannte, hielt sich sein Interesse an Felix, dem Clown, ohnehin in sehr engen Grenzen. Eigentlich wartete er bloß darauf, dass ich ihm die Situation erklärte. Damit er Bescheid wusste und gehen konnte. Er wandte sich von Felix ab und sah mich direkt an. Sein Blick war müde. »Daphne, was soll das?«

Verlegen schaute ich auf meine Füße, aber wenn ich gehofft hatte, dort so etwas wie eine Eingebung zu finden, hatte ich umsonst gehofft. Ich konnte bloß den Kopf gesenkt halten und mich schämen. Gut möglich, dass ich mich, objektiv betrachtet, doch schlechter benommen hatte, als ich mir das zunächst eingestanden hatte. Und dass es nichts anderes als die gerechte Strafe für mein Fehlverhalten war, dass mein Freund so mir nichts, dir nichts in Lagos auftauchte und mich in flagranti erwischte. Dieser Umstand widersprach zwar allen Regeln der Wahrscheinlichkeit, aber ich wäre ja nicht Daphne Weilandt, wenn nicht ausgerechnet mir so etwas passieren würde. Was schieflaufen konnte, lief schief bei mir. So war das eben, so war das schon immer gewesen.

Unglücklich hob ich meinen Blick und sprach die fünf schlimmen, verbotenen Worte: »Ich kann es dir erklären.«

Richard war darüber mindestens so entsetzt wie ich selbst. Seine Stimme zitterte ein bisschen vor Wut. »Ach, wirklich? Kannst du das?«

»Bitte glaub mir, Richard … Da war nichts!« Verdammt. Es wurde einfach immer schlimmer und schlimmer und schlimmer.

»Okay. Wunderbar. Da war also nichts.« Er musste sich merklich zusammenreißen. »Ich dachte zwar, ich hätte eben gesehen, wie ihr euch geküsst habt, aber das gehörte dann wohl auch zu dem Nichts, das war. Oder wie? Tut mir leid, aber ich kenn mich damit nicht so gut aus.«

Ach so, ja. Der Kuss. »Na ja, abgesehen davon …«

»Interessant«, schaltete sich Felix ein, und ich hätte ihm in diesem Moment am liebsten einen ordentlichen Tritt verpasst – dahin, wo es wehtat. Stattdessen reichte es aber nur zu einem mahnenden Blick, der ihn jedoch nicht davon abhielt zu reden. Natürlich nicht. Wie hatte ich auch nur im Ansatz darüber nachdenken können, diesen Idioten Richard vorzuziehen? »Da war also nichts, Daphne? Kam mir ganz anders vor. Ich meine … soweit ich weiß, haben wir uns hier heute nicht verabredet, um Schnorcheln zu gehen. Gestern haben wir eine gemeinsame Nacht verbracht – in meinem Hotelbett, falls du dich erinnerst –, und es war klar, dass wir das heute wiederholen wollten, insofern …«

»Ich wollte ganz sicher keine gemeinsame Nacht mit dir wiederholen!«

»In seinem Hotelbett?« Richard war laut geworden. Dafür hatte ich volles Verständnis.

»Ich hab da nur geschlafen.«

Felix lachte.

»Von all den Betten in dieser Stadt schläfst du in seinem Hotelbett?«

»Das klingt nicht gut, ich weiß, aber …« Ich entschied, dass es das Beste war, die Karten auf den Tisch zu legen und die Wahrheit zu sagen, die ja im Grunde gar nicht so übel war. Sicherlich nicht so übel wie das, was sich Richard selbst ausmalte. »Wir waren zwar zusammen, aber da ist nichts passiert. Nichts Schlimmes.«

»Definiere schlimm.«

»Ich kann mich nicht einmal daran erinnern, ihn geküsst zu haben.«

»Na, Gott sei Dank!« In gespielter Dankbarkeit schlug Richard die Hände zusammen.

»Wirklich, Richard! Ich war betrunken!« Die Ausrede galt für Richard nicht, das wusste ich, also weiter: »Wir haben nur Händchen gehalten!«

»Händchen?«

»Ja, Händchen. Und selbst das bereue ich jetzt schon, das kannst du mir glauben.« Ich rang mit den Tränen. »Aber wir hatten keinen Sex. Das ist die Wahrheit.« Ich drehte mich zu Felix um und sah ihn durchdringend an. »Du bestätigst ihm jetzt sofort, dass wir keinen Sex hatten.«

Aber Felix dachte gar nicht daran. Er lachte nur fies. »Mach’s gut, Daphne.« Er steckte die Hände in die Taschen seiner Shorts und schlenderte zum Hotel zurück. Auf halber Strecke drehte er sich noch einmal um. »Wenn du wieder klarkommst, kannst du dich ja mal bei mir melden. Dann wiederholen wir das. Ich würd mich freuen.«

»Du bist noch immer derselbe geistig klobige, gefühlsbehinderte Spacken, der du vor drei Jahren warst!«, rief ich ihm hinterher. In erster Linie, damit ich selbst es hörte und kapierte, wie dumm ich gewesen war.

