18

Der Teil mit Boys, Boys, Boys

BETTYS MIXTAPE

Reel Big Fish – I Want Your Girlfriend To Be My Girlfriend

Natürlich waren es nicht die Chippendales, die sich an diesem Abend in Lagos diverse Male die Kleider vom Leib reißen würden, sondern eine billigere Version davon namens Gentle Men. Ein naheliegendes Wortspiel, mit dem die gut gebauten Herren, die uns von den Plakaten am Eingang entgegenblickten, es vielleicht weit bringen würden. Oder eben nicht.

In der klimatisierten Disko: Frauen, überall Frauen. Ein einziger großer Mädelsabend. Und dazwischen Marco. Obwohl er offensichtlich gar kein Mädel war. Als wir uns an den Tisch setzten, der zu unseren Platzkarten gehörte, wurde er von den umsitzenden Damen mit forschenden Blicken bedacht. War dies einer der Gentle Men inkognito? Aber ein Blick auf Marcos wenig trainierte Statur unter dem Guns’N’Roses-T-Shirt beantwortete die Frage von selbst. Die einzige Erklärung für seine Anwesenheit konnte also nur eine verlorene Wette sein.

Doch weit gefehlt. Marco war freiwillig hier: »Ist doch lustig!« Bisher war er aber der Einzige in unserer Gruppe, der das so sah.

Ich hatte noch nie zuvor eine derartige Veranstaltung besucht und hatte es auch noch nie in Betracht gezogen. Ich sah keinen Sinn darin, Männern beim Entkleiden zu Musik zuzusehen. Ich ging lieber ins Kino.

Lucy war anzusehen, dass ihr das, was gleich kommen würde, jetzt schon mehr als unangenehm war. Sie machte sich auf ihrem Stuhl so klein wie möglich und war so nah daran, tatsächlich im Erdboden zu versinken wie wahrscheinlich noch kein anderer Mensch vor ihr.

»Fünfzehn Euro für einen Caipi?« Betty knallte empört die Getränkekarte auf den Tisch. »Fünfzehn?!«

Ana war gar nicht erst erschienen und hatte sich damit rausgeredet, dass ihr Vater sie im Kloster abgeben und nie wieder abholen würde, wenn er erfuhr, dass sie strippenden Männern bei der Arbeit zugeschaut hatte – Portugal war nun einmal ein katholisches Land.

Aber Anas Fehlen fiel nicht negativ ins Gewicht. Es waren genug andere Gäste gekommen, der Saal war voll.

Das Publikum bestand aus Frauen jeden Alters, die weder religiöse noch moralische oder finanzielle Bedenken bei diesem frivolen Vergnügen hatten. Des Weiteren hatten die meisten von ihnen eine Vorliebe für Teleshop-Oberteile mit Glitzerapplikationen gemeinsam, die für sie anscheinend das perfekte Outfit für besondere Anlässe wie diesen darstellten. Einmal übergeworfen, immer glänzend angezogen. Oder so. Es gab auch viele Bauchtaschen zu sehen, körpernahe und solche, die abgeschnallt auf Tischen lagen. Aber nicht jede Frau hatte sich so ins Zeug gelegt. Betty zum Beispiel hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, sich nach dem Tag am Strand umzuziehen, und trug noch immer ihren Bikini unter dem Schlabber-T-Shirt, dazu Flip-Flops und Sand in den Hautfalten. Ich hatte immerhin eines meiner wenigen noch nicht durchgeschwitzten Kleider angezogen, allerdings nicht um für die Gentle Men gut auszusehen, sondern weil ich im Anschluss an diese Veranstaltung schließlich noch einen weiteren Termin hatte. Eine unverfängliche Verabredung, kein Date! Um das ein für alle Mal klarzustellen.

In dem Programmheftchen, das am Eingang verteilt worden war und in dem Marco jetzt schon seit mehreren Minuten aufmerksam blätterte, präsentierten sich die Gentle Men von ihrer besten Seite. Also nackt. Zumindest oben herum.

