17
Der Teil mit der Lektion in Sachen Freundschaft
LUCYS MIXTAPE
Beach Boys – Good Vibrations
Wenige Minuten später stand ich wieder an unserem Tisch, wo sich inzwischen auch Lucy und Ana eingefunden hatten. Die Sonne hingegen hatte sich ein für alle Mal verabschiedet. Ich stellte die zwei Portweingläser und meinen Long Island Iced Tea – denn ich brauchte etwas Starkes – vor Betty ab, räusperte mich und deutete auf den Mann neben mir. »Schaut mal, wen ich zufällig getroffen habe …«
Die Reaktionen fielen sehr unterschiedlich aus. Während Marco und Ana, die nicht wussten, wen sie gerade kennenlernten, freundlich grüßten und Felix ihre Hände hinhielten, blieb Lucy, wie zuvor mir selbst, bei dem Anblick meines Exfreundes der Mund offen stehen. Betty lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und schenkte ihm einen langen, missbilligenden Blick. »Sieh mal einer an. Der Herr Geistig-Klobig.«
Der Angesprochene nickte höflich. »Betty.«
»Eigentlich heißt er Felix«, klärte ich Ana und Marco auf. Marco nickte verwirrt, Ana sah sehr interessiert aus. Vermutlich spürte sie, dass es sich bei dieser Situation um einen klassischen Telenovela-Moment handelte.
Betty ließ Felix nicht aus den Augen. »Tja, schade, was? Daphne hattest du ja leider schon …«
»Lass das, Betty.« Was sie sagte, erweckte den vollkommen falschen Eindruck. Felix war kein Frauenheld. Zumindest war er das damals nicht gewesen, als ich ihn meinen Freund nennen durfte – drei Monate lang. Andere Frauen waren nicht der Grund für unsere Trennung gewesen. Felix hatte bloß diese Bindungsangst gehabt, das war alles. Er hatte sich nicht für mich entscheiden können, gegen mich aber auch nicht. Natürlich hatte mich das ziemlich fertig gemacht. So fertig, dass ich mir bei dem Versuch, einen Plüschpanda zu verbrennen, fast eine Rauchvergiftung zugezogen hätte. Es war verständlich, warum Betty so biestig auf ihn reagierte, denn wer so mit ihren Freunden umsprang, war automatisch ihr Feind. Das war ja irgendwie auch ganz niedlich und reizend, aber die Sache mit Felix war jetzt mehr als drei Jahre her. Und außerdem hatte ich ihn ja schließlich abserviert, ausgerechnet als er sich gerade überlegt hatte, dass er doch mit mir zusammen sein wollte. Seitdem hatten wir uns nicht wieder gesehen. Es hatte also jeder von uns den anderen verletzt. Damit waren wir quitt. Schwamm drüber.
Selbst wenn Betty anscheinend nicht bereit war, so schnell zu vergeben, für Felix schien die vergangene Zeit lang genug gewesen zu sein, um mir zumindest einen Drink auszugeben. Ein Friedensangebot, eindeutig. Und es war mir peinlich, dass Betty sich ihm gegenüber so ätzend verhielt. Ich warf ihr einen durchdringenden Blick zu, der sie stoppen sollte. Daraufhin zündete sie sich eine Zigarette an, rauchte und schmollte gleichzeitig.
»Und?«, fragte Lucy, die sich inzwischen wieder gefangen hatte und wohl dachte, ein wenig Konversation würde die angespannte Stimmung auflockern. »Machst du auch Urlaub?«
»Ja«, antwortete Felix.
Mehr fiel Lucy nicht ein. Konversation war leider einfach nicht ihre Stärke. Sie warf mir einen hilflosen Blick zu.
