6
Der Teil mit den Anhaltern
DAPHNES MIXTAPE
International Pony – Leaving Home
Nach einem Tag Urlaub fühlte ich mich am nächsten Morgen erholungsbedürftiger als jemals zuvor. Mein Rücken und mein Nacken waren verspannt, meine Augen brannten, und vor lauter Schlafmangel war ich so überreizt, dass ich bei jedem Geräusch hochschreckte. Lucy war nicht besser dran. Wenn man einen kompletten Abend durchheulte, hinterließ das Spuren, mit denen man sich in unserem Alter gern mal den ganzen Folgetag herumschlagen durfte. »Tränen verderben den Teint und führen zu nichts«, hatte meine Oma Mathilde immer gesagt. Ja. Andererseits hatte man selten eine Wahl. Denn wenn sie kamen, dann meistens aus gutem Grund.
Mutter Kottkewicz ließ beim gemeinsamen Frühstück Brötchen, Fleisch und hart gekochte Eier links liegen. Sie blieb stattdessen beim schwarzen Kaffee und versuchte, ihre Tochter davon zu überzeugen, dass es viel besser für sie wäre, die nächsten Tage in Remscheid zu bleiben. Aber Lucy wollte davon nichts hören. Lucy wollte weg.
Das musste Moni akzeptieren, wenn auch widerwillig. Sehr widerwillig. Bis zum Schluss war ich mir nicht sicher, ob sie sich nicht vielleicht doch noch an ihre Tochter ketten oder den Familien-Schäferhund auf uns hetzen würde, der nach einer ganzen Nacht und einem Morgen im Keller bestimmt wütend genug war, um Betty und mir erheblichen Schaden zuzufügen. Zum Glück geschah nichts dergleichen.
Um zehn standen Betty und ich zur Abfahrt bereit vor dem Haus der Kottkewiczs und scharrten mit den Füßen, während Lucy von ihren Eltern gedrückt, geküsst und mit tütenweise Lebensmitteln versorgt wurde. Für uns hatten sie nur ein lauwarmes Nicken übrig und ein »Gute Reise dann«, dessen Klang noch einmal deutlich machte, dass sie es nicht guthießen, dass ihre Tochter sich nun in unserer Obhut befand. Das konnte ja niemals gut gehen. Die Gartenzwergmörderin und das Mädchen mit den schlimmen Haaren.
Ich bemühte mich um einen versöhnlichen Abschied, gab erst Moni und dann Mike die Hand und sagte: »Danke für das leckere Essen und dass wir hier übernachten durften. Und wegen des Gartenzwergs …«
»Schon vergessen«, unterbrach mich Herr Kottkewicz zähneknirschend. Aber das war eine Lüge. Nichts war vergessen.
Betty und ich setzten uns nach vorn in den Bus, und Lucy krabbelte hinten rein. Der Motor wurde angelassen, es wurde kollektiv gewunken, dann fuhren wir schweigend und ohne Musik durch das vormittägliche graue Remscheid zur Autobahn.
Erst als der Bus sich auf der rechten Spur eingereiht und seine Spitzengeschwindigkeit von achtzig Stundenkilometer erreicht hatte, drückte Betty den Play-Knopf am Tapedeck. Mein Tape war an der Reihe. Bässe und Beats aus Maschinen und der wabernde Gesang von International Pony passten wunderbar zu der regnerischen Stimmung vor der Windschutzscheibe und dem monotonen Rauschen der Autobahn.
»Puh«, machte Betty und begann, sich eine Zigarette zu drehen.
»Allerdings«, pflichtete ich ihr bei.
Hinter uns lehnte Lucy am Fenster und starrte hinaus.
»Schätzelein, so kann das nicht weitergehen. Wir sind im Urlaub. Urlaub soll Spaß machen.«
»Lucy ist traurig, sie kann nichts dafür.«
»Das sag ich ja auch gar nicht. Aber ab jetzt wehren wir uns. Liebeskummer ist wie Remscheid, man kann ihn hinter sich lassen.«
»Darf ich noch Torte?«, fragte Lucy.
Ich drehte mich zu ihr um. »So viel du willst. Bedien dich.« Mir ging diese Seite in Lucys ansonsten leerem Poesiealbum nicht aus dem Kopf. Sie tat mir so leid. Hätten wir keine Torte an Bord gehabt, ich hätte ihr an Ort und Stelle eine gebacken, nur damit sie ein kleines bisschen glücklicher wurde. Mir kam in den Sinn, dass Moni vielleicht damals, als Lucy ein unglücklicher Teenager gewesen war, ähnlich gedacht hatte. Und es zwischen diesem Denken und Lucys kräftigem Körperbau einen Zusammenhang geben könnte.
»Wenn ich Torte höre, muss ich an Kaffee denken«, unterbrach Betty meine Überlegungen. »Ich brauch Kaffee.«
»Es gab doch eben beim Frühstück Kaffee …«
»Ich rede nicht von dieser Brühe, Schätzelein. Ich brauch richtigen Kaffee. Ich brauch Espresso. Halt mal die Augen nach einer Raststätte auf, an der es Espresso gibt.«
Der Teil in mir, der gern verbotene Zeitpläne machte und auf die Uhr schaute, also der Teil, den ich mit aller Macht unterdrücken musste, um den Frieden in der Reisegruppe zu wahren, wand und wehrte sich. Der Teil in mir, der sich mehr als alles andere Harmonie und gute Laune wünschte, war stärker.
