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Der Teil zu zweit
BETTYS MIXTAPE
M.I.A. – It Takes A Muscle
Das Geräusch des Schlüssels in der Wohnungstür erzeugte in mir dieses seltsam zwiespältige Gefühl von Vertrautheit und gleichzeitigem Fremdsein. Das hier war mein Zuhause, aber ich war so lange weg gewesen, dass es mir fast so vorkam, als träte ich zum ersten Mal in meinem Leben durch diese Tür. Ich folgte Richard in den Flur und blieb einen Moment stehen, um das Licht zu betrachten, das durch die geöffneten Zimmertüren in den langen Korridor fiel, und mich wieder an die Gerüche und Geräusche zu gewöhnen, die ich normalerweise nicht wahrnahm, weil ich immer von ihnen umgeben war. Während Richard meine Reisetasche ins Schlafzimmer trug, bog ich nach links in die Küche ab, goss mir ein Glas Wasser ein und setzte mich auf die Küchenbank vor dem Fenster. Ich trank einen Schluck, stellte das Glas ab und stutzte.
Richards Schritte brachten die Holzdielen im Flur zum Knarren, als er in der Küchentür erschien und sich mit verschränkten Armen an den Rahmen lehnte.
»Du hast die Wand neu gestrichen«, stellte ich fest.
Das Grau war nicht mehr fleckig. Die Farbe bildete eine gleichmäßige Fläche, die Kanten waren von Richard ausgebessert worden, in der Mitte hing die antike Küchenuhr, die ich aus Schimanskis Laden mitgebracht hatte.
Richard zuckte mit den Schultern. »Ich wollte dir eine Freude machen.«
»Das hast du. Danke.«
Er kam zum Tisch und setzte sich mir gegenüber auf einen Stuhl. »Wir müssen reden, Daphne.«
»Ja.« Ich nickte. »Das müssen wir.«
Doch bevor wir redeten, schwiegen wir. Seltsam, dass man so oft das Gegenteil von dem tat, was nötig war. Das Gegenteil von dem, was man wollte. Immerhin, darüber war ich mir inzwischen klar geworden: Was ich wollte, war Richard. Daran gab es keinen Zweifel mehr. Nicht weil ich inzwischen doch zu der Überzeugung gekommen war, dass er perfekt für mich war und das Prädikat »Der Richtige« verdiente. Das wusste ich nicht, und das würde ich wohl nie wissen, weil ich einfach nicht zu den Menschen gehörte, die sich jemals wirklich sicher waren. Was ich aber wusste, war, dass Richard der Mann war, den ich liebte und dem zuliebe ich beschlossen hatte, dieses dämliche Prädikat abzuschaffen, ganz einfach, um zu sehen, was das Leben mit ihm bringen würde – die guten und die schlechten Dinge. Ich würde diesen blöden Ratschlag vergessen, dass man immer so hohe Erwartungen wie möglich haben sollte. Wir waren schließlich alle bloß Menschen, und Druck machte uns unglücklich. Wer hatte das überhaupt gesagt? Meine Mutter? Die Frau, die sich ein ganzes Hochzeitstortenstockwerk vor der Nase wegklauen ließ? Nicht nur das war ein Beleg dafür, dass es wohl noch lange dauern würde, bis aus ihr eine Oma Mathilde wurde.
Trotz aller neuen Lockerheit war ich allerdings nicht bereit, einfach so weiterzumachen wie bisher. Mich vertrösten zu lassen und gezwungenermaßen nur noch neben Richard her zu leben. So sollte keine Beziehung sein, und das würde mich nie glücklich machen, egal mit wem. Das musste geklärt werden. Jetzt. Mit Richard. Denn meine Versuche der letzten Wochen, unsere Beziehungsprobleme ausschließlich mit mir selbst ausmachen zu wollen, waren nicht bloß zum Scheitern verurteilt gewesen, sie waren eine echte Schnapsidee. Zu einer Beziehung gehörten zwei. Zu ihrer Rettung auch.