»Vielen Dank.« Felix machte eine kleine Verbeugung. »Und du bist noch immer genauso leicht zu manipulieren.«

Mir stiegen jetzt doch noch die Tränen in die Augen. »Du hast dich bei mir entschuldigt, du Arsch!«

Felix zuckte mit den Schultern, »das war gestern«, und ging.

»Betty hat recht, du bist ein Psycho!«

Während ich mir wutschnaubend über die Augen wischte, bemerkte ich, wie Richard sich neben mir auf die Kaimauer setzte, und hörte, wie er erschöpft ausatmete. Er hatte die Arme auf die Knie gelegt und ließ den Kopf hängen. Ganze Arbeit, Daphne.

Unsicher setzte ich mich zu ihm. Ich hätte ihn gern umarmt, aber ich traute mich nicht. »Es tut mir leid«, flüsterte ich.

Er hob den Kopf und sah mich eine Weile schweigend und ernst an, bevor er etwas sagte. »Ich weiß, wir hatten unsere Schwierigkeiten. Ich weiß, du bist sauer auf mich. Und ich kann sogar verstehen, warum. Aber was ich bis eben nicht wusste, ist, dass du solche Sachen machst, Daphne, dass du fähig bist, mich zu betrügen. Das hätte ich nicht von dir gedacht. Das ändert alles zwischen uns.«

»Aber das mit Felix hatte nichts zu bedeuten!« Warum kamen bloß immer nur dieselben plumpen Klischeesätze aus meinem Mund? »Und da war ja nichts. Das kommt noch hinzu.«

»Hör auf, okay? Irgendetwas war, sonst würden wir hier ja nicht sitzen. Egal ob du nur Händchen gehalten oder mit dem Kerl da wilden Sex gehabt hast. Wirklich, vollkommen egal. Wir sitzen trotzdem hier.« Er richtete sich auf, Erschöpfung und Frustration im Blick, und seufzte. »Ich dachte, du freust dich, mich zu sehen. Ich dachte, wir machen uns hier ein paar schöne Tage mit unseren Freunden, so wie du es wolltest. Hannes und ich waren den ganzen Tag unterwegs, zwei Flüge, der Bus aus Faro …« Neben Felix’ Hotel befand sich der Busbahnhof von Lagos, das erklärte, warum Richard plötzlich hier auf der Straße gestanden hatte. »Ich hab das alles nur für uns gemacht. Weil ich nicht wollte, dass etwas so Bescheuertes wie eine missglückte Urlaubsplanung der Grund dafür ist, dass wir uns trennen.«

Trennen. Allein das Wort machte, dass es mir kalt den Rücken herunterlief. »Das wäre ja auch gar nicht der Grund gewesen. Ich war bloß so enttäuscht, dass …«

»Ich bin noch nicht fertig«, unterbrach Richard mich. Er schloss die Augen, um sich zu konzentrieren, bevor er sie wieder öffnete und fortfuhr. »Jedenfalls mache ich mir diese Gedanken und gebe mir diese Mühe, nur um hierherzukommen und herauszufinden, dass meine Freundin einen Urlaubsflirt mit ihrem Ex hat, während ich in Hamburg sitze und mir den Kopf zerbreche, wie ich das mit uns wieder geradebiegen kann. Und, falls du’s noch nicht gemerkt hast, das ist ein Grund um …«

Ich legte ihm erschrocken eine Hand auf den Arm. Der Groschen war spät gefallen, aber hoffentlich noch rechtzeitig. »Du bist mit Hannes hier?«

Er sah mich gleichzeitig verständnislos und zornig an. »Was hat das denn jetzt damit zu tun?!«

Ich ignorierte die Frage. »Wo ist er?«

»Das kann jetzt nicht dein Ernst sein …«

»Doch.« Mir war klar, wie dieser plötzliche Themenwechsel auf Richard wirken musste. So, als wäre mir dieses Gespräch nicht wichtig. So, als versuchte ich, ihm auszuweichen. »Du wirst es verstehen, versprochen«, erklärte ich ihm verzweifelt, denn jetzt ging es darum, einen guten Freund vor sich selbst zu retten, zwei gute Freunde, um genau zu sein. Dieses Beziehungsgespräch ließ sich hinauszögern, ohne dass noch größerer Schaden entstand – Richard und ich hatten ohnehin schon den tiefsten Punkt erreicht.

Das musste Hannes und Lucy nicht auch noch passieren.