Ich hielt die Augen auf.
Etwa eine Stunde später stand der Bus auf einem Parkplatz in der Nähe von Aachen.
Nachdem ich siebzig Cent für die Toilette bezahlt hatte, spazierte ich mit einem nutzlosen Warengutschein über fünfzig Cent (und was kann man an einer Raststätte in Deutschland schon für fünfzig Cent kaufen? Nichts. Nicht einmal eine Toilettennutzung) zurück zu unserem mobilen Zuhause und entdeckte schon von Weitem neben Lucy und Betty zwei andere Gestalten, die vor der Schiebetür standen und rauchten. Zwei junge Männer. Ich kam näher und hörte, wie einer von ihnen in gebrochenem Deutsch die Hochzeitstorte meiner Mutter lobte. Das war gut, je eher wir sie los waren, desto besser. Wir hatten schließlich seit heute Morgen auch noch eine Tüte voller Wurstwaren an Bord, die gegessen werden wollten.
»Hallo«, sagte ich und winkte in die Runde.
Betty prostete mir mit ihrem Pappbecher voll Espresso zu. »Schätzelein, du wirst nicht glauben, was wir hier haben.«
»Was haben wir denn hier?« Soweit ich das beurteilen konnte, handelte es sich um zwei junge Männer, wohl kaum älter als zwanzig, der eine blond, der andere schwarzhaarig, der eine groß, der andere klein, beide dünn, beide in Shorts und T-Shirt, mit Rucksäcken vor sich auf dem Boden. Große Rucksäcke mit zusammengerollten Schlafsäcken, die von den Außenschnallen gehalten wurden. Rucksäcke, wie sie eigentlich nur eine Gruppe Menschen mit sich herumtrug: Backpacker. Was eigentlich nur eine Antwort zuließ.
»Anhalter! Waschechte, polnische Anhalter!« Ihrem Grinsen war anzusehen, dass Betty genau ahnte, in welche Bredouille mich das bringen würde. Zwei blutjunge, harmlos aussehende Abenteurer mit großem Hunger und großen Rucksäcken. Wollte ich wirklich meinen Prinzipien treu bleiben und sie unter dem grauen Himmel vor Aachen zurücklassen? Das wäre dann ein bisschen so, als würde man einen Welpen aussetzen. Herzlos. Genau wie Betty es vorausgesagt hatte.
»Aaaa-ha!« Ich sah von einem zum anderen. »Und?«
Der große Blonde, der eben sein letztes Stück Torte heruntergeschluckt hatte, wischte eine Hand an der Seite seiner Hose ab und reichte sie mir. »Ich bin Karol.« Das »ch« klang ein bisschen wie ein Fauchen. »Und das ist Viktor, ein Freund.« Der kleine Schwarzhaarige aß weiter seine Torte und schaute nicht auf, bis Karol ihn in die Seite stupste. »Er kann kein Deutsch. Ich habe das nur gelernt. In der Schule.«
»Ziemlich gut, was? Deutsch ist so schwer zu lernen.« Lucy lächelte, und das freute mich.
»Die beiden wollen nach Frankreich«, erklärte Betty.
»Erst Frankreich. Dann mal sehen«, Viktor machte eine Handbewegung, die Ambivalenz ausdrücken sollte. »Oder auch nicht Frankreich. Kommt an.«
»Kommt drauf an«, verbesserte Lucy ihn liebenswürdig, und mich beschlich das Gefühl, dass ich hier mit meiner Meinung zum Thema Anhalter auf verlorenem Posten stand. Betty würde es vielleicht in erster Linie albern finden, wenn ich mich dagegen sträubte, die beiden mitzunehmen. Aber Lucy würde ich das Herz brechen. Der Vergleich mit dem Welpen war schon ganz passend. Es fehlte nur noch, dass Lucy Viktor und Karol das Fell kraulte und sie mit Tortenstückchen zu kleinen Tricks animierte. Sich tot stellen zum Beispiel. Auf den Hinterbeinen laufen konnten sie ja schon.
»Also nach Frankreich wollt ihr?«
»Wie sagen, kommt drauf an.« Viktor lächelte Lucy an.
Sie schüttelte nachsichtig den Kopf. »Fast richtig. Wie gesagt, sagt man.«
»Wie ich gesagen.«
Lucy lachte. Viktor sah sie irritiert an.
Ich warf Betty einen Blick zu. Sie machte wieder dieses Gesicht, eine Mischung aus Amüsement und Sadismus. »Tja, also wie der Zufall so will, fahren wir heute nach Frankreich.«
»Schön, dass du dich endlich für eine Route entscheiden konntest«, stichelte ich.