»Na, Schnuppi? Gefällt dir das?« Nachdem sie zähneknirschend ihren Drink bei einem der Kellner bezahlt hatte, rutschte Betty näher an Marco heran und studierte interessiert die aufgeschlagene Seite.

Auch Lucy warf einen scheuen Blick auf die Bilder, nur um bereits wenige Sekunden später wieder wegzuschauen und verständnislos den Kopf zu schütteln. »Ich mag das nicht. Diese ganzen Muskeln überall. Das ist nicht schön.«

Mit einem lauten Schlürfen zog Betty ihren Drink durch den Strohhalm. »Tja, Lucinda, ich befürchte, dann wirst du hier heute nicht auf deine Kosten kommen. Solche Typen wie Hannes haben die hier nicht im Repertoire.«

Das H-Wort. Ich warf Lucy einen erschrockenen Blick zu und wartete auf die Transformation. In wenigen Augenblicken würde sie wie eine Furie mit geballten Fäusten und hochrotem Kopf aus diesem Saal stapfen.

Doch ich wurde überrascht. Lucy versteifte sich zwar etwas auf ihrem Stuhl, aber ansonsten ließ sie sich nichts anmerken. Zunächst. Bis sie nach Bettys überteuertem Drink griff. »Darf ich?«

»Aber du trinkst doch keinen Al…«

»Ich hab Durst!« Trotzig zog sie mit voller Kraft an dem Strohhalm, bis nur noch das Crushed Ice übrig war. Dann schob sie Betty das leere Glas über den Tisch zu. »Danke.«

»Keine Ursache«, antwortete Betty baff. »Das war mir die fünfzehn Euro wert. Noch einen?«

»Besser nicht«, schaltete ich mich ein.

»Doch!« Lucys Augen funkelten herausfordernd.

»Ich steh auf Sixpacks!« Marco hielt das Programmheft hoch und zeigte auf einen besonders gut trainierten Gentle Man.

Wahrscheinlich wollte er nur das Thema wechseln. Aber diese Wortwahl … Betty und ich starrten ihn gleichzeitig wie auf ein Kommando an. »Du stehst auf Sixpacks?«

Marco warf mir einen Blick zu, den ich nur kurz wahrnehmen, aber nicht deuten konnte, bevor es im Saal stockfinster wurde.

Ein kleiner Scheinwerfer wurde angeschmissen und leuchtete den Samtvorhang vor der Bühne an. Eine Stimme dröhnte durch die Lautsprecher und begrüßte mit starkem amerikanischem Akzent die Gäste: »Ladies! Welcome and enjoy the show. Tonight here for your pleasure only: The Gentle Men!«

Eine Woge der Begeisterung und des Kreischens ging durch das Publikum, als der Vorhang sich öffnete und fünf Polizisten offenbarte, die Po wackelnd und ihre Hüften schwingend zu den Klängen von »It’s Getting Hot In Here« an ihren Gürteln herumnestelten.

Betty glotzte mit offenem Mund, Lucy rutschte immer tiefer unter die Tischplatte, ich selbst versteckte mich hinter der Getränkekarte. Mein Problem waren nicht die strippenden Männer. Oder die kreischenden Frauen. Oder die schlimmen Klischee-Kostüme. Es war die Tatsache, dass ich bei diesem peinlichen Spektakel anwesend war. Ich murmelte »Hilfe«, aber statt Hilfe kam der Kellner, der Lucy und Betty ihre Drinks brachte. Der Einzige an unserem Tisch, der ganz entspannt dem Geschehen auf der Bühne folgte, als würde er an der Uni einem Vortrag über Plattentektonik lauschen, war Marco. Aber der stand ja auch auf Sixpacks – wie auch immer er das gemeint hatte.

Eine neue Kreischwelle. Die Polizistenhosen wurden in einer synchronen Bewegung von den Körpern gerissen. Jeweils einen Tanga und eine Polizeimütze, mehr hatten die Stripper nicht mehr an. Das Lied neigte sich dem Ende zu, das große Finale nahte. In Sekundenschnelle waren auch die Tangas Geschichte. Und da standen sie nun, in ihrer vollen Pracht: fünf Sixpacks mit Polizeimützen vor ihrem Gemächt.