»Wir sprechen später, okay? Wo ist er? Bitte!«

Richard schüttelte langsam den Kopf und starrte einfach nur vor sich auf den Boden. So lange, dass ich irgendwann befürchtete, er würde jetzt aufstehen und gehen und mir gar nichts sagen, mich hier sitzenlassen und nie wieder ein Wort mit mir reden. Aber irgendwann antwortete er doch. »Als wir hier angekommen sind, hab ich bei Betty angerufen. Du gehst ja nicht mehr an dein Handy, weil du offensichtlich nicht gestört werden willst …«

Ich ignorierte diesen Seitenhieb und war schon auf den Beinen. »Und was hat sie gesagt?«

»Sie hat gesagt, dass du in der Stadt bist und dass alle anderen auf dem Weg zu einer Strandparty sind. Also bin ich hiergeblieben, um dich zu suchen. Weil ich dachte, dass wir uns einen romantischen Abend machen könnten.« Er lachte bitter. »Tja. War wohl nix.«

»Und Hannes?!«, drängelte ich zum dritten Mal, aber ich ahnte es schon.

»Bei der Strandparty, nehme ich an.«

»O Gott! Ramon!«

Ich griff nach Richards Hand (er murmelte etwas wie: »Ich will gar nicht wissen, wer das jetzt wieder ist«) und zog ihn von der Mauer hoch. Dann rannte ich los.

Die Strandparty fand nicht direkt am Strand statt, sondern auf einem etwas höher gelegenen Plateau unterhalb eines Parkplatzes, auf dem sich eine zusammengezimmerte Beachbar und eine Surfschule eine Terrasse teilten, die an diesem Abend als Tanzfläche diente. Stühle und Tische waren an den Rand neben die Balustrade geschoben worden, auf der noch Neoprenanzüge der letzten Surfklasse des Tages trockneten. Bunte Lampen sorgten für gedämpftes Licht, und ein aufgekratzter DJ sorgte für die musikalische Untermalung, eine Mischung aus alten und neuen Sommerhits, jetzt gerade »Club Tropicana« von Wham!, ein Klassiker und zufällig auch einer unserer Favourites von Lucys Mixtape. Die Party war überaus gut besucht. Auf der Terrasse war kaum noch genug Platz, um sich zu bewegen, und einige der Gäste hatten sich mit ihren Getränken in den feuchten Sand unterhalb des Plateaus gesetzt, um sich dort im hellen Licht des fast vollen Mondes in Ruhe zu unterhalten. Es war schön hier, und unter anderen Umständen hätte ich mich mit Vergnügen unter die Feiernden gemischt. Aber nicht heute, nicht jetzt. Jetzt war ich auf einer Mission. Ich musste Lucy finden. Oder Hannes. Wobei ich hoffte, dass er, da er nicht ortskundig war, mehr Zeit als wir gebraucht hatte, um die Veranstaltung zu finden.

Diese Hoffnung wurde enttäuscht.

Als wir die sandige Holztreppe vom Parkplatz zu der Terrasse hinunterstiegen, erkannte ich ihn sofort in der Menge: lang, dünn und vor allem blasser als alle anderen. Er stand neben Betty an der Bar, ein volles Glas in der Hand, mit einem suchenden Blick im Gesicht, der darauf schließen ließ, dass auch er Lucy noch nicht gefunden hatte. Das zumindest war ein Lichtblick.

Betty nickte und bewegte sich auf der Stelle im Takt der Musik, zog an ihrem Strohhalm und winkte uns zu, als sie uns am Rand der Tanzfläche erspähte. Ich fühlte eine gewisse Wut in mir aufsteigen, weil sie Richard geradewegs zu Felix und mir geführt hatte. Für jemanden, der Verrat so verurteilte, wie sie es tat, war das eine erschreckend hinterhältige Aktion gewesen. Insofern konnte ich mir nicht verkneifen, ihr im Vorbeigehen ein bedrohliches »Wir sprechen uns später noch!« ins Ohr zu zischen, bevor ich ihren gespielt ahnungslosen Gesichtsausdruck ignorierte und Hannes zur Begrüßung kräftig umarmte. Mir fiel auf, dass es zwischen Richard und mir bisher noch gar keinen Körperkontakt gegeben hatte. Ich warf ihm einen verstohlenen Blick zu. Es war nicht schwer zu erkennen, dass er die ganze Situation zum Kotzen fand. Aber ich hatte ja auch nicht die Zeit meines Lebens.

»Na, so eine Überraschung!«, rief ich, und meine Stimme klang affektiert und viel zu hoch.

Hannes wiegte verlegen den Kopf. »Na ja, ich hab’s gerade schon Betty gesagt: Ohne Sky wären wir gar nicht hier. Er hat uns die Flüge geschenkt, gleich nachdem du ihn angerufen und angepöbelt hast – schönen Gruß übrigens. Er wollte das Geld für den Bus nicht einfach schicken, also sind wir quasi die Kuriere. Ich hab’s euch mitgebracht …« Er nestelte in seiner Hosentasche herum, zog sein Portemonnaie heraus und öffnete es. Eine beeindruckende Sammlung Hunderteuroscheine kam zum Vorschein.