»Bist du noch länger in Lagos?«, schaltete ich mich ein und war zu meiner eigenen Überraschung seltsam erfreut, als er sagte: »Noch bis Ende der Woche. Fünf Tage, dann geht’s wieder zurück.«
»Wir bleiben jetzt auch erst mal hier«, hörte ich mich sagen, »unser Bus ist kaputt.« Ich nahm wahr, dass Betty mich fassungslos von der Seite anstarrte. Ich nahm auch wahr, dass ich mich auf eine vollkommen unerwartete, ziemlich starke Weise zu Felix hingezogen fühlte, obwohl ich wusste, dass das aus so vielen verschiedenen Gründen falsch, falsch, falsch war, dass ich mich eigentlich selbst hätte ohrfeigen müssen. Vor versammelter Mannschaft. Betty hätte das bestimmt gefallen. Aber was kümmerte mich Betty, als Felix mich anlächelte und sagte: »Das trifft sich doch hervorragend. Dann sehen wir uns hoffentlich wieder.«
Meine Knie gaben ein wenig nach.
»Hast du morgen Abend schon etwas vor?«, fragte er mich.
Ich schüttelte debil lächelnd den Kopf. Ich konnte nicht sprechen. Betty schlürfte provokant an ihrem Portwein.
»Na, das passt doch. Sagen wir, morgen hier? Um zehn? Ich hab vorher noch ein Essen mit der Tauchschule, aber ich würde dich wirklich gern sehen …«
»Ich dich auch«, flüsterte ich. Meine Stimmbänder waren so labberig wie meine Knie.
Betty machte »Ts!«
»Okay, also dann … Ich glaube, ich bin hier nicht erwünscht.« Felix gab mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange und winkte noch einmal, als er sich durch die Tischreihen gekämpft und die Straße erreicht hatte. »Bis morgen!«, rief er.
»Ja, bis dann!«, rief ich zurück.
»Ich fass es nicht!« Betty nahm einen großen, letzten Schluck Portwein und stellte das leere Glas mit einem Knall auf der Tischplatte ab. »Schätzelein, haben sie dir in den fünf Minuten, die du da in der Bar warst, das Gehirn durch die Nase rausgezogen, oder was stimmt nicht mit dir?«
Ich wischte mir das debile Grinsen aus dem Gesicht und stemmte wütend meine Hände in die Hüften. »Du bist echt unmöglich, weißt du das? Felix hat dir nichts getan, und du redest mit ihm, als hätte er deine Familie auf dem Gewissen.«
»Hat er auch. Quasi.« Betty zündete sich eine weitere Zigarette an. Sie war so aufgebracht, dass ihre Hände zitterten. Sie zog den Rauch ein und blies ihn mit einem Schnauben wieder aus. »Ich hab echt was Besseres zu tun, als dich schon wieder in Ordnung zu bringen, wenn der Typ zum wievielten Mal mit dir fertig ist? Zum zwölften?«
»Es wäre das vierte Mal, aber …«
»Er ist ein Spacken, und er bleibt ein Spacken. Und du bist auch ein Spacken. Jammerst wegen jeder Kleinigkeit über Richard, und dann kommt der Kerl, der dir innerhalb von wenigen Monaten mehrmals brutal das Herz gebrochen hat, und du wirfst dich ihm an den Hals, als wäre nie etwas passiert.«
»Mädels …«, versuchte Marco zu intervenieren, aber seine Chancen standen schlecht.
»Und wenn schon!«, unterbrach ich ihn. »Das geht dich gar nichts an. Bettina.«
»Das geht mich eine ganze Menge an, Daphne. Ich habe es nämlich satt, deine persönliche Trümmerfrau zu sein. Ich hab keinen Bock mehr, deine Hand zu halten, wenn mal wieder deine Welt zusammenbricht wegen irgendeinem Mann. Und schon gar nicht wegen dem da.« Sie nahm einen letzten Zug von ihrer Zigarette und drückte sie halb geraucht im Aschenbecher aus. »Anstatt endlich aufzuwachen und zu merken, was für ein Glück du mit Richard hast, lässt du jetzt dieses Arschloch wieder in dein Leben? Ist das dein Ernst?!«
»Wir gehen nur was trinken!«
»Genau.« Betty lachte trocken, bevor sie mir tief und durchdringend in die Augen sah und mit ernster Stimme fragte: »Was ist mit Richard?«
Was ist mit Richard? Was ist mit Liebe? Was sollten all diese Fragen? Wieso sollte das irgendjemanden außer mir überhaupt etwas angehen? »Ich weiß es nicht«, presste ich ungehalten zwischen den Zähnen hervor und griff nach meinem Long Island Iced Tea. Die Eiswürfel waren inzwischen vollständig geschmolzen.