Das Publikum applaudierte und schrie vor Vergnügen. Manche Frauen pfiffen auf zwei Fingern. Ich sah Betty über den Rand der Getränkekarte hinweg an, meine Lippen formten die Worte: »Oh. Mein. Gott.«

Betty zeigte auf die Bühne, auf ihren eigenen Bauch und drehte beifällig nickend den Daumen nach oben. Noch jemand also, der auf Sixpacks stand.

Ich weiß auch nicht, wie das passieren konnte, aber fünfzehn Minuten und drei Showeinlagen später, in denen die Gentle Men ihre Cowboy-, Matrosen- und Feuerwehrmannkostüme an- und sofort wieder ausgezogen hatten, standen wir. Alle. Betty, Lucy, Marco, ich standen gemeinsam mit den Teleshop-Frauen und klatschten im Takt, eine große, glückliche Familie von Sixpack-Fans. Es war ein bisschen so wie beim Musikantenstadl, nur nackter.

Während die Männer mit den freien Oberkörpern durch das Publikum liefen und mal hier einer Dame einen Kuss auf die Wange gaben, und dann wieder dort mit einer ein Tänzchen wagten, bei dem sich in erster Linie die Körpermitten berührten, hatte ich glühende Wangen und lachte und lachte. Auch dann noch, als ich den heißen, schnellen Kaugummi-Atem eines Gentle Man im Nacken spürte, der mir seine Hand auf die Hüfte legte und sie bewegte, als gehörte sie ihm. Das war eigentlich das Schlimmste, was ich mir vorstellen konnte. Aber in diesem Moment auch das Lustigste. Lucy kreischte so laut, als wäre gerade Robert Pattinson persönlich an unserem Tisch erschienen. Das musste das Remscheid-Gen sein. Sie war völlig aus dem Häuschen.

Das fiel auch dem südländisch aussehenden halb nackten Mann auf, der gerade mit den Fingern durch Marcos Haar gefahren war, um dann erschrocken festzustellen, dass es sich bei dieser Person nicht um eine leicht übergewichtige Frau handelte. Vielleicht wollte er die seltsame Situation deswegen möglichst schnell überbrücken, jedenfalls nahm der Gentle Man Lucy plötzlich an die Hand, zog sie mit sich durch die Menge klatschender Frauen, die es vollkommen neidlos unterstützten, dass eine andere als sie selbst Teil der Show sein sollte, denn Lucy war eine von ihnen, und dass sie auserwählt worden war, machte Hoffnung darauf, selbst die Nächste sein zu dürfen.

Wenige Augenblicke später fand Lucy sich im gleißenden Scheinwerferlicht auf einem Stuhl auf der Bühne wieder. Ihr Gesicht hatte die Farbe von Klatschmohn. Sie hielt sich atemlos die Hände vor den Mund. Die Musik startete, zwei Bauarbeiter betraten von links und rechts die Bühne, gaben ein paar halbherzige Tanzbewegungen zum Besten und positionierten sich neben dem Stuhl, auf dem Lucy saß. Das Publikum tobte, als der eine begann, seine Latzhose abzuschnallen. Leider stand er jetzt direkt vor Lucy, sodass wir ihr Gesicht nicht sehen konnten. Aber wir hörten ihren Schrei, als er sich zu ihr umdrehte, ihre Hände nahm und sie auf seinem Po platzierte.

»Unglaublich«, war alles, was ich sagen konnte.

»Allerdings.« Betty lehnte sich über den Tisch zu mir herüber, damit ich sie besser verstehen konnte, ließ dabei die Bühne und Lucy aber nicht aus den Augen. »Jetzt ist es schon wieder passiert. Schau dir all diese Frauen hier an. Und wen sucht der Kerl sich aus? Lucinda.« Sie klatschte und schüttelte gleichzeitig den Kopf. »Wie macht die Frau das nur?«

Alkohol und Männer, dachte ich. Wenn Betty nur wüsste … Ich fragte mich, wie Lucy sich wohl fühlen würde, wenn das hier vorbei war.