Ich winkte panisch ab. »Du meine Güte, doch nicht hier!« Hannes verstaute schulterzuckend das kleine Vermögen wieder in seiner Tasche und starrte mich dann forschend an.

»Was?«, fragte ich gehetzt. Ich hatte jetzt keine Zeit für irgendwelchen Quatsch.

Hannes bewegte seinen Finger kreisförmig um seinen Mund. »Du hast da …«

»Oh!«, machte ich.

Betty reichte mir eine Serviette. »Hier, Schätzelein. Draufspucken, abwischen.«

Das tat ich auch. Die Serviette war hart und kratzig. Mit großer Sicherheit war meine Haut jetzt nicht weniger rot als vorher, nur aus anderen Gründen. Während die Zellulose also meine Epidermis aufscheuerte, fragte ich Betty so unverfänglich wie möglich: »Wo ist denn Lucy eigentlich?« Es kam mir so vor, als hätte ich diese Frage seit Beginn unseres Urlaubs täglich etwa zwanzigmal gestellt …

»Wollte zum Klo«, antwortete Betty und nahm mir die Serviette ab. »Aber da ist eine Megaschlange, das dauert Ewigkeiten, bis man da mal dran ist. Ich hab ihr auch gesagt, sie soll einfach in die Büsche gehen, aber seit der Autopanne in den Bergen … Na ja, du kennst ja unsere Lucinda. Und kaum war sie weg, kam auch schon der liebe Hannes«, sie klopfte ihm kumpelhaft auf die Schulter, »und dann hab ich uns erst mal einen Drink gekauft.«

»Ich warte auch auf Lucy«, erklärte Hannes, unnötigerweise, und es war ihm anzusehen, dass er nervös war. Ganz offensichtlich erhoffte er sich viel von diesem Wiedersehen. Und dass er es nicht in der Schlange vor dem Damenklo stattfinden lassen wollte, sprach nicht nur, wie so vieles andere, für ihn, es war auch sein Glück. Wer wusste, was er zu sehen bekam, wenn er Lucy überraschte? Wer wusste, was passieren würde, wenn Ramon ihr beim Warten Gesellschaft leistete und Hannes die beiden erwischte wie zuvor Richard mich und Felix?

»Und wo sind die anderen?«, fragte ich Betty. Ich dachte, sie würde den Hintergrund meiner vagen Fragestellung verstehen.

Tat sie aber nicht. Offensichtlich war sie sich über die Explosivität der Situation absolut nicht im Klaren. »Marco, Ana und Ramon?« Letzterer Name veranlasste mich dazu, erschrocken Luft durch die Zähne zu ziehen. »Tanzen, oder?«

Wir alle wandten wie auf ein Zeichen den Blick zur Tanzfläche, auf der Ana, wunderschön und von einer Traube von Männern umstellt, sich begeistert zur Musik bewegte. Wenige Sidesteps von ihr entfernt trat Marco unbeholfen von einem Bein aufs andere, während Ramon in hartem Kontrast dazu direkt neben ihm gekonnt seinen durchtrainierten Arsch bewegte. Er hatte sein T-Shirt ausgezogen und trug obenrum nichts außer seinem Sixpack. Vielleicht ein bisschen zu viel des Guten, aber kein Problem, solange ich ihn und Lucy auf Abstand halten konnte.

Apropos. »Ich muss los.« Ich ließ meine Freunde an der Bar stehen und marschierte davon, bis mir einfiel, dass ich Ihnen vielleicht eine Erklärung schuldig war. »Zum Klo!«, rief ich ihnen über die Schulter hinweg zu und kämpfte mich mal wieder durch eine Menschenmasse. Inzwischen hatte ich den Dreh glücklicherweise raus.

Betty hatte nicht gelogen. Die Schlange war so lang, dass man meinen konnte, hier wäre eine Gegenveranstaltung zu der Party auf der Terrasse im Gange. Das Geschnatter, Gekreische und Gekicher auf dem Parkplatz vor dem Klohäuschen war ohrenbetäubend. So ungefähr musste es sich in einer Legebatterie anhören. Manchmal war es mir peinlich, eine Frau zu sein.

»Lucy?!« Ich reckte meinen Hals und versuchte, in der Menge eine blonde Frau mit pinkfarbener Kleidung zu erkennen. Das gelang mir schnell. Auf Anhieb fand ich sieben. »Lucy!!!«, rief ich noch einmal, lauter dieses Mal, und hatte somit die ungeteilte Aufmerksamkeit des Hühnerhaufens gewonnen. Einige Frauen drehten sich zu mir um, manche sahen mich neugierig an, andere abschätzig.