Diese Gedanken machte ich mir, und ich nahm mir dafür meine Zeit, so wie Richard sich seine Zeit nahm, um nachzudenken. Vermutlich über ähnliche Dinge. Vermutlich und hoffentlich.
Ich beschloss, beim Einfachsten anzufangen. »Ich hätte dich nie betrogen, Richard.«
»Konjunktiv?«
»Ich hab’s ja nicht getan.«
»Na ja. Ist eine Definitionssache, würde ich sagen.«
»Ist immer eine Definitionssache, oder?« Ich überlegte, wo ich diesbezüglich die Grenze zog und wieso ich so überzeugt davon war, dass ich im Grunde nichts Falsches getan hatte. »Alles Körperliche, das zwischen Felix und mir passiert ist, war mir unangenehm. Ich wollte es nicht.« Richard sah nicht überzeugt aus. Ich wäre es an seiner Stelle wahrscheinlich auch nicht gewesen. »Du warst nicht dabei. Und selbst wenn du dabei gewesen wärst, wärst du nicht ich gewesen. Du hättest nicht gewusst, was ich gedacht oder gefühlt habe.«
»Und was hast du gedacht und gefühlt?«
Ich seufzte. »Ich will nicht lügen. Als ich Felix wiedertraf, war er so zuvorkommend zu mir, so aufmerksam. Er hat mir gezeigt, dass ich ihm wichtig bin und dass er mich begehrt. Na ja, oder er hat so getan, und ich bin darauf reingefallen … Aber das ist jetzt gar nicht so wichtig. Wichtig ist, dass ich anfing, ihn mit dir zu vergleichen. Und du hast ziemlich schlecht abgeschnitten.«
Richard atmete hörbar aus. »Tja, also das beruhigt mich jetzt eher nicht so …«
»Du warst die ganze Zeit dabei, will ich sagen. In meinem Kopf. Manchmal war ich trotzig, weil ich mich von dir schlecht behandelt gefühlt habe. Dann dachte ich, du verdienst den Schmerz, und ich verdiene etwas Besseres. Aber dann wurde ich auch unsicher, weil ich nicht wusste, ob ich nicht gerade das Beste, was ich je hatte, aufs Spiel setzte. Ich hatte ein schlechtes Gewissen. Und irgendwie auch Angst.«
Es war ihm anzusehen, dass er es schwierig fand, sich meine Erklärung anzuhören. Dass er sich zwar fest vorgenommen hatte, dieses Gespräch auf eine erwachsene Art zu führen, dass das, was er zu hören bekam, ihn aber derartig verletzte, dass er am liebsten wie ein Kind reagiert hätte. Mit Trotz und Beleidigtsein. Er biss sich auf die Unterlippe und betrachtete die Tischplatte. »Ein schlechtes Gewissen?«, sagte er. »Na, wunderbar.«
»Ich habe von allein gemerkt, dass ich Felix nicht will«, fuhr ich fort. »Es klingt bescheuert, aber ich glaube, dass ich diese Dummheit machen musste, um zu erkennen, dass ich uns noch nicht aufgeben will.«
Aus Richards Kehle kam ein sarkastisches Lachen. »Und darüber soll ich jetzt froh sein? Wie würdest du dich fühlen, wenn du herausfinden würdest, dass ich hinter deinem Rücken Händchen haltend mit anderen Frauen durch die Nacht ziehe, mich von ihnen küssen lasse und mit ihnen ein Bett teile?«
»Beschissen.«
»Ja. Genau.« Er hob den Kopf und fuhr sich durch die Haare. »Es ist gut, dass du jetzt restlos von unserer Beziehung überzeugt bist. Und deine Methode mag ja funktionieren. Dann aber ganz sicher nur für dich. Ich hab mich noch nie so verraten und verletzt gefühlt wie auf dieser Straße in Lagos. Als ich dich mit diesem Idioten da gesehen habe, dachte ich: Das war’s dann also. Ich war nicht einmal sauer. Ich hab mich wie Dreck gefühlt, und dabei dachte ich immer, dass man, wenn man jemanden liebt, alles dafür tut, dass sich diese Person eben nicht wie Dreck fühlt.«
»Es tut mir leid.«