Stille legte sich über den Tisch. Betty starrte verbissen irgendwohin, Hauptsache nicht in meine Richtung. Sie tat mir fast ein bisschen leid, aber nur fast, weil ich von ihr mindestens genauso enttäuscht war wie sie von mir. Weil sie mich einfach nicht verstand und es auch nicht probierte. Weil ich wusste, dass ich nicht einmal versuchen musste, ihr zu erklären, wie verloren ich mich fühlte. Denn dann hätte sie, wie immer in solchen Situationen, gesagt, dass ich albern war und alles verkehrt sah. Sie verstand mich einfach nicht. Und das Schlimmste war: Irgendwie verstand sie mich nie.
Ich setzte mich auf den Stuhl ihr gegenüber und trank. Lucy schaute betreten auf den Tisch. Ana war diejenige, die irgendwann das Schweigen brach. »Meu Deus!« Sie seufzte erschöpft, als hätte sie gerade einen Dauerlauf beendet, und schob sich die Haare aus dem Gesicht. »Nicht falsch verstehen bitte, okay? Aber ›Remédio Santo‹ is nix dagegen.«
Damit war dann die Idee, in Skys Bus zu übernachten und den Urlaubs-Spirit so lange wie möglich aufrechtzuerhalten, fürs Erste gestorben. Ich hatte Betty noch nie so sauer erlebt und keine Ahnung, wie lange sie brauchen würde, um sich wieder zu beruhigen. Eine Weile würde es sicher dauern, und ich hatte keine Lust, in dieser vergifteten Atmosphäre zu schlafen. Also nahm ich Marcos Einladung an, die Nacht in seinem Van zu verbringen, der am Straßenrand vor der Werkstattmauer parkte. Eine Mauer Sicherheitsabstand zwischen Betty und mir. War vielleicht besser so.
Ein weiterer Vorteil davon, übergangsweise bei Marco einzuziehen, war, dass er seine Bordbar in Lissabon aufgestockt hatte. Und so saßen wir, jeder einen Drink und eine Zigarette in der Hand, auf den Klappstühlen vor seinem mobilen Zuhause und betrachteten den Nachthimmel. Viel war da nicht los. Die üblichen Sterne, ein Mond, eine überschaubare Menge an Wölkchen. Die Grillen zirpten, eine Anti-Mücken-Kerze flackerte nutzlos im Wind, und durch das Beifahrerfenster drang leise Musik aus der Anlage. Pearl Jam, wenn ich das richtig hörte. Was hatten Jungs nur immer mit Jungs mit Gitarren? Ich dachte an Richard und seine Gitarre. Es löste nichts in mir aus, allerhöchstens wurde ich müde davon. Ich dachte daran, dass ich Felix am nächsten Abend treffen würde. Mein Magen spielte verrückt. Auf eine gute Art und Weise. Aber das durfte ich niemandem erzählen.
»Verzwickte Angelegenheit, gelle?« Das Ende von Marcos Zigarette glimmte vor seinem Gesicht auf.