Betty sah mich an, als wüsste sie nicht, was ich meinte. »Wieso? Wir fahren immer südwärts, hatten wir gesagt.«
»Du.«
»Okay, dann ich. Aber wir fahren immer südwärts, und Frankreich liegt im Süden, also …«
»Genau, Betty. Wir, also du, ich und Lucy fahren immer südwärts. Von mir aus gern nach Frankreich. Aber alles Weitere müsste man vielleicht erst mal besprechen.«
»Hä? Und Viktor und Karol dürfen nicht mit uns südwärts fahren?«
»Lucy, von dir hätte ich am allerwenigsten gedacht, dass du damit einverstanden bist, dass wir irgendwelche Fremden auf Rastplätzen einsammeln und mitnehmen. Bin ich denn die Einzige, die darüber nachdenkt, was da alles passieren kann?«
»Aber das sind ja keine Fremden«, erklärte Lucy. »Das sind Viktor und Karol. Außerdem langweile ich mich allein da hinten im Bus.«
Karol hob die Hände. »Ich will keinen Streit machen.«
»Und wie ist es mit dir, Schätzelein?«, fragte Betty, den Zündschlüssel in der Hand. »Willst du Streit machen?«
Wollen schon. Aber ich durfte ja nicht.
Es ist nicht einfach, in Begleitung zu reisen. Das dachte ich, als unser Spaßexpress die Grenze nach Belgien passierte, Betty ihre Kassette umdrehte und hinten im Bus die polnisch-deutsch-polnische (Lucy hatte schließlich auch Wurzeln in Karols und Viktors Heimat. Kottkewicz. So heißt man nicht aus Versehen) Tortenparty in vollem Gang war. Ich lehnte meinen Kopf an die sanft vibrierende Scheibe der Beifahrertür und sah der Landschaft draußen beim Vorbeirauschen zu. Viel zu sehen gab es leider nicht. Die belgische Autobahn unterschied sich nicht im Geringsten von der deutschen. Asphaltfahrbahnen, Mittelstreifen, Bäume und Büsche und Felder hinter der Leitplanke. Das war’s. Betty drehte eine Zigarette, hielt sie mir hin und gab mir auch gleich Feuer. Man hätte annehmen können, dass sie ein schlechtes Gewissen hatte, weil sie mich genötigt hatte, die beiden Anhalter mitzunehmen. Aber so, wie ich Betty kannte, wollte sie mir einfach eine Zigarette anbieten. Sie tat grundsätzlich alles ohne Hintergedanken. Und hatte nie ein schlechtes Gewissen.
Es ist nicht einfach, in Begleitung zu reisen, dachte ich, obwohl ich schon oft allein verreist war und durchaus die Nachteile davon kannte. Ich seufzte. Manchmal war es langweilig, weil man einsam und ohne jemanden zum Reden stundenlang auf irgendwelche Anschlussflüge oder Züge warten musste. Wie oft hatte ich mir gewünscht, einen Sitznachbarn zu haben, neben dem ich gern saß, und nicht diese andere Person, die dort stattdessen saß, mir die Armlehne streitig machte und entweder stark schwitzte, zu viel Parfüm benutzte oder aus anderen Gründen auffällig roch, zu laut atmete, schmatzte oder schnarchte, sich an intimen Stellen kratzte, sich im Ohr puhlte oder, was fast genauso schlimm war, mir ein Ohr abkaute – einer dieser Umstände war eigentlich immer traurige Realität. Außerdem war es natürlich sehr viel praktischer, wenn man nicht sein komplettes Gepäck auf irgendeine öffentliche Toilette mitschleppen musste, weil niemand da war, der ein vertrauensvolles Auge darauf hatte.
Es hatte wirklich viele Nachteile, wenn man allein reiste. Der größte Vorteil aber war nicht von der Hand zu weisen: Man war unabhängig.
Dass Richard und ich noch nie einen gemeinsamen Urlaub mit allem Pipapo verbracht hatten, lag bekanntlich in erster Linie an den Terminschwierigkeiten, mit denen vor allem er zu kämpfen hatte. Doch eine andere große Hürde, an der wir immer wieder scheiterten, waren die Planungsdiskussionen. Wir wollten prinzipiell immer das Gegenteil von dem, was der andere wollte. Wenn ich vorschlug, eine Woche in New York zu verbringen und seine alten Freunde zu besuchen, stand ihm der Sinn nach einem abgeschiedenen Häuschen tief in den nordschwedischen Wäldern, dort, wo sich sonst nur Elche und Psychopathen mit Kettensägen aufhielten. Wenn ich ihm dann beim nächsten Anlauf entgegenkommen wollte und einen erholsamen Urlaub irgendwo am Meer vorschlug, wollte er ganz aktiv irgendwelche Berge besteigen. Da Richard eigentlich sehr genau wusste, dass ich in meinem Leben ganz sicher niemals einen Berg besteigen würde – allerhöchstens vielleicht, wenn das Tal, in dem ich mich aufhielt, überflutet wurde –, nahm ich diesen Vorschlag als schlechten Witz auf und warf ihm vor, diese ganze Urlaubssache einfach nicht ernst zu nehmen. Seine nächste Idee, für eine Woche nach Marokko zu fliegen, fand ich eigentlich gut, aber da ich sauer auf ihn war, sagte ich Nein. Manchmal kann man wirklich nur noch sich selbst die Schuld geben.