»Das glaube ich dir sogar. Und ich glaube dir auch, dass das für dich keine große Sache war. Vielleicht war es das ganz objektiv betrachtet sogar wirklich nicht. Aber wie kannst du erwarten, dass ich das einfach so abschüttle? Ich hab dich gesehen, Daphne, ich hab dieses Bild vor Augen. Du bist meine Freundin. Ich liebe dich. Du sagst, du liebst mich auch. Es macht so viel kaputt.«
An dieser Stelle fing ich an zu weinen, obwohl ich das hatte vermeiden wollen. Man hört ja oft und viel davon, dass Frauen in solchen Situationen in Tränen ausbrechen, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Ich glaube das nicht. Man muss schon ein äußerst abgebrühtes Miststück sein, um vorsätzlich zu heulen. Ich weinte, weil ich musste. Aus Reue, Verzweiflung. Weil ich mich einfach zu gut in Richard hineinversetzen konnte und weil ich mich davor fürchtete, dass er sich gegen mich entschieden hatte. »Ich will gar nicht weinen. Ignorier das einfach«, schluchzte ich, und rieb mir mit dem Zipfel meiner Strickjacke über die Wangen.
»Wie soll ich das denn bitte ignorieren?« Richard saß angespannt auf dem Küchenstuhl auf der anderen Seite des Tischs und starrte mich an. Seine Hand zuckte. Noch so eine ungeschriebene Regel dieses Gesprächs war, dass wir uns nicht berührten, solange es lief. Das hätte verfälscht, worum es ging. Sachliche Klärung der Situation.
Und ich heulte.
In jeder anderen Disziplin wäre ich für einen solchen Regelverstoß disqualifiziert worden. Aber Beziehungssport war anders.
Eine Armlänge entfernt, neben der Spüle, stand eine Rolle Küchenpapier. Ich griff danach, riss ein Blatt ab und schnäuzte mir die Nase, bevor ich tief Luft holte und weitermachte. »Ich will mich gar nicht rausreden. Was passiert ist, hätte ich unter keinen Umständen zulassen dürfen. Aber so wie ich das sehe, ist eine Beziehung ein lebender Organismus. Wenn er eh schon krank ist, ist er anfälliger für neue Krankheiten.«
»Wie Felix.«
»Felix ist eine verdammt miese Krankheit, ja.«
»Und wieso hatte er es so leicht?«
Mein Blick fiel auf die graue Wand. Wie viele Wochen lang hatte ich Richard damit in den Ohren gelegen, sich die Zeit zu nehmen, mit mir diese Wohnung zu renovieren? Und wann tat er es endlich? Vielleicht genau in dem Augenblick als ich meinen Exfreund in Lagos traf. »Das hab ich dir am Strand schon gesagt: Du hast dich nicht mehr um uns gekümmert.«
»Weil ich einen zeitaufwendigen Job habe. Das weißt du. Ich musste arbeiten.«
»Eine Beziehung ist auch Arbeit.« Oma Mathilde wäre stolz auf mich gewesen.
»Ich weiß.«
»Du kannst nicht erwarten, dass ich einfach immer da bin und darauf warte, dass du dich eines Tages an mich erinnerst.«
»Wir haben diese Wohnung zusammen. Wir sind seit drei Jahren ein Paar …«
»Das sind Umstände. Die muss man mit Leben füllen.«
»… als Joe mich auf der Hochzeit gefragt hat, wann ich dir einen Antrag machen werde, und ich sagte, bald, da habe ich das so gemeint, Daphne. Ich war mir sicher.«
»Ich mir aber nicht.« So etwas wie Schock legte sich über Richards Gesicht. »Obwohl ich dich liebe«, erklärte ich, »aber ich war mir nicht sicher. Ich habe mir angeschaut, wie es zwischen uns läuft, und habe mich gefragt, ob ich das für immer so haben will, und die Antwort war: Nein. Es lag nicht an dir, du bist ein toller Mensch, sondern daran, was wir aus dem, was wir hatten, gemacht haben.«
Draußen sang ein Vogel. Das war das einzige Geräusch in der Küche für einige endlos lange Sekunden.