»Was genau meinst du? Dass wir hier festsitzen? Den Streit mit Betty? Den Streit mit Richard? Dass ich morgen mit meinem Exfreund verabredet bin und mich deswegen alle scheiße finden?«
Ich hörte ihn neben mir im Dunkeln leise lachen. »Es ist schlimmer, als ich dachte. Armes Herzche.«
»Wirklich schlimm ist nur die Situation mit Richard. Weil ich nicht weiß …« Ich hatte keine Lust, das alles noch einmal durchzukauen. Ich tat ja jetzt schon seit vierundzwanzig Stunden kaum etwas anderes. »Ach egal. Jedenfalls baut alles andere doch darauf auf.«
»Der Bus ist kaputt, weil du dich mit ’m Richard gestritten hast?«
»Nein.« Ich seufzte ungeduldig. »Aber wenn zwischen ihm und mir alles okay wäre, hätte Betty sicher kein Problem damit, dass ich Felix treffe.«
Ich konnte es in der Dunkelheit nicht sehen, aber ich wusste, dass Marcos Reaktion auf diesen Satz ein skeptischer Gesichtsausdruck war. Das jedenfalls hätte zu seinem Tonfall gepasst. Der war auch skeptisch. »Meinst du? Ich glaube, die hat ganz allgemein etwas gegen den, egal, ob du nun eigentlich mit dem Richard zusammen bist oder mit der Beyonce oder mit wem auch immer.«
»Beyonce?«
»Ei, die fiel mir gerade so ein.« Marco kehrte schnell zum ursprünglichen Thema zurück. »Und könnte es eventuell sein, dass du gar nicht erst auf die Idee gekommen wärst, dieses Date mit Felix abzumachen …«
»Das ist kein Date. Wie oft soll ich das denn noch sagen?«
»Okay. Kein Date. Aber würd’st du den auch treffen wollen, wenn du ausnahmslos glücklich mit dem Richard wärst? Oder würdest du ihm dann nicht viel lieber dein Glück mit deinem neuen Freund in seiner ganzen Pracht unter die Nase reiben und ihm sagen, dass er sich seinen Drink sonst wohin stecken soll?«
»Marco! Du bist ja eine echte …« Ich suchte nach einem anderen Wort. Fand aber keins. »… bitch.«
»Ich versetz mich nur in deine Lage, Herzche.«
»Oh. Danke auch.« Leider war er sehr gut darin. Vielleicht lag seine Trefferquote nicht bei hundert Prozent, aber ja, natürlich wäre ich zufrieden mit meinem Liebesleben, wäre die Situation in der Bar anders verlaufen. Doch wie Betty immer so schön sagte: hätte, hätte, hätte.
Hier und heute steckte ich beziehungstechnisch bis zu den Schultern in einem Brei aus Zweifeln und Unsicherheit. Und das vielleicht zu Recht, diese Möglichkeit zog interessanterweise niemand in Betracht. Die Zeiten änderten sich schließlich. Was vor einem halben Jahr noch richtig schien, war jetzt vielleicht genau falsch. Und was vor drei Jahren nicht funktioniert hatte, verdiente jetzt eventuell eine neue Chance. Welche Frau, der sich in so einer Situation plötzlich eine derartige Alternative auf dem Silbertablett präsentierte, würde nicht zumindest kurz ins Grübeln kommen? »Es kann doch sein, dass es ein Zeichen ist«, überlegte ich laut.
»Dass du den Felix getroffen hast?«
»Ja, genau. Weißt du, ich dachte immer, der richtige Mann ist der Schlüssel zur perfekten Beziehung. Wenn ich einen finde, der passt, passt der Rest auch. Das ist wie mit Kleidern. Manche sehen super auf dem Bügel aus, stehen dir aber nicht. Andere sind ganz passabel, aber es fehlt das gewisse Etwas. Andere sind eigentlich rundum perfekt, aber du kannst sie dir nicht leisten. Aber wenn du nach langem Suchen endlich das richtige Kleid gefunden hast, bist du immer gut angezogen, da musst du dir keine Sorgen mehr machen. Ich dachte, so wäre das mit mir und Richard.«
Marco klang irgendwie angewidert. »Du vergleichst den Richard mit einem Kleid?!«
»Nein, das ist nur ein Bild. Damit will ich deutlich machen, was ich meine.«
»Indem du mit mir über Klamotten redest?«
Guter Einwand. Mit Alternative-Rock-Bands kannte ich mich aber leider nicht gut genug aus, um an ihrem Beispiel meinen Punkt klarzumachen. Also zurück zum Kleid. »Na, jedenfalls ist Richard lange Zeit mein Lieblingskleid. Aber dann passiert etwas. Keine Ahnung. Ich hab zugenommen oder ihn zu heiß gewaschen …« Ich hörte, wie Marco sich im Dunkeln mit der flachen Hand gegen die Stirn klatschte, »und auf einmal passt er mir nicht mehr. Ich fühle mich nicht mehr wohl, wenn ich das Richard-Kleid anziehe. Und dann finde ich plötzlich beim Schrank Ausmisten dieses alte Kleid, das ich eigentlich wegwerfen wollte und total vergessen habe. Ich probiere es spaßeshalber an, und siehe da …«
»Der Felix ist jetzt auch ein Kleid?«
»Ich wusste, du würdest es verstehen.« Ich lehnte mich zufrieden zurück und guckte in die Sterne. Endlich war mir auch selbst klar geworden, was ich fühlte. Ein Hoch auf die Metapher!