Während der eine Tänzer sie dazu animierte, ihm über seinen gestählten Bauch zu streicheln, war der andere schon wieder fast nackt, bis auf den obligatorischen Tanga und die Kopfbedeckung, die anscheinend immer dazu gehörte. In diesem Fall handelte es sich dabei natürlich um einen Sicherheitshelm. Er löste seinen Kollegen am Stuhl ab, damit dieser in Sachen Ausziehen aufholen konnte, und begann eine Art Lapdance, indem er rubbelnde Bewegungen auf Lucys Oberschenkeln ausführte. Ich begann, mir Sorgen zu machen. Ich konnte nichts von ihrem Gesicht ablesen. Seit sie von unserem Tisch entführt worden war, lag darauf unverändert ein hysterisches Grinsen, das alles bedeuten konnte. Entweder hatte sie gerade die Zeit ihres Lebens, oder sie war kurz davor, in Panik auszubrechen, zu hyperventilieren und tot von ihrem Stuhl zu fallen. Selbstverständlich hoffte ich inständig, dass Ersteres der Fall war.

Zum Abschluss der Showeinlage stellten sich beide Gentle Men mit dem Rücken zum Publikum vor Lucy auf. Sie bewegten noch ein wenig die Hüften hin und her, bis die Musik mit einem großen Knall zu ihrem Ende kam, und auch sie kamen zum Ende. Zum Ende der Show. Indem sie sich gleichzeitig ihrer Unterwäsche entledigten. Auf drei. Und da saßen nun wir anderen an unseren Tischen und sahen zwei durchtrainierte Hintern. Und da vorn saß Lucy und war die Einzige, die die Frontansicht genießen durfte. Wenn Genuss überhaupt das richtige Wort dafür war. Ein letzter Schrei entfuhr ihr, sie schlug sich die Hände vors Gesicht, und einer der Männer, den Helm lässig vor sich her tragend, nahm ihre Hand und führte sie von der Bühne. Der andere trug den Stuhl hinterher. Das Licht ging aus.

Es begann alles mit dem obligatorischen »Und? Was machst du jetzt so?«.

Felix machte nicht viel anderes als vor drei Jahren. Er arbeitete noch immer in derselben Firma. Inzwischen war er allerdings mehrmals befördert worden und verdiente so gut, dass es ihm a) fast peinlich war und er b) eine Eigentumswohnung in Hamburg hatte kaufen können.

»Welche Ecke?«, fragte ich und versuchte mich unbeeindruckt zu zeigen.

»Winterhude.«

»Ach so, deswegen sehen wir uns nie.« Er war mir voraus. Im Gegensatz zu ihm hatte ich nur einen Job. Keine Karriere. Ich trieb mich noch immer in Kneipen und Clubs auf St. Pauli herum und lebte zu einer extrem günstigen Miete in einem Renovierungsobjekt am Hafen, das dem Hippie-Freund meines Freundes gehörte und in dem es noch immer nach Räucherstäbchen und Marihuana roch. Felix hatte sich perfekt eingerichtet, um die nächste Phase seines Lebens in Angriff zu nehmen. Ehe, Kinder, ein bisschen Ruhe reinbringen. Er brauchte nur die richtige Frau, die er in seine hübsche, geschmackvoll eingerichtete Eigentumswohnung setzen und mit der er dann vollkommen sorglos eine Familie gründen konnte. Wenn ich mir das vorstellte, kamen die Bilder, die ich sah, direkt aus einer Werbung für Geflügelwurst. Oder Fruchtjoghurt. Eine schöne, gesunde, glückliche Familie beim sommerlichen Sonntagsfrühstück in einer großen, lichtdurchfluteten Küche. Wenn ich an mein Leben mit Richard dachte, sah ich nur eine fleckige graue Wand. Das Symbol dafür, dass es in unserer Beziehung so viele Baustellen gab, dass unklar war, ob wir das Thema Familiengründung überhaupt jemals wieder anreißen würden. Oder ob wir nicht eher unsere Plattensammlungen wieder auseinandersortieren sollten.