Ich lief die Schlange ab, die viel Konfliktpotenzial für die Wartenden bereithielt, weil es sich dabei nicht um eine geordnete Reihe handelte, sondern eher um eine Zusammenrottung von Grüppchen von Frauen mit vollen Blasen. Wenn hier kein Nummernsystem eingeführt worden war, würde es früher oder später zu einem unschönen Vorfall kommen, so viel stand fest.

»Ey! Nicht vordrängeln!« Eine der Frauen, die ungefähr fünf Jahre jünger als ich sein musste, aber mindestens zehn Jahre älter aussah, schlug ihre türkisfarbenen, künstlichen Fingernägel in meinen Unterarm und hielt mich fest. Ihr Blick war erbarmungslos, ähnlich wie der ihrer umstehenden Freundinnen.

Mit spitzen Fingern versuchte ich, ihren Griff zu lockern. Darunter hatte ich rote Striemen auf der Haut. »Ich muss ja gar nicht aufs Klo, ich …«

»Lass mich raten: Du suchst nur eine Freundin?« Ich schrak zusammen, als sie ein knallendes Geräusch mit ihrem Kaugummi erzeugte. »Wir sind doch nicht bescheuert. Stell dich gefälligst hinten an.« Der lange, falsche Nagel ihres Daumens deutete ans Ende der Schlange.

Mit Frauen, die dringend pinkeln müssen, ist nicht zu spaßen. Dessen war ich mir bewusst. Aber was soll schon passieren, dachte ich, wenn ich mich einfach nicht weiter um diese alberne Person kümmere, sondern nach Lucy suche. Solange ich das Klohäuschen nicht betrat, konnte mir niemand etwas vorwerfen. Wenn man die Situation ganz vernünftig betrachtete.

Unglücklicherweise war Vernunft nicht unbedingt eine Stärke von Miss Naildreams. Als ich mich in die aus ihrer Sicht falsche Richtung bewegte, ließ sie noch ein zweites warnendes »Ey!« verlauten, bevor sie mir mit zwei schnellen Schritten folgte und einen so kräftigen Schubs verpasste, dass ich vornüber in den Sand fiel.

Daraufhin verstummten auch die Gespräche in der Schlange.

Ich drehte mich auf den Rücken und sah diese massive Gestalt über mir stehen. »Falsches Ende«, giftete sie mich an, und verschränkte die Arme vor ihrer enormen Brust.

»Zeig’s ihr, Naddi!«, rief eine ihrer Freundinnen.

Naddi grinste. Sie dachte, sie hätte gewonnen. Aber da irrte sie sich.

Obwohl es in mir brodelte, stand ich so ruhig und gelassen wie möglich auf, wischte mir den Sand vom Kleid und ging weiter Richtung Klotür. Sofort hielt sie mich wieder am Arm fest. Ein Raunen ging durch die Menge.

Ich sah ihr fest in die Augen und zwang mich, nicht zu blinzeln, obwohl sie jetzt auch noch angefangen hatte zu kneifen, und das tat wirklich weh. »Lass mich los.«

»Vergiss es«, zischte sie.

In einer schnellen Bewegung entzog ich ihr meinen Arm und schubste sie von mir weg, so wie sie es vorher mit mir getan hatte. Nur fiel sie leider nicht um, so wie ich vorher. Was außerdem ziemlich bedauerlich war: Sie bekam meine Haare zu fassen und zog daran.

Mir entfuhr ein kleiner Schmerzensschrei, den ich am liebsten sofort wieder zurückgenommen hätte. Nur keine Schwäche zeigen. Naddi und ihre Freundinnen lachten. Ich fuchtelte mit den Armen in der Luft herum und versuchte, die Hand zu fassen zu bekommen, die an meinen Haaren zerrte. Da ich so aber nicht weiterkam, konzentrierte ich mich stattdessen auf ihre Beine. Ich ignorierte den Schmerz an meinem Kopf, so gut es ging, holte Schwung und trat ihr mit voller Wucht auf den Fuß, sodass sie den Halt in ihrem Flip-Flop verlor und stolperte. Ich stolperte zwangsläufig hinterher. Naddi fluchte, als sie das Gleichgewicht verlor und im Sand landete. Dabei büßte ich ein Büschel Haare ein. Und das tat nicht nur weh, das gab mir und meiner Selbstbeherrschung außerdem den letzten Rest.

Wutschnaubend stürzte ich mich auf sie, hielt ihre Hände mit den fiesen Krallen fest, mit denen sie versuchte, mich im Gesicht zu kratzen, und kämpfte gegen sie an, schwer atmend und schwitzend, bis die Gegenwehr langsam weniger wurde, endlich zum Erliegen kam und Naddi nur noch wimmern und betteln konnte. Nicht weil ich so stark war, nicht weil ich ihr wehtat. Sondern weil Naddis Blase bis oben hin voll war. Und ich auf ihrem Bauch saß.