»Daphne«, sagte Marco, »Menschen sind keine Textilien.«
Aber das wollte ich nicht hören. Das konnte er dem Mond erzählen. Ich würde am nächsten Tag mein altes Kleid treffen, und niemand konnte mich davon abhalten. Wenn man kurz davor war, im Chaos unterzugehen, war man dankbar für jeden kleinen Lichtblick. Auch wenn alle anderen der Meinung waren, dass es sich bei diesem Lichtblick um die Scheinwerfer eines schnell herannahenden Autos handelte. »Fahren wir morgen an den Strand?«, fragte ich Marco.
Er seufzte zur Antwort – »Na klar.« – und erschlug eine Mücke auf seinem Arm.
Sonnenschein. Wärme. Meeresrauschen. Ansonsten: Stille. Zumindest zwischen Betty und mir herrschte nach wie vor eisiges Schweigen, obwohl Lucy wirklich ihr Bestes tat, um so etwas wie eine Unterhaltung in Gang zu bringen. Da sie dafür aber bekanntermaßen nur wenig Talent besaß, beschränkte sie sich aus Mangel an unverfänglichen Themen auf eine Zusammenfassung der gestrigen Folge von »Remédio Santo«, was jedoch nur stockend voranging, weil Ana sie immer wieder mit einem Schnalzen unterbrach und mit einer überraschenden Strenge in der Stimme verbesserte. »Tudo errado, ’tschuldige, aber das has du falsch verstanden.« Es folgte Anas absolut gegenteilige Version von dem, was Lucy zu sehen geglaubt hatte, und beide warfen mit Namen um sich, die sich zwar hübsch anhörten, mir aber nichts sagten.
»Ana, was hat es eigentlich mit dem 25. April auf sich?«, unterbrach ich das Geschnatter. Betty hatte sich schon vor längerer Zeit ein T-Shirt über die Augen gelegt und schlief vielleicht.
Verwirrt legte Ana den Kopf schief. »Funfundzwansigste Abril? Por quê?«
»Weil hier alles danach benannt ist. Straßen, Brücken …«
»Ach so! Das is Dia da Liberdade, unser Feiertag nacional.«
Ich beobachtete Betty in der Hoffnung, sie würde irgendwie darauf reagieren, dass ich ihre brennende Frage vom Vorabend für sie beantworten ließ. Aber nichts passierte. »Alles klar. Danke«, sagte ich enttäuscht, legte mich wieder flach auf mein Handtuch und ärgerte mich.
»Nix Ursache.« Ana drehte sich wieder zu Lucy um. »Und noch mal: Armando is nich der Sohn von Violante.«
»Doch. Natürlich. Er ist der Sohn von Alvaro, und Alvaro ist der Mann von Violante, also ist Armando auch ihr Sohn.«
»Nein!« Anas Stimme wurde laut vor Ungeduld. »Er is ein bastardo!«
»Das ist ein sehr schlimmes Wort, Ana«, erklärte Lucy in einem tadelnden Tonfall.
»Aber es is so!«
Eine Weile hörte ich dem kleinen Wortgefecht der beiden zu, aber so wenig wie ich von dem verstand, worüber sie redeten, hätte es auch um Cricket gehen können – noch so eine Sache, von der ich keine Ahnung hatte –, und ich langweilte mich bald. Und da ich mich sowieso nicht so gern am Strand in Anas Nähe aufhielt, weil ich beim Vergleich »sie im Bikini – ich im Bikini« so schlecht abschnitt, dass es wehtat, erhob ich mich irgendwann von meinem Badelaken. »Ich geh eine Runde ins Wasser«, informierte ich die beiden, aber sie hörten mich gar nicht. Sie diskutierten erhitzt, was dieser Armando gesagt oder nicht gesagt hatte, wobei Ana, auch was diese Frage betraf, die Nase eindeutig vorn hatte, weil sie die Serie schon länger verfolgte als Lucy. Und außerdem – und das war vermutlich ausschlaggebend – im Gegensatz zu ihr Portugiesisch sprach.