Wir verbrachten daraufhin also (weil wir mit allem zu lang gewartet hatten, der Entscheidung, der Buchung, dem Packen, allem) die eine wertvolle freie Woche, die Richard hatte herausschlagen können, in Hamburg. Mit dem guten Vorsatz (oder auch unbefriedigendem Plan B), unsere Heimatstadt zu erleben, wie Touristen es tun. Solche Vorschläge findet man manchmal in Frauenmagazinen unter »Tipps für ihre Beziehung«: Erleben Sie Ihre Heimatstadt wie zwei Touristen. Seien Sie romantisch. Unternehmen Sie Tagesausflüge an Orte, an denen Sie noch nie waren. Gehen Sie essen in einem Restaurant, das Sie sich sonst nie leisten. Besuchen Sie ein Theater oder eine Musikveranstaltung.
Warum nicht, dachte ich. Wenn wir schon zu Hause bleiben müssen …
Inzwischen weiß ich, dass dieser Kompromiss nicht funktioniert.
Am ersten Tag unseres Urlaubs zu Hause hatte Richard noch einen schnellen Termin mit einem neuen Künstler seiner Plattenfirma eingeschoben – »nur ein Stündchen, Daphne« –, woraufhin ich mir überlegte, dass es ganz praktisch wäre, schnell diesen Zahnarztbesuch hinter mich zu bringen, für den ich sonst nie die Zeit fand.
Irgendwann gegen Mittag trafen Richard und ich uns in der Stadt. Meine linke Gesichtshälfte war betäubt. Richard fand, dass das witzig aussah. Ich nicht so. Er schlug vor, dass wir ins Miniaturwunderland fahren sollten. Dort war alles ganz klein. Ich fand den Vorschlag ziemlich bescheuert, konnte meine Meinung aber wegen der anhaltenden Betäubung schlecht artikulieren. Ich schmollte und dachte, das würde Richard zeigen, wie wenig begeistert ich von unserem Ausflugsziel war, aber er dachte, mein schiefes Grinsen hinge mit der Betäubung zusammen und ging darauf gar nicht ein. Und so verbrachten wir den Nachmittag damit, uns sehr viele, sehr kleine Dinge anzusehen. Richard fand die Ausstellung witzig, allerdings hatte er ja auch schon während seines Termins am Vormittag zwei große Bier getrunken. »Ach, Daphne, ich hab doch Urlaub!«
Im Anschluss an unseren Besuch im Miniaturwunderland wünschte ich mir einen Spaziergang im Grünen. Ich stellte mir das schön romantisch vor. Arm in Arm würden wir unter dem dichten, satten Laubdach der Sommerbäume des Jenischparks wandeln und endlich mal wieder Zeit für ein harmonisches, erfrischendes, liebevolles Gespräch haben, das unsere Zusammengehörigkeit bestärken würde. Früher hatten wir das oft gemacht. Gehen, reden, lachen. Aber irgendwie war das irgendwann zu kurz gekommen. An diesem Nachmittag war das leider nicht anders. Richard hatte keine Lust zu reden. Und wenn er doch etwas sagte, dann dass er Hunger hatte.
Ich war genervt. »Warum hast du nichts in diesem Miniaturwunderland gegessen?«
»Hast du gesehen, wie klein die Portionen da waren?!«, fragte er und lachte ausnahmsweise.
Zugegeben, das war schon irgendwie ganz lustig, aber ich lachte nicht, weil ich erst noch über meine Enttäuschung über den verkorksten Nachmittag hinwegkommen musste. Es war nicht fair. Wir hatten doch schließlich auch getan, was er sich gewünscht hatte. Nämlich uns ganz, ganz kleine Dinge anzuschauen. Und jetzt war ein kurzer Spaziergang zu viel verlangt?
Weil ich so frustriert war, dass ich diesen Teil unseres Urlaubstages gar nicht richtig genießen konnte, und weil Richard ja schließlich sehr großen und ich auch ein bisschen Hunger hatte, machten wir uns auf den Heimweg und kauften unterwegs zwei Portionen Currywurst mit Pommes und Mayo in der Kleinen Pause, die wir dann auf dem Sofa vor dem Fernseher aßen.
»Wollen wir noch ins Theater oder so?«, fragte ich Richard, als die Werbung anfing.
Er sah mich entgeistert an. »Ins Theater?!«
»Oder ins Konzert. Egal. Irgendwie so was.«
»Hm«, machte er und verlor sich in einem Werbespot für Waschmittel.
Zum Glück, dachte ich, ich hab eh keine Lust, das Haus zu verlassen, um zwanghaft irgendeine Veranstaltung zu besuchen.
Aber während ich das dachte, schoss mir noch etwas anderes durch den Kopf. Etwas, das Betty mir vor vielen, vielen Jahren gesagt hatte, als ich mich mal wieder darüber beschwert hatte, dass ich mein Leben als Single verbringen musste. Sie hatte mich angesehen, die Augen verdreht und gesagt: »Schätzelein, Beziehungen sind das Schlimmste. Langweiliger Scheiß. Wozu brauchst du einen Freund? Damit du mit ihm auf dem Sofa hockst und fernsiehst? Das ist nämlich alles, was man nach einer Weile noch miteinander macht. Rumsitzen und glotzen.«
Ich dachte damals, sie wollte mich nur trösten. Auf ihre eigene, unorthodoxe Art. Aber es war eine Warnung gewesen. Mit Hand und Fuß.