»Ich hab in diesem Urlaub etwas gelernt. Oder nein«, verbesserte ich mich selbst, »durch diesen Urlaub. Ich hab es eigentlich erst am Schluss kapiert. Und zwar: Abgesehen davon, dass wir uns beide mehr bemühen müssen, damit das hier klappt, und abgesehen davon, dass wir es niemals als selbstverständlich betrachten dürfen, weil es nämlich nicht selbstverständlich ist, weißt du? Also, abgesehen davon ist mir klar geworden, dass ich einen blöden Fehler gemacht habe: ›Für immer‹. Ich wollte eine Garantie über ›Für immer‹. Und ich wollte, dass alles so ist und wird, wie ich mir das vorstelle. Das sind zwei komplett bescheuerte Ansprüche, weil sie unmöglich umzusetzen sind. Und selbst wenn es doch möglich wäre, wie langweilig und nervig ist ein Leben, in dem alles schon festgezurrt ist? Ich meine, das Leben sollte doch im besten Fall so geschmeidig wie möglich bleiben, oder nicht?« Ich gab es ungern zu, aber damit hatte Sky leider mal wieder recht gehabt.
Richard nickte. »Geschmeidig klingt gut.«
»Ja, oder?« Ich beobachtete mit Erleichterung, dass er lächeln musste. Ganz leise, kaum sichtbar. »Ich verspreche hiermit, dass ich unsere Beziehung nicht mehr diesem Druck aussetzen werde. Ich beschränke meine Vorstellungen auf ein Minimum. Und ›Für immer‹ ist ab jetzt Geschichte. Ich bin für mehr ›Jetzt‹. Wenn du willst.«
Er ließ das Lächeln verschwinden und sah an mir vorbei aus dem Fenster. »Ich bin mir nicht sicher, ob man eine Beziehung einfach so neu starten kann, Daphne. Nach allem, was vorgefallen ist.«
»Es ist kein Neustart. Es ist eine Systemoptimierung.«
Bingo. Da war es wieder. Das Lächeln. »Das klingt schrecklich romantisch, weißt du das?«
»Sei doch froh, dass ich dich aus deiner Pflicht entlassen habe, dafür zu sorgen, dass wir immer frische Milch im Kühlschrank haben.«
»Was das betrifft, habe ich wohl auf ganzer Linie versagt.« Er tat zumindest so, als wäre er ehrlich zerknirscht.
Ich lachte. »Das war mir eigentlich nie sonderlich wichtig. Aber auf einem gemeinsamen Urlaub bestehe ich nach wie vor.«
Er erhob sich und reichte mir seine Hand. Ich nahm sie und ließ mich von ihm hochziehen. »Ich werde mich darum bemühen. Versprochen.«
»Nur Idioten glauben an Versprechen.« Ich ließ zu, dass er mich an sich zog und legte meine Arme in seinen Nacken. Ich roch an seinem Hals, was wissenschaftlich betrachtet umgehend eine Wagenladung biochemischer Stoffe in meinem Körper ausschüttete und zur Folge hatte, dass mein Herzschlag an Fahrt aufnahm und es in meinem Bauch kribbelte. Die guten alten Schmetterlinge. Schön, wenn sie von Zeit zu Zeit mal vorbeischauten.