»Geh von mir runter!«, heulte sie.

»Nein.« Meine Kopfhaut brannte.

Sie kniff angestrengt die Augen zusammen. »Biiiitteee!«

»Nein!«

»Geht doch mal einer dazwischen!«, rief eine Frau aus der Schlange.

Wütend fuhr ich herum, in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. »Ach! Jetzt plötzlich, oder was?«

»Daphne?! Was machst du denn da?« Ich sah, wie Lucy sich durch die kleine Menschentraube drängelte, die sich um Naddi und mich gebildet hatte wie bei einer Schulhofschlägerei. Sie trug einen kurzen, pinkfarbenen Hosenanzug und hatte Glitzer im Gesicht. Er war überall. Ein bisschen übertrieben, dachte ich. Trotzdem war ich froh, sie zu sehen.

»Ich hab dich gesucht«, sagte ich atemlos.

»Ich war auf dem Klo.«

»Ich weiß.« Ich warf Naddi einen hasserfüllten Hab-ich-doch-gesagt-Blick zu. Sie verdrehte schmerzerfüllt die Augen. Das hatte sie jetzt davon.

»Hat ein bisschen länger gedauert.« Lucy zuppelte an ihrem Anzug. »Ich hab den so schlecht wieder anbekommen.« Sie schüttelte abwesend den Kopf, ganz so, als befände sie sich gar nicht in dieser absurden Situation. »Ich hätte doch ein Kleid anziehen sollen. Diese Hosenanzüge sind total unpraktisch.«

Die umstehenden Frauen murmelten zustimmend.

»Tja«, sagte ich.

Lucy schaute nachdenklich an sich herunter. »Ich frag mich echt, wer diese Dinger erfunden hat. Bestimmt keine Frau.«

»Aber Männer mögen die auch nicht«, gab ein Mädchen in Jeansshorts zu bedenken, das neben ihr stand.

»Nicht?!«, fragte Lucy, und als das Mädchen den Kopf schüttelte, rief sie entsetzt: »O nein! Ich hab den extra für Ramon angezogen! Daphne!«

»Ich weiß auch nicht, Lucy. Vielleicht ist er ja nicht so wie die anderen Männer.« Ich fand das alles etwas anstrengend. Das leidige Hosenanzugthema. Die um sich schlagende Naddi unter mir.

Das Mädchen mit den Shorts verschränkte die Arme. »Also, soweit ich weiß, sind alle Männer gleich.«

Lucy schlug die Hände vors Gesicht. »Herrje!«

»Steh endlich von mir auf!« Unter mir wand sich Naddi wie ein überdimensionaler Wurm und wühlte mit ihren Füßen im Sand herum.

Ich warf ihr einen strengen Blick zu. »Wehe, du benimmst dich nicht.« Ich bekam mit der rechten Hand Lucys Arm zu fassen und zog mich an ihr hoch. Im Stehen befühlte ich die Stelle an meinem Kopf, an der mir im Kampf die Haare ausgerissen worden waren. Sie fühlte sich nass an, blutete aber nicht. »Komm, Lucy«, sagte ich und zog meine aufgelöste Freundin mit mir, weg von dem Klohäuschen und der wilden Naddi, hin zum Rand des Parkplatzes, und setzte mich erschöpft auf einen niedrigen Holzzaun. Lucy blieb stehen, auf ihrem Gesicht ein Ausdruck absoluter Hoffnungslosigkeit.

»Daphne, was soll ich denn jetzt machen? Glaubst du, Ramon gefällt, wie ich aussehe?«

»Und wenn schon …«

Sie sah mich entgeistert an. »Was soll das denn heißen? Ist dir etwa egal, ob Ramon mich mag?«

Ich überlegte kurz. Wirklich nur kurz. »Ja.« Lucy schnappte empört nach Luft, aber ich ließ sie nicht zu Wort kommen. »Ja, das ist mir egal, Lucy. Soll ich dir sagen, warum? Weil ich aus dir nicht mehr schlau werde. Du verlässt den Mann, der dich am meisten von allen liebt, erzählst mir diese schreckliche Geschichte aus deiner Vergangenheit und dass du Männern nicht traust und Hannes verlassen musstest, weil du dich in ihm getäuscht hast. Weil er angeblich auch so mies ist wie alle anderen. Na ja, und als Nächstes schmeißt du dich so gut wie jedem Typen an den Hals, den wir treffen. Und das versteh ich einfach nicht, und das kann ich auch nicht ernst nehmen, tut mir leid.«

»Du bist doch bloß sauer, ist doch klar«

»Ähm … Nein? Erzähl mal, Lucy.« Ich stützte das Kinn auf meiner Hand ab und schaute sie betont interessiert an. »Warum bin ich sauer?«