Richard und ich verbrachten wirklich viel unserer raren gemeinsamen Zeit vor dem Fernseher. Warum auch nicht? Ich arbeitete viel, er auch. Es war schön, sich berieseln zu lassen und gemeinsam nichts zu tun. Bis zu diesem Moment jedenfalls, als mir schlagartig bewusst wurde, dass wir uns verhielten wie ein altes Ehepaar. Das Schlimme daran: Wir waren weder verheiratet, noch waren wir alt.
Ich setzte mich auf die Sofakante und starrte schockiert Richard an.
»Was ist?« Er wischte sich über den Mund. »Soße?«
»Richard, wir sind langweilig.« Meine Stimme klang ernst wie die eines Politikers, der den Notstand ausruft.
Aber auf seinem Gesicht machte sich bloß ein Lächeln breit. Er ließ sich entspannt in die Sofakissen sinken und öffnete seine Arme für mich. »Ja, und ist es nicht herrlich? Man trifft nicht oft einen Menschen, mit dem sich Langweiligsein so gut anfühlt.«
Ich runzelte die Stirn. So gesehen …
Richards Arme streckten sich mir entgegen. »Komm schon, Daphne, lass uns langweilig sein. Sonst geht mein Puls noch hoch.«
Ich legte mich auf seine Brust und ließ mich drücken. Sein Herz schlug ruhig und gleichmäßig.
»Der kann mich mal. Das ist eine Art Abkürzung. Wenn man das ganz sagt, dann heißt es: Der kann mich mal am Arsch lecken, aber ich sag nicht so gern Arsch.«
»Oder lecken.«
»Mann! Betty!«
Betty lachte und richtete ihren Blick wieder auf die Straße, während Lucy mit ihrem Deutschunterricht fortfuhr.
»Sie erzählt dem blonden Polen gerade von Hannes«, erklärte Betty mir die Situation, als ich sie verwirrt ansah.
»Das erklärt einiges.« Ich streckte meine Arme und Beine von mir, bis es knackte, und warf einen Blick nach hinten. Viktor schlief mit offenem Mund, an die Buswand gelehnt, Lucy saß zwischen ihm und Karol, gestikulierte wild mit den Armen und strich sich die Haare aus der Stirn, während der blonde Pole aufmerksam nickte und einmal auch die Augenbrauen hob.
»Hat sie ihm gesagt, warum mit Hannes Schluss ist?«, fragte ich Betty.
»Bisher hat sie es damit begründet, dass er ein gemeiner Typ ist. Was nicht stimmen kann. Soweit ich weiß, ist Hannes ungefähr so gemein wie Biene Maja. Aber mehr Details hat Lucy bisher nicht verraten. Schade eigentlich. Ich bin äußerst neugierig, was diese Sache betrifft.« Sie sah mich von der Seite an. »Weißt du mehr, Schätzelein? Ich wette, ja.«
»Vielleicht. Aber ich rede nicht darüber.« Wenn Lucy selbst es nicht tat, würde ich diese Sex-Problematik ganz sicher nicht auf den Tisch bringen. Nicht vor Betty. Nicht seit sie mich über Stunden mit der Sexfalle aufgezogen hatte.
Aber es fiel mir schwer, nichts zu sagen, weil ich wirklich gern mit ihr darüber geredet hätte. Ich hasste Geheimnisse. Die wogen so viel. Und was Lucy betraf, schleppte ich jetzt sogar schon zwei mit mir herum. Den wahren Grund für ihre Trennung von Hannes und das, was ich beim Durchblättern ihres Poesiealbums über ihre traurige Jugend erfahren hatte. Und das Komplizierte daran war: Sie wusste in beiden Fällen nicht, dass ich es wusste, und ich wusste nicht, ob ich es wissen durfte und ob es ihr helfen würde zu wissen, dass ich es wusste, oder ob sie es lieber nicht wusste, weil das alles nur noch schlimmer machen würde. Nichtwissen wird echt unterschätzt.
»Nichtwissen ist der wahre Segen, Betty, glaub mir.«
»O Gott, so schlimm? Jetzt will ich es erst recht wissen.«
»Weißt du, was ich gern wüsste?«
»Raus damit, Schätzelein.«
»Was da geht. Zwischen Lucy und Karol, meine ich.«
Sie schüttelte den Kopf. »Keine Spur. Der will nur so lang wie möglich hier mitfahren und Torte essen. Ganz schön schlau, der Bursche.« Betty nickte anerkennend und wurde dann ein bisschen nachdenklich. »Ich hoffe, er bricht Lucinda nicht das Herz.«
Meine Hand fiel mit einem dumpfen Knall auf das Armaturenbrett. »Na also, da hast du’s!«
Betty zuckte erschrocken zusammen. »Was hab ich?«
»Genau deswegen wollte ich keine Anhalter mitnehmen.« Ich schnalzte ungehalten mit der Zunge. »Die machen nur Ärger. Die nutzen uns aus und essen unsere Vorräte. Ich sag dir eins, wenn nachher die Blutwurst alle ist oder Lucy weint, eins von beiden, dann kann ich für nichts garantieren …« Aufgebracht kramte ich im Handschuhfach herum und brachte eine Kassette zum Vorschein. »Darf ich jetzt endlich auch mal wieder meine Musik hören, oder was?«
Betty lachte und drückte auf Eject.