Richards Blick wanderte über mein Gesicht, blieb mal hier hängen und mal dort und schließlich besonders lange auf meinen Lippen. Und was das bedeutete, das wusste ich. Es war Zeit für den Kuss. Der Kuss, der diese ganze Sache besiegeln würde, der einen Schlussstrich ziehen und gleichzeitig ein neuer Anfang sein würde, endlich, das Ende aller Zweifel. Und dafür hatte ich erst dreitausend Kilometer südwärts fahren müssen.
Ich legte den Kopf leicht schräg, schloss meine Augen und wartete darauf, dass seine Lippen meine berührten. Aber nichts passierte. Irritiert öffnete ich eines wieder und sah ihn fragend an. »Was?«
»Daphne … Ich hab noch eine Frage.«
»O Gott, was denn bloß?« Was hatte ich übersehen? Was gab es noch, das diese Versöhnung zunichtemachen konnte? Es war doch eigentlich alles geklärt.
»Sag mal, kann es sein …«, begann er.
»Ja?«
»Hast du zufällig Döner gegessen oder so was?« Er grinste breit, dann lachte er und ich auch. Es ging doch nichts über die Poesie des Alltags.
»So was Ähnliches«, sagte ich, zog ihn an mich und küsste ihn trotzdem. Wir hatten schließlich schon größere Widrigkeiten gemeistert.
Vier Tage später, am Sonntagabend, hielt ein Taxi vor unserer Tür. Es kam vom Flughafen und hatte zwei Fahrgäste an Bord. Lucy, deren Kleid in Neon-Pink ihre braun gebrannte Haut erst recht braun gebrannt aussehen ließ, und Hannes, der trotz seines Kurzurlaubs unter der Sonne Portugals noch immer so blass war, als hätte er zwei Jahre unter einem Stein verbracht.
Die beiden hatten just in dem Moment an der Tür geklingelt, als ich die letzte Kerze auf dem Küchentisch anzündete und Richard die Nudeln abgoss. Während er das Essen auf den Tellern anrichtete und Wein und Wasser einschenkte, zeigte ich unseren Gästen das fertig renovierte Schlafzimmer und die Fortschritte, die wir in den letzten Tagen im Wohnzimmer gemacht hatten. Doch auch wenn die Tapete noch nicht an der dafür vorgesehenen Wand klebte, war das für mich mehr als in Ordnung, denn schließlich genossen Richard und ich unsere letzten Urlaubstage, da arbeitete man nur so viel wie nötig und nur, so lange es Spaß machte. Die übrige Zeit hatten wir mit Ausflügen verbracht. Und im Bett. Die meiste Zeit eigentlich. Jetzt, wo das Sexfallen-Thema vom Tisch war, bot sich das irgendwie an. Und wir hatten geredet, sehr viel sogar. Mehr als in all den Monaten zuvor, so kam es mir jedenfalls vor. Die Systemoptimierung war in vollem Gang, und auch wenn wir vielleicht noch auf einer Welle der Anfangseuphorie schwammen, die ganz natürlich irgendwann an Kraft verlieren würde, war ich guter Hoffnung. Denn das Wichtigste war: Ich spürte, dass ich mich mit dem richtigen Menschen am richtigen Platz befand.
Apropos. »Nehmt Platz!« Mit einer weit ausholenden Armbewegung lud ich die Heimkehrer an den Tisch ein und beobachtete hocherfreut, wie liebevoll Hannes und Lucy miteinander umgingen. Sie saßen nebeneinander auf der Bank, ihre Hand ruhte auf dem Tisch und seine auf ihrer, und es verging keine Minute, in der sie sich nicht verliebt anlächelten. Ja, das war eine sehr zuckrige Angelegenheit, diese ganze Double-Date-Harmonie-Kiste, aber nach der Zeit der zwischenmenschlichen Katastrophen auf dem Weg nach Portugal, wollte ich nichts anderes sehen als Menschen, die zueinander gefunden hatten. Glücksporno, quasi.