Das Wasser war angenehm erfrischend. Erst leckte es an meinen Zehen, umspülte dann meine Knöchel, meine Knie, und schließlich stand ich bis zur Hüfte im Meer und sprang mit jeder anrollenden Welle in so gut wie schwerelose Höhen. Ich blinzelte dem Horizont entgegen, hinter dem irgendwo Afrika beginnen musste. Ein ganz neuer Kontinent weiter südwärts, eine Landmasse, die ich noch nie betreten hatte, auf der Millionen Menschen lebten, die Probleme hatten, neben denen der Schlamassel, in dem ich gerade steckte, ein Witz war, Stoff für einen seichten Hollywoodfilm. Oder schlimmer noch, den Sonntagabendfilm im ZDF: Die junge Antiquitätenhändlerin Daphne entflieht ihrem Leben in der Großstadt und lässt ihren Freund Richard, einen ehrgeizigen Talentscout, allein zurück. Weit weg von zu Hause begegnet sie unverhofft ihrer Jugendliebe Felix. Alte Gefühle werden wach, und sie muss sich entscheiden: für ein Leben mit Richard im verregneten Hamburg oder eine Zeit des Glücks mit Felix unter der Sonne Portugals.
Genau genommen fehlte in der Geschichte nur eine alte Großtante namens Mildred, die mir ihr Gut oder Schloss oder Boutique-Hotel auf der südwestlichsten Klippe des europäischen Festlands vermachen wollte. Und das war mal wieder typisch. Ich bekam nur das Gefühlwirrwarr.
Und eine Ladung Salzwasser ins Gesicht. Das hatte man davon, wenn man den Wellen nicht zu jeder Zeit seine volle Aufmerksamkeit schenkte. Ich taumelte rückwärts, während ich versuchte, mir das brennende Salzwasser mit meinen vom Salzwasser nassen Händen aus den Augen zu reiben. Es war klar, dass das nicht funktionieren konnte. Parallel dazu fing ich an zu würgen, weil ich aus Versehen einen gefühlten halben Liter von dem Zeug verschluckt hatte. Blind und würgend stolperte ich durchs Wasser. Eben hatte ich noch ein entspanntes Bad im Meer genommen, jetzt dachte ich, ich müsste sterben.
»Richtig, Schätzelein, ist echt zum Kotzen, das alles«, sagte plötzlich eine Stimme neben mir. Ein Arm griff unter meinen, eine Hand schlug mir rhythmisch auf den Rücken.
Ich spuckte Wasser. Die Wellen nahmen auf mich keine Rücksicht. Arschloch-Wellen. Betty führte mich ein bisschen weiter in Richtung rettender Strand und strich mir die nassen, klebrigen Haare aus dem Gesicht.
»Geht’s?«, fragte sie.
»Ja. Danke«, antwortete ich keuchend, nachdem ich eine weitere Ladung Wasser ausgespuckt hatte.
»Gut. Dann kann ich es dir ja jetzt sagen.« Sie sah aus wie eine Amazone mit ihrer braun gebrannten Haut, den aufgetürmten Dreads auf ihrem Kopf und den Händen in den Hüften. Sie stand sicher im Wasser, als wäre der Boden aus Beton. Ich hingegen kämpfte mit dem Gleichgewicht, weil der Sand unter meinen Füßen immer wieder weggespült wurde. Warum hasste mich das Meer bloß so?
Und zu allem Überfluss verstand ich außerdem nicht, was Betty meinte. »Hä? Was kannst du mir jetzt sagen?«
»Du bist scheiße, Schätzelein.«
»Oh.« Und dafür hatte sie mich vor dem Ertrinken gerettet?