»Dass man immer erst laut werden muss«, beschwerte ich mich noch. Dann lachte ich auch.
»Ich dachte, wir schaffen es heute bis hinter Paris. Mindestens.«
»Und ich dachte, wir wären im Urlaub und nicht auf der Flucht.«
»Betty, so was sagen sonst nur sechzigjährige Hausmeister …«
»Echt? Ich hab den Spruch letzte Woche im Supermarkt hinter der Fleischtheke hängen sehen. Also, auf so einem laminierten Zettel und natürlich nicht mit Urlaub sondern mit Arbeit, Schätzelein, nä? Ist klar.«
»Ja. Klar.«
»Apropos Fleischtheke … Boulogne-sur-Mer …« Betty tippte zielsicher auf die Karte, südlich von Calais, gegenüber von Großbritannien, kilometerweit weg von Paris. Es war halb vier. Wir hatten Aachen erst vor zweieinhalb Stunden verlassen und befanden uns jetzt in Belgien. Auf einem Rastplatz. Mal wieder.
»Boulogne-sur-Mer hat nichts mit Spaghetti Bolognese zu tun, Betty, ich sag’s dir gleich. Sonst bist du hinterher enttäuscht.«
»Das werden wir noch sehen, Schätzelein. Vielleicht erzählst du mir das ja auch bloß, damit wir heute noch bis hinter Paris durchheizen und ich die beste Bollo meines Lebens verpasse.«
Ich seufzte. Was sollte ich dazu auch sagen?
»Boulogne-sur-Mer«, verkündete Betty. »Wenn man die Chance hat, sollte man hinfahren.«
Viktor grunzte hinten im Bus, als er sich in eine andere Schlafposition brachte. Er hatte jetzt mehr Platz, weil Lucy und Karol sich gemeinsam auf den Weg zu den belgischen Toiletten gemacht hatten. Ich war auch schon da gewesen. Sie waren in einem hervorragenden Zustand. Es gab sogar Duschen. Und die Benutzung war kostenlos. »Wir könnten auch einfach hierbleiben«, schlug ich Betty vor, »die Sanitäreinrichtungen sind auf jeden Fall tiptop.«
»Du bist so ein Spießer, manchmal weiß ich wirklich nicht, warum ich dich überhaupt liebe.«
Ich zuckte mit den Schultern und bemerkte, dass tief in meinem Rucksack mein Handy klingelte. Während ich ohne viel Hoffnung, es rechtzeitig zu finden, danach suchte, schwang Betty sich aus dem Bus.
»Heute Abend, Spaghetti Bollo mit Meerblick«, rief sie mir vom Parkplatz zu. »Ich hol mir ’ne Cola, willst du auch was?«
Ich fand das Telefon, schüttelte abwesend den Kopf und nahm das Gespräch an. »Hallo?«
»Daphne, wir haben ein Problem.«
»Richard?«
»Du bist erst einen Tag weg und erkennst meine Stimme schon nicht mehr?«
»Nein, ich hab nur nicht aufs Display geguckt, und jetzt war ich mir gerade nicht sicher, wegen der langen Leitung, ich bin in Belgien …«
»Schon okay. Das war nur ein Witz.«
»Ach so. Na gut.« Und eigentlich liebte ich ja gerade das an Richard: dass er in jeder Situation in der Lage war, einen Witz zu machen und mich zum Lachen zu bringen. In der letzten Zeit irritierten mich seine Witze allerdings häufiger, als dass sie meine Laune besserten. Lag das an ihm? An mir? Am Wetterumschwung?
Immerhin, sagte ich mir, scheint er mir nicht übel zu nehmen, dass ich gestern Abend einfach aufgelegt habe. Sonst würde er keine Witze machen.
»Und?«, fragte Richard.
»Hm?«
»Ist Belgien schön?«
»Weiß nicht. Ich hab bisher nur die Autobahn gesehen. Die ist …« Dazu gab es wirklich nichts zu sagen. »Was ist denn passiert?«
Richard holte tief Luft, und während er ausatmete sagte er: »Hannes.«
»Ja?«
»Der dreht durch.«
»Warum?«
»Ja, warum wohl? Weil seine Freundin letzte Woche mit ihm Schluss gemacht hat und jetzt mit dir und Betty in den Süden fährt und er sich Sorgen macht, dass sie von irgendeinem heißblütigen Südländer verführt wird, mit Liebemachen am Strand im Mondschein und allem inklusive.«
»Davor hat er Angst?« Das passte nicht zusammen. Lucy hatte mit Hannes Schluss gemacht, weil allein der Gedanke an wilden Sex die Panik in ihr aufsteigen ließ. Und das wusste er ganz genau.