»Und du?«

»Ich was?«, fragte ich, und musste mich erst wieder daran erinnern, worum sich das Gespräch eben noch gedreht hatte. Wohnorte. »Ach so … Pauli. In der Nähe vom Hafen.«

»Nicht mehr in Eppendorf?«

»Nein.« Verdammt, ich hatte gewusst, dass ich irgendwann bereuen würde, das Neureichenviertel verlassen zu haben. In meinem Alter zog man da nicht mehr weg. Schon gar nicht auf den Kiez.

»Allein?«, fragte Felix.

Tja, und das, dachte ich, ist die Frage, deren Antwort den Fortlauf dieses Gesprächs bestimmen wird.

Sollte ich Richard leugnen? Mit großer Wahrscheinlichkeit lief es doch ohnehin darauf hinaus, dass wir uns trennen würden, sobald ich wieder zu Hause war. Auf der anderen Seite wäre das natürlich wirklich das Letzte. Eine fette Lüge. Und wozu? Um meinem Exfreund zu gefallen? Das wäre jämmerlich. Außerdem hatte ich ja keine Hintergedanken bei diesem Treffen, es war kein Date, ich wollte nichts anderes, als mich einfach ein bisschen unterhalten. Über alte und neue Zeiten quatschen. Ganz unschuldig. Also raus mit der Wahrheit. »Nein, ich wohn da mit meinem Freund.« Ich beobachtete Felix’ Gesicht, wartete auf eine Reaktion. Sein Mundwinkel zuckte. Was hatte das zu bedeuten? Ich ruderte zurück. »Aber es läuft nicht gut im Moment, also, schon seit einer Weile …« Jämmerlich. Absolut jämmerlich. Am liebsten hätte ich mir auf die Zunge gebissen. Wer bitte gab solche Dinge im ersten Gespräch seit Jahren mit dem Exfreund freiwillig zu?

Aber die Antwort war weder hämisch noch schadenfroh. Felix nickte, und das sehr verständnisvoll, und sagte: »Kenn ich. Mit meiner Freundin ist seit zwei Monaten Schluss. Wir wollten eigentlich zusammen hier Urlaub machen. Wir haben damals die Reise gebucht, weil wir dachten, wenn wir mal ein bisschen mehr Zeit füreinander hätten, ganz entspannt, in der Sonne, am Meer …« Er zuckte mit den Schultern.

Ich spürte einen Stich und identifizierte ihn als Eifersucht. Wo die nach all den Jahren herkam, konnte ich mir nicht erklären. Aber sie war da. Alte Besitzansprüche vermutlich. »Wie heißt sie denn?«, fragte ich möglichst neutral.

»Eva.«

Ts! Eva. Die erste Frau. Von wegen.

»Wir waren ein Jahr zusammen, aber es wurde immer holpriger, und wir haben uns einfach nicht mehr vertragen. Einer war immer von dem anderen genervt, und wir kamen gar nicht mehr hinterher mit den Versöhnungen.«

Jetzt war ich an der Reihe, verständnisvoll zu nicken. »Genauso ist es bei mir und Richard auch.«

Felix malte nachdenklich mit dem Finger den Schriftzug auf seinem Bierglas nach. »Manchmal passt es einfach nicht. Egal, wie sehr man es sich wünscht.«

Ich musste schlucken. Aber mein Mund war trocken. Also half ich mit einem großen Schluck Cuba Libre nach. Die Bar, auf deren Terrasse wir saßen, war sehr schick und sehr teuer und bot einen einmaligen Blick auf den Hafen von Lagos. Im Hintergrund lief leise vor sich hin gluckernde House-Musik, und die anderen Gäste waren sehr edel angezogen und saßen auf weißen Lederhockern. Das war eigentlich nicht mein Ambiente. Das war eine andere Welt. Felix’ Welt. Wobei