»Scheiße ist, wer beschissene Dinge tut. Und was du da gerade veranstaltest, ist beschissen, keine Frage. Aber«, sie hob eine Hand um mich davon abzuhalten, etwas zu erwidern, »ich liebe dich. Und es ist beschissen, wenn wir uns streiten. Ich will nicht scheiße sein, deswegen will ich mich nicht mit dir streiten.«
Vielleicht lag es daran, dass ich gerade, etwas überspitzt ausgedrückt, dem Tod entronnen war, aber in diesem Moment war die Logik ihrer Argumentation für mich nicht von der Hand zu weisen. »Ich will mich auch nicht mit dir streiten, Betty.«
»Siehste.«
Für ein paar Minuten standen wir schweigend im seichten Wasser wie zwei Rentner und überließen den Wellen das Reden. Ich kniff meine Augen gegen die Sonne zusammen. »Obwohl streiten irgendwie zu uns gehört. Wir streiten uns ständig.«
»Wir haben eben fast immer unterschiedliche Ansichten.«
»Aber findest du das nicht komisch? Wie sind wir überhaupt Freunde geworden, wenn wir so verschieden sind?«
Betty zuckte mit den Schultern. »Musste wohl so sein.«
Mit dieser Antwort gab ich mich nicht zufrieden. »Aber du verstehst mich nicht, und ich versteh dich nicht, und eigentlich ist das doch das, was eine Freundschaft ausmacht: dass man sich gegenseitig versteht.«
»Sagt wer?«
Das Fernsehen? Oma Mathilde? »Keine Ahnung.«
»Ich glaube, Freundschaften, in denen sich beide immer verstehen, ist was für Anfänger. Und das gilt nicht nur für Freundschaft, Schätzelein, denk mal drüber nach.«
Ich sah sie ratlos an.
Betty rollte ungeduldig mit den Augen. »Sondern auch für Beziehungen. Das hab ich dir schon vor Tagen gesagt, aber du lernst eben nicht besonders schnell, was?«
»Tja, also, ich …«, begann ich.
Aber sie fiel mir ins Wort. »Darum geht es jetzt ja auch gar nicht. Es geht um uns. Und wir lieben uns und wollen Freunde sein, klarer Fall, obwohl wir alles immer komplett anders sehen als die andere. Wir sind die Profis.« Sie sagte den letzten Satz voller Stolz und mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht, das sich unweigerlich auf mich übertrug. Wir waren die Profis. Wir waren unerschütterlich. Ich lehnte mich zu ihr hinüber und schlang meine Arme um ihren Hals. Betty tätschelte mir den Kopf. »Du bist so kitschig manchmal. Das ist fast schon widerlich.«
»Du bist doch diejenige, die hier die ganze Zeit von Liebe redet.«
»Weil ich sonst immer von Sex rede, Schätzelein, deswegen hat das einen guten Effekt. Oder?«
Ich wollte darauf gerade antworten, als eine besonders wütende Welle mir den Sandboden unter den Füßen wegzog und ich wieder umfiel und Betty dieses Mal mit mir riss. Wasser und Haare überall, verknotete Beine und mindestens drei blaue Flecken. Betty jammerte, weil ich sie teilweise unter mir begraben hatte. Ich rappelte mich auf, so schnell es ging, und hielt ihr eine Hand hin, um sie hochzuziehen. Sie warf mir einen gespielt bösen Blick zu, ließ sich dann aber doch auf die Beine helfen.
»Das hast du jetzt davon«, sagte sie.
»Tut mir leid.« Atemlos, aber trotzdem lachend wischte ich mir den Sand von der Haut.
»Dir wird noch so einiges leidtun.« Betty klang plötzlich ernst, und als ich sie ansah, um mich zu vergewissern, dass sie nur einen Witz machte, erkannte ich, dass dem nicht so war. Ihr Gesicht war frei von jedem Lächeln. »Ich hab keinen Bock, das immer wieder durchzukauen, deswegen sage ich es dir jetzt noch dieses eine letzte Mal: Wenn du Richard mit Felix betrügst, wirst du das bereuen. Früher oder später.«
»Ich habe nicht vor, Richard zu betrügen.«
»Glaub mir, ich weiß sehr gut, was so alles passieren kann, auch wenn man sich vornimmt, dass es nicht passiert. Und als Freundin muss ich dich darauf hinweisen. Das wäre hiermit erledigt. Und noch eine Sache: Ich bin ich.«
Ich wartete, dass sie diese relativ offensichtliche Aussage näher ausführte, aber das tat sie nicht, also hakte ich nach. »Und?«
»Nichts und, das ist es ja eben. Schlimm genug, dass Richard sich deiner Meinung nach bis zum Genickbruch verbiegen muss, damit er in deine Freund-Schablone passt. Aber ich tu das nicht. Ich geb mir keine Mühe, damit ich in deinem Leben die beste Freundin spielen darf. Ich bin ich, und du kannst dich immer auf mich verlassen. Also hör gefälligst auf, mich unter Druck zu setzen mit deinem ständigen Gemaule.« Ich starrte Betty mit offenem Mund an. Sie klatschte in die Hände und knipste ihr Grinsen an. »So! Und ab jetzt gilt wieder die andere Regel.«
»Welche andere Regel?« Mir ging das hier alles zu schnell. Dieses Gespräch war die reinste Achterbahnfahrt.