»Wieso sollte er davor keine Angst haben?«
Ein Dilemma. Durfte ich Richard in die tiefsten, intimsten Ex-Beziehungsgeheimnisse meiner Freunde einweihen? Das zu entscheiden und gleichzeitig weiterzureden, als wäre nichts, stellte sich als ziemlich schwierig heraus. Es war ja nicht so, als hätte ich eine Ausbildung bei irgendeiner Spezialeinheit gemacht, die mich auf so einen Moment vorbereitet hätte. »Äh …« stammelte ich, und das war ein Anfang. Ein schlechter Anfang, aber immerhin war es einer.
»Geht es um die Sex-Sache?«
»Woher …?«
»Hannes hat es mir erzählt.«
Ich schnappte ehrlich empört nach Luft. »Wie kann er nur?!« Mit solchen Geschichten war man vorsichtig. Die verteilte man nicht in der Gegend wie Konfetti.
»Daphne, wir wohnen hier zusammen. Temporär zumindest. Und der Junge ist am Ende.«
»Warum geht ihr dann nicht einfach zu Doris und trinkt schweigend einen Schnaps? Ich dachte immer, das machen Männer so, wenn es blöd läuft.«
»Du bist echt ein herzloses Stück.«
»Wie bitte?«
»War nicht so gemeint.«
Es war schon faszinierend. Sobald eine Beziehung sich in einer gewissen Schieflage befand, war es unmöglich, feine Nuancen von Ironie in der Stimme des anderen zu erkennen. Ich blieb dabei: In solch tiefen Tälern der Liebe sollte man nicht zum Telefon greifen. Da konnte man genauso gut gleich Schluss machen. Und obwohl ich das wusste, konnte ich einen Kommentar dazu nicht verkneifen. »Dann sag es auch nicht so.«
Richard überging das. »Hör zu, kannst du Lucy vielleicht überreden, Hannes mal anzurufen? Damit er nicht mehr die Wände hochgeht?«
Ich lachte trocken. »Tut mir leid, aber ich glaube, das wird nichts. Er macht sich auf jeden Fall vollkommen umsonst Sorgen, das kannst du ihm sagen. Ich meine … Wir sind in Belgien …« Just in diesem Moment kam Lucy aus dem Toilettenhaus, strahlend, mit fröhlich hüpfendem blondem Pferdeschwanz, und warf dem großen blonden Polen neben sich einen Blick zu, der durchaus als verliebt klassifiziert werden konnte. Das alles wurde nicht besser dadurch, dass sich ein jugendlicher polnischer Arm lässig um ihre Schulter legte. Wenn Hannes das jetzt sehen könnte … »Und Belgien«, fuhr ich leicht abgelenkt fort, »ist nun nicht unbedingt für seine heißen Südländer bekannt.« Ich räusperte mich.
»Ich werde das so weitergeben.« Richard klang sehr seriös, als er das sagte. »Das ist auch für mich gut zu wissen.«
»Ach ja?«
»Klar. Ich vertraue dir zwar zu hundert Prozent …«
»Aber?«
Er lachte. »Ach, Baby … Eine Klassefrau wie du? Da ist immer ein bisschen Vorsicht angesagt.«
Ich wartete, ob er noch etwas sagen würde, aber dieses Mal hatte er wohl keinen Witz gemacht.
Wie von Betty vorausgesagt, aßen wir unter einem bewölkten Abendhimmel in einem kleinen italienischen Restaurant in der Nähe des Hafens von Boulogne-sur-Mer Spaghetti Bolognese. In der Luft hing der Geruch von Algen und Knoblauch, und ich bestellte Rotwein und aß mit einem gewissen Trotz das Baguette, das zu unseren Pastagerichten serviert wurde. Ich wollte ja nicht kleinlich sein, aber sicherlich hätte es auch Spaß gemacht, an unserem ersten Abend in Frankreich etwas Französisches zu essen. Weinbergschnecken. Oder Quiche. Spaghetti gab es doch schon jeden zweiten Tag zu Hause.
»Du hast echt immer was zu meckern, Schätzelein.«
»Was ist denn so falsch daran, landestypisch essen zu wollen? In Remscheid gab es ja schließlich auch Wurst.«
Lucy saß neben Karol und ließ ihn von ihrem Teller essen. Sie hatte ein weißes Kleid mit einem rosafarbenen floralen Muster angezogen und trug die Haare offen. Obwohl wir den ganzen Tag im Bus gesessen hatten, glühten ihre Wangen, als hätte sie sich stundenlang in der direkten Sonne aufgehalten. Ich war hin- und hergerissen zwischen einer gewissen Erleichterung, weil ich auf eine derart schnelle Erholung vom Festival der Tränen am Vorabend nicht zu hoffen gewagt hätte, und einer seltsamen Bitterkeit. Hannes war schließlich einer meiner besten Freunde, und irgendwie ging mir das hier, stellvertretend für ihn, alles ein bisschen zu schnell. Zumal immer noch nicht geklärt war, worum es sich bei diesem »das hier« überhaupt handelte. Es kam mir jedenfalls verdächtig vor. Und auch ein bisschen surreal.