»Weil ich so schnell über Hannes hinweggekommen bin.«

»Aha.« Vielleicht nicht der beste, aber doch immerhin ein passender Moment, um den Grund für meinen Besuch beim Klohäuschen zu erklären. »Apropos …«

»Du hast nämlich geglaubt, ich geh zu ihm zurück«, unterbrach Lucy mich, bevor ich weiterreden konnte. »Du hast gedacht, niemand sonst will eine wie mich. Aber falsch gedacht. Karol wollte mich, deswegen habt ihr ihn in Frankreich ausgesetzt.«

Ich sah sie überrascht an. »Ausgesetzt?«

Lucy nickte erregt, die Arme vor der Brust verschränkt. Sie war voll in Fahrt. »Ja, genau. Ausgesetzt. Damit ich bloß weiter Hannes hinterhertrauere. Aber Pech gehabt, Daphne. Denn dann kam Ramon, und der ist super. Der ist dreimal besser als Hannes. Fünfmal besser. Er hat sogar Bauchmuskeln.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Offensichtlich.«

»Und jetzt bist du frustriert, weil dein Plan nicht funktioniert hat.«

»Welcher Plan?«

»Mich mit allen Männern auseinanderzubringen, damit ich am Ende zu Hannes zurückgehe. Weil nämlich er derjenige ist, der keine andere abbekommt. So!« Sie stampfte mit dem Fuß im Sand auf und fuchtelte mit ihrem Zeigefinger vor meinem Gesicht herum. »Aber dieses Mal klappt es nicht. Ramon wird nirgendwo ausgesetzt. Und selbst wenn, dann wirst du hinterher schön blöd gucken, das sag ich dir. Die Gentle Men haben nämlich eine Website, da kann ich ihn sofort wiederfinden, gar kein Problem.« Triumphierend stemmte sie die Hände in die Seiten und machte einen Schritt von mir weg. »Ha!«

Das war so ziemlich der größte Quatsch, den ich in meinem Leben je gehört hatte. Am liebsten hätte ich laut losgelacht. Aber dann hätte Lucy gedacht, ich nähme sie nicht ernst, und dann wäre sie wieder wütend davongestapft, das kannten wir ja schon. »Ich versteh das trotzdem alles nicht. Es ist, als wärst du eine andere Person.«

»Vielleicht bin ich das ja.« Fast ein bisschen stolz verschränkte Lucy die Arme vor ihrer Brust. »Ich mach jetzt alles anders. Und dann kann Hannes mal sehen …«

»Also geht es eigentlich doch um ihn.«

»Wie?« Verwirrt ließ sie die Arme sinken. »Nein! Geht es nicht!«

O doch. Jetzt wurde mir alles klar. Lucy zeigte eine ganz normale Post-Trennungs-Trotzreaktion. Sie versuchte, sich von ihrem Schmerz abzulenken und die Angst vorm Alleinsein zu unterdrücken, indem sie eben nicht allein war. Die Männer. Der Alkohol. Dass ich als Expertin das nicht früher erkannt hatte! Ich nickte erleichtert. »Doch, Lucy, darum geht es. Das ist ein ganz bekanntes Muster …«

Sie schüttelte mit Nachdruck den Kopf. »Das hat nichts mit Hannes zu tun!«

»Es hat alles mit Hannes zu tun, Lucy, aber das ist nicht schlimm. Das ist normal. Du liebst ihn noch immer, und das ist gut, weil …«

»Ich kann dich gar nicht hören!«, rief sie und hielt sich die Ohren zu.

Ich stand auf und zog an ihren Händen. »Lucy!« Sie wehrte sich, aber ich zog fester. Nach dem Kampf mit Naddi war ich körperlich in Höchstform. Das musste ich auch sein, denn Lucy war stur und stark. »Du bist doch kein kleines Kind mehr. Stell dich nicht so an!« Schließlich gewann ich den Kampf um ihr Gehör. Um sich nicht einfach so geschlagen zu geben, kniff Lucy einfach die Augen zu.

Ich seufzte. »Okay, dann guck eben nicht hin. Aber ich hab eine ganz tolle Überraschung für dich.«

Neugierig öffnete sie ein Auge. Mit Überraschungen bekam man Lucy immer. »Was für eine denn?«

»Hannes«, sagte ich. »Er ist hier!«

Ich war mir so sicher gewesen. Spätestens als Lucy, wenn auch indirekt, zugegeben hatte, dass Hannes noch immer in ihrem Kopf war, hätte ich den Rest meines Urlaubsbudgets (der, zugegeben, eher mickrig war) darauf verwettet, dass sie sich unendlich über sein Kommen freuen würde. Darauf, dass einer gläubigen Romantikerin wie ihr die Tatsache, dass der Mann, der mehr als drei Jahre ihr Lebensinhalt gewesen war, sich auf diesen weiten Weg gemacht hatte, um sie zurückzugewinnen, Tränen der Rührung in die Augen treiben würde. Gut, dass ich es nicht getan hatte. Dann hätte ich mir jetzt nicht einmal mehr ein Trost-Eis kaufen können.