Ich drehte eine kleine Portion Spaghetti auf meine Gabel und führte sie zum Mund. »Und? Wie waren die letzten Tage in Lagos? Habt ihr Betty und Marco getroffen?«
»Wir haben gar nicht so viel Zeit mit den anderen verbracht, um ehrlich zu sein.« Hannes schenkte Richard ein vielsagendes Grinsen unter Männern, woraufhin ihn Lucy in die Seite knuffte und ergänzte: »Wir hatten viel zu besprechen.«
»Versteh ich.«
»Außerdem, na ja …«, ihre Miene verdüsterte sich, »ich wollte Ramon aus dem Weg gehen.«
Hannes studierte intensiv die Reste auf seinem Teller. Richard räusperte sich. »Aber der war ja eh nicht mehr so lang in der Stadt«, fuhr Lucy betont heiter fort. »Zwei Tage oder so, dann mussten die weiter.«
»Wer, die?«, fragte Richard.
Lucy sah ihn überrascht an. »Die Gentle Men?«
»Hä?«
»Ach, davon hab ich dir noch gar nicht erzählt«, erklärte ich, verzichtete aber auf eine weitere Ausführung. »Und wie war das für Marco?«, fragte ich stattdessen.
»Oh, der ist mitgefahren. Leider.« Hannes nahm einen Schluck Wein. »Ich mochte ihn. Hatte einen exzellenten Musikgeschmack.« Es war von vorne herein klar gewesen, dass die beiden sich zumindest auf dieser Ebene gut verstehen würden.
Lucy lächelte stolz. »Ich hab ihm zum Abschied das Einhorn-Bild geschenkt. Das mochte er doch so gern.«
»Ich bin mir sicher, da hat er sich sehr gefreut.« Ich räusperte mich und nahm einen Schluck von meinem Wein. »Und Betty?«
Lucy antwortete. »Alles tippitoppi, sagt sie. Wir sollen dich schön grüßen und dir sagen, dass du kein schlechtes Gewissen haben musst, weil du dich einfach so verpisst hast, du … äh …« Sie zögerte einen Moment und senkte schüchtern den Blick zur Tischplatte. »… fette, hässliche Kuh.« Ich musste lachen. Lucy sah sehr schuldbewusst aus. »Tut mir leid, ich sollte dir das genau so sagen«, beteuerte sie.
»Schon gut, ich hab das, glaube ich, richtig verstanden.«
»Dann ist ja gut. Na ja, das Ersatzteil ist auch schon früher gekommen als gedacht«, fuhr sie erleichtert fort. »Der Vater von Ana war gerade dabei, den Bus zu reparieren, als wir Betty gestern bei der Werkstatt abgeholt haben. Wir wollten den Abend alle zusammen in Lagos verbringen, noch mal was trinken gehen und so. Tja, und rate mal, wen wir da getroffen haben.«
Ich ging im Kopf all die Menschen durch, die wir kannten und die sich möglicherweise in Lagos aufhalten konnten. »Ich hoffe, nicht Felix.«
»Nee, den nicht. Gott sei Dank.«
Ja, Gott sei Dank.
»Aber fast so schlimm«, schaltete sich Hannes ein, und langsam hatte ich so eine Ahnung.
»Na, sag schon.«
Lucy war fast ein bisschen peinlich berührt. »Karol und Viktor.«
»Huch!«
»Ich kam gerade vom Klo, und da standen die beiden an der Bar. Ich bin voll erschrocken und wusste nicht, ob ich jetzt was sagen soll oder weglaufen oder so. Und bevor ich mich entscheiden konnte, hatte Karol mich schon gesehen und kam zu mir. Und dann hat er versucht, mich zu küssen.« Sie versteckte ihr Gesicht hinter einer Hand.