»Ähm … Karol?«
Unser hochgewachsener Anhalter löste den Blick von Lucys Ausschnitt und sah mich fragend an. »Was ist denn, Daphne?« Das erste »S« klang weich und schlingerig, als wäre er betrunken, das zweite zischte in meinen Ohren.
»Ich … äh …« Ich wusste, dass ich mich mit dem, was ich als Nächstes sagen wollte, nicht unbedingt beliebt machen würde. Aber diese Reise hatte ich mit Betty und später auch Lucy gemeinsam unternehmen wollen. Ich hatte nicht direkt ein Problem mit Karol und Viktor, aber ihre Anwesenheit störte unseren Freundinnenurlaub, so empfand ich das jedenfalls. Und deswegen wollte ich lieber ohne sie weiterfahren. »Sollen wir euch vielleicht nach dem Essen noch bei einer Raststätte absetzen oder so, damit ihr quasi … äh … umsteigt?«
»Ich verstehe nicht … ›umsteigt‹?«
»Ja, Schätzelein, das versteh ich jetzt aber auch irgendwie nicht.«
»Willst du Karol und Viktor etwa aussetzen?« Lucy ließ entgeistert ihre Gabel sinken.
Wenigstens ließ Viktor mich in Ruhe, kaute stumm seine Pizza und starrte auf irgendeinen unsichtbaren Punkt über unseren Köpfen. In diesem Moment war er mir von all meinen Mitreisenden am sympathischsten.
»Na, ich weiß nicht, wie ihr euch das gedacht habt«, versuchte ich es mit logischer Argumentation, »aber der Bus ist mit drei Personen eigentlich voll. Was die Schlafplätze betrifft, meine ich.«
»Ach so!« Karol lächelte mich erleichtert an, den ganzen unverbrauchten Charme eines Anfang Zwanzigjährigen auf seinem faltenlosen, rosigen Gesicht. »Wir haben das Zelt.«
Das Zelt. Na, dann. Dann war ja jetzt alles klar.
Wir hatten den Bus schon vor dem Essen auf einem großen Parkplatz direkt an der Strandpromenade abgestellt, mit Blick aufs Meer und ein paar Holzbuden hinter adrett bepflanzten Blumenkübeln. Auf der großen, asphaltierten Fläche wuchsen ein paar penibel gestutzte Laubbäumchen, und es standen hier auch noch einige Autos, aber keine anderen Wohnwagen oder Busse. Wir waren ganz allein, nur der kalte Nachtwind von der Seeseite pfiff laut über die ungeschützte Fläche und rüttelte am Blech des VW-Busses.
Lucy verschwand irgendwann, um sich das Zelt anzusehen, und kam nicht wieder. Betty und ich richteten im Schein von Taschen- und Parkplatzlampen unser Bett her, und mich überkam eine gewisse Aufregung in Anbetracht meiner ersten Nacht in unserem rollenden Zuhause. Im Gegensatz zu mir war Betty nach ihrer Übernachtung in Remscheid bereits ein alter Hase, was die nötigen Abläufe und Handgriffe betraf. Sie bezog die Matratze und verteilte Schlafsäcke und Kissen, sodass wir es bequem hatten. Ich machte ein paar unbeholfene Ansätze, ihr zu helfen, fühlte mich aber die meiste Zeit fehl am Platz und beschränkte mich am Ende darauf, die Taschenlampe zu halten und über das nachzudenken, was Betty bei unserem gemeinsamen Abendessen zu mir gesagt hatte. Und je mehr ich darüber nachdachte, umso stiller und abwesender wurde ich. Etwas Ekliges, Kaltes machte sich in meinem Bauch breit und reckte und streckte sich, bis es in jeden Winkel reichte. Ich legte mich in das Bett und starrte an die Decke, bis Betty die Lampe ausgemacht und sich neben mich in die Kissen gewühlt hatte.
»Mecker ich wirklich so viel?«, fragte ich in die Dunkelheit.
Neben mir raschelte Bettys Schlafsack, dann war es einen Moment ruhig, bevor sie fragte: »Wie sag ich dir das, ohne dass du eingeschnappt bist?«
»Also, ja.« Ich war wirklich nicht eingeschnappt. Es klang nur so.
»Weißt du«, begann Betty, »es will mir nur einfach nicht in den Kopf, wieso du nicht glücklich sein kannst. Wir fahren zusammen mit dem Bus in den Süden, wie wir das wollten …«
»Ja.«
»… und in Hamburg wartet Richard. Der liebt dich.« Sie rutschte heran und drückte mich an sich, was sich schön und beengend gleichzeitig anfühlte. »Und ich liebe dich auch«, murmelte sie in mein Haar.
»Wirklich?«
»Klar. Immer. Egal wie mies du drauf bist.« Sie seufzte und ließ mich los. »Aber es tut mir so leid für dich, dass du das hier nicht genießen kannst. Ich meine, du hast doch verdammt noch mal alles, was du immer wolltest. Ist doch so.«
Ja. So war es. Ich hatte all das, was ich immer gewollt hatte. Doch jetzt, da ich es hatte, fehlte wieder etwas. Die Gewissheit, dass es auch das Richtige war.