»Welche andere Regel?«, äffte sie mich nach. »Na, die andere Regel. Die Regel Nummer eins. ›Im Urlaub soll jeder machen, was er will‹, egal was. Das gilt auch für dich. Insofern«, sie machte ein bedauerndes Gesicht, »muss ich dich wohl oder übel machen lassen, was du willst. Auch wenn es beschissen ist.«
Es nervte mich sofort, dass Betty die Sache mit Felix ab jetzt wegen dieser albernen Urlaubsregel unter den Tisch fallen lassen wollte. Natürlich hatte ich genauso wenig Lust, mich deswegen den Rest unserer Reise mit ihr zu streiten, aber es hätte mir geholfen, wenn sie sich etwas mehr Mühe damit gegeben hätte, sich in meine Lage zu versetzen.
Ich sagte aber nichts weiter dazu, zumal uns in diesem Moment Marco vom Strand her entgegenspaziert kam. Er sah erleichtert aus. »Alles wieder gut bei euch? Na, Gott sei Dank.« Er watete die paar Meter durchs Wasser zu uns her und integrierte sich in unsere Rentnerrunde. »Dann ist mein geheimer Versöhnungsplan ja gar nicht mehr nötig.«
»Du hast einen geheimen Versöhnungsplan? Für Betty und mich?« Das fand ich irgendwie rührend.
»Klar. Ich kann diese Missstimmung in der Reisegruppe nicht ertragen. Da dachte ich mir, wenn ihr beiden nicht in der Lage dazu seid, euch zusammenzuraufen, dann rauf ich euch eben zusammen.«
Betty legte interessiert den Kopf schief. »Und da hattest du dir was genau überlegt?«
»Na ja …« Auf Marcos Gesicht machte sich ein durchtriebenes Grinsen breit, das den Eindruck vermittelte, dass möglicherweise er an diesem ominösen Versöhnungsplan die größte Freude haben würde. »Ich bin heute Morgen in Lagos an einem Plakat für eine Veranstaltung vorbeigekommen, die heute Abend in einer Diskothek am Hafen stattfindet. Perfekt für einen Mädelsabend.« Er setzte beim letzten Wort mit seinen Zeigefingern kleine Anführungsstriche in den knallblauen, portugiesischen Himmel. »Ich hab natürlich sofort Karten für uns alle gekauft. Gemeinsame Erlebnisse schweißen ja schließlich zusammen, gell?«
»Mädelsabend?« Betty betrachtete ihn argwöhnisch. »Ich will gar nicht wissen, was du unter einem Mädelsabend verstehst, Schnuppi. Live-Pediküre mit Slayer, oder was?«
»Besser.«
»Die Schauspieler von Remedio Santo kommen für eine Autogrammstunde in die Stadt? Oder … Nein! Bitte sag nicht, dass irgendeine Laienspielgruppe Mamma Mia aufführt.« Ich warf Marco einen flehenden Blick zu. »Ich meine … Lucy wäre begeistert. Aber ich kann damit echt nichts anfangen, tut mir leid.«
Marco schüttelte den Kopf. Er war kurz davor loszulachen. »Nein. Aber fast. Nur besser.«
»Ich hab keine Ahnung.«
»Jetzt sag schon!«, drängelte Betty.
»Okay. Haltet euch fest!« Marco legte jeder von uns einen Arm um die Schulter und zog uns an sich heran. Ein kleines Prusten kam ihm über die Lippen, bevor er verschwörerisch flüsterte: »Kennt ihr die Chippendales?«