»Einfach so?«
»Na ja, erst hat er mich gefragt, warum wir einfach weggefahren sind und dass sie unseren Bus noch gesehen hatten, als sie gerade auf dem Weg zu uns waren, aber da waren wir schon fast raus aus Biarritz. Ich glaube, das war gelogen, ich hab die gar nicht gesehen.« Ich schon, dachte ich. Aber ich sagte nichts. »Dann hab ich gesagt, dass mir das leidtut und dass ich jetzt aber gehen muss. Und plötzlich hält Karol mich fest und will mich küssen. Ich hab gesagt, er soll mich loslassen, hat er aber nicht.«
Hannes nickte. »Ich hab es von draußen gesehen und bin sofort hin, um Lucy zu helfen. Wäre aber gar nicht nötig gewesen, nicht wahr, Mäuschen?«
»Nee, war es nicht.« Lucy lächelte stolz. »Ich hab ihm einfach einen Tritt in die Eier verpasst.« Bei dem Gedanken daran musste sie kichern.
Richard verzog das Gesicht. »Autsch. Leichte Überreaktion?«
»Nein, nein«, sagte ich schnell und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Es ist gut, wenn man sich wehrt. Alles richtig gemacht, Lucy.« In Anbetracht der Ereignisse in ihrer Vergangenheit, die sie zu der gemacht hatten, die sie war, konnte dieses Erlebnis für sie nur gut sein. Überhaupt schien unsere Reise mit dem Bus auch in Lucy einiges verändert zu haben. Natürlich war sie noch immer unsere gute alte Lucy, naiv und ein bisschen zu romantisch, mit einem äußerst grenzwertigen Pink-Fimmel, aber irgendwie hatte sie an diesem Abend, als sie mir an unserem Küchentisch gegenübersaß, etwas Neues an sich. Man konnte es erwachsen nennen. Oder reif. Sie war selbstbewusster, irgendwie furchtlos. Zum ersten Mal, wenn auch nur in einigen kurzen Augenblicken, kam es mir vor, als wäre sie mehr Frau als Mädchen.
Hannes drückte ihre Hand, bevor er sich aufrichtete und räusperte. »Tja, und da gibt es noch etwas anderes, das wir euch gern erzählen wollen.« Richard und ich warfen uns einen Blick zu. Wenn es schon so anfing, gab es eigentlich nur zwei Möglichkeiten, worauf die Ansprache hinauslaufen würde. Hochzeit oder Kinder. »Nun, also Lucy und ich sind jetzt wieder offiziell ein Paar. Das habt ihr sicherlich schon gemerkt.« Verlegenes Kichern auf der Tischseite der Gäste. »Wir hatten unsere Probleme, das wisst ihr ja auch, und wir haben sie bestimmt nicht auf die leichte Schulter genommen, auf keinen Fall. Wir haben alles besprochen und abgewogen, und sind schließlich zu dem Schluss gekommen, dass diese Trennung uns beiden sehr wehgetan hat und dass wir einfach zusammengehören. Lucy verzeiht mir, und ich verzeihe ihr. Vergeben und vergessen. Und aus diesem Grund freue ich mich, euch heute sagen zu können …« Hannes machte eine kleinere Pause, um die Spannung zu steigern, die eigentlich nicht wirklich groß war, denn, wie gesagt, was sollte schon kommen? Hochzeit oder Kinder. Wäre beides prima, aber der Überraschungseffekt geht nach so einem Einstieg nun einmal gegen null. Hätte ich etwas Derartiges zu verkünden – ich würde es anders angehen.
»Raus mit der Sprache.« Auch Richard fand die dramatische Pause eher unnötig.
»Okay, na gut. Also, wir haben beschlossen: Ich ziehe zurück in unsere gemeinsame Wohnung. Das heißt, ihr habt euer Sofa wieder für euch.«
Sowohl Richard als auch ich starrten Lucy und Hannes mit offenen Mündern an.
»Äh … Das ist …«
»… toll. Echt!«, führte ich Richards Satz für ihn zu Ende. »Obwohl ich sagen muss, dass wir davon jetzt irgendwie ausgegangen waren. Also, nachdem wir ja wussten, dass ihr euch wieder vertragen habt. Versteh das nicht falsch, Hannes, wenn du einen Platz zum Schlafen brauchst, kannst du immer … Ich meine, ich hoffe, es ist nicht mehr nötig, aber wenn …« Ich unterbrach mein Gestammel und nippte an meinem Weinglas. Welch eine ernüchternde Antiklimax!
Ich war gerade dabei, mich damit abzufinden, als Lucy mit einem Ruck ihr Wasserglas in die Höhe hob, sodass die Hälfte des Inhalts auf den Tisch schwappte, und kreischte: »Und wir werden heiraten!«
Hannes zog sie an sich und gab ihr einen dicken Kuss, während Richard und ich schon wieder sprachlos waren, aber nur kurz. Dann applaudierten wir, gratulierten, füllten die Gläser nach (sogar Lucy ließ sich zu einer kleinen Schorle überreden), stießen auf das glückliche Paar an und verbrachten den Rest des gemeinsamen Abends damit, uns alles von Hannes’ romantischem Antrag am Strand erzählen zu lassen und über die großen und kleinen Hochzeitspläne zu reden.
»Ich will eine vierstöckige Torte. Mindestens. Mit rosa Zuckerguss«, verkündete Lucy mit glühenden Wangen.
»Lädst du Betty und Max auch ein?«, fragte ich und legte zur Antwort auf ihr irritiertes »Ja, klar. Warum?« lediglich den Kopf schief. »Du wirst schon sehen … Aber ich kenn da eine gute Konditorei, die ich dir empfehlen kann.« Schließlich schuldete ich denen noch etwas.
Hannes und Lucy verließen uns irgendwann nach Mitternacht, und wenig später fielen Richard und ich erschöpft und ein wenig angetrunken ins Bett. Der Mond schien in das Schlafzimmer, der Wind raschelte in den Bäumen vor dem geöffneten Fenster. Ich ließ mir die Neuigkeiten des Abends noch einmal durch den Kopf gehen, und plötzlich meldete sich in meinem beschwipsten Kopf eine kleine Erinnerung, der ich bisher gar nicht viel Bedeutung beigemessen hatte. Jetzt ließ sie mich nicht mehr los. Irgendwann drehte ich mich im Dunkeln zu Richard um, der bereits die Augen geschlossen hatte und zu gleichmäßig atmete, um noch hellwach zu sein.
»Du? Richard?«, flüsterte ich.
Er öffnete mühevoll ein Auge und murmelte etwas, das keinen Sinn ergab.
Ich stupste ihn in die Seite. »Bitte. Ich muss dich was fragen.«
»Was denn?« Er seufzte verschlafen und rubbelte sich mit der Hand über das Gesicht.
»Erinnerst du dich noch an die Hochzeit von meiner Mutter?«
»Wie könnte ich die jemals vergessen?«, gähnte er.
»Und was Joe dich gefragt hat? Und was du gesagt hast?«
Er sah mich forschend an. »Worauf willst du hinaus?«
»Hast du mir da eigentlich indirekt einen Heiratsantrag gemacht?«
»Indirekt, ja.« Es schien ihn zu amüsieren, dass ich so lange gebraucht hatte, um das zu verstehen. »Könnte man so sagen.«
»Ich hab darauf nie reagiert.«
»Nee. Hast du nicht.«
»Soll ich darauf jetzt irgendwie reagieren?«
»Bloß nicht!« Er griff nach meiner Hand und drückte sie schläfrig. »Wenn ich dir einen echten, direkten Antrag mache, Daphne Weiland, dann merkst du es sofort, darauf kannst du dich verlassen.«
Ich musste lachen. »Okay. Gut. Ich freu mich drauf.«
»Und ich hoffe stark, wenn es so weit ist, bist du bereit, eine Ausnahme zu machen, was das damit verbundenen ›Für immer‹ betrifft.«
»Ich denk darüber nach«, sagte ich, und gab »dem Richtigen« einen Kuss.