Denn statt Liebe und Freude auszudrücken, verfärbte Lucys Gesicht sich tiefrot. Das biss sich mit dem Pink ihres Hosenanzugs, aber das in diesem Moment zu erwähnen, wäre unaussprechlich blöd gewesen. Sie atmete schnell und heftig durch die geweiteten Nasenlöcher – wie ein wütender Stier. Immer schneller und heftiger schnaufte sie, bis ich irgendwann, aus Angst, sie werde hyperventilieren und ohnmächtig werden, ihren Arm berührte und sie fragte: »Lucy? Ist alles okay?«

Aber nichts war okay. Gar nichts. »Was fällt ihm ein?!« Ihre Stimme erfüllte den Parkplatz und den Platz vor dem Klohäuschen und hätte sicherlich auch Hannes erreicht, wenn die Tanzmusik nicht so laut gewesen wäre und die Tänzer nicht in diesem Moment aus irgendeinem erfreulichen Grund, den ich wohl nie erfahren würde, begeistert gejohlt hätten. Ich umfasste ihren Arm fester mit meiner Hand, »jetzt beruhig dich doch bitte«, aber sie wand sich aus meinem Griff und starrte mich mit entschlossenem, rasendem Blick an. »Wo ist er?«

Ich hatte plötzlich Angst um Hannes und wollte nicht zu präzise werden. Erst musste Lucy beschwichtigt werden. Die Frage war nur, wie. Nachdem ich den Zusammenstoß mit Naddi gerade so einigermaßen unbeschadet überstanden hatte, wollte ich vermeiden, dass mir jetzt ausgerechnet von Lucy der Kopf abgerissen wurde. Und gleich im Anschluss daran ihrem Exfreund. Machten das Heuschrecken nicht so? »Na … ähm … hier«, antwortete ich zaghaft.

»Wo. Ist. Hier?« Sie klang jetzt ein bisschen wie ein Kampfroboter im Zerstörungsmodus.

Ich zeigte dahin, wo die Party war. »Da drüben?«

»Na warte …«

Schneller als ich es ihr zugetraut hätte, lief Lucy plötzlich los, über den Sand, hin zur Treppe, die zur Terrasse hinunterführte. Ich heftete mich an ihre Fersen, aber ich war nicht so wütend und somit auch nicht so schnell wie sie. Außerdem steckte mir die vergangene Nacht noch in den Knochen. Alles steckte mir in den Knochen, diese ganze verdammte Reise. Ich war ausgelaugt. Fertig. Ich brauchte Urlaub, ganz dringend: die Pausetaste drücken, etwas Abstand gewinnen, mal richtig entspannen und in den Süden fahren … Richtig. Das tat ich ja bereits.

»Lucy! Warte!«

Als ich mich der Menge näherte, wurde die Musik lauter, ebenso das Lachen und Stimmengewirr, das Klirren von Gläsern, Klatschen und Rufen – Partysound in seiner reinsten Form, untermalt vom Rauschen der kräftigen Atlantikwellen, das der Wind vom Strand zur Terrasse trug. Die bunten Lampen leuchteten mit den Sternen um die Wette, ein Wettrennen ganz anderer Art fand unter ihnen statt, wo ich versuchte, mit Lucy Schritt zu halten, die wiederum ihrerseits versuchte, sich auf schnellstem Weg zu Hannes durchzukämpfen, der neben Betty an der Bar stand und nichts Böses ahnte. Richard konnte ich nicht entdecken. Ich überlegte, ob ich Hannes vorwarnen sollte. Soweit ich wusste, war Lucy nicht bewaffnet. Aber in ihrem Zustand konnte sie sicherlich auch mit bloßen Händen großen Schaden anrichten.

Die halbe Strecke hatte sie bereits zurückgelegt, allerdings war es mir dank des intensiven Durchdrängeltrainings an diesem Tag gelungen, sie fast einzuholen. Ich beeilte mich, auch die letzten Meter zwischen uns gutzumachen, als sie plötzlich stehen blieb. Ihr Blick war starr auf die Tanzfläche gerichtet. Ihr Gesichtsausdruck war schwer zu beschreiben. Irgendwie war er leer, aber da waren auch Reste der eben noch so starken Wut, die jedoch langsam verschwanden und etwas anderem Platz machten. Niedergeschmettert. So sah Lucy aus.

Langsam legte sie eine Hand über ihren offen stehenden Mund, und ich musste sie nicht einmal fragen, was sie gesehen hatte, denn ich sah es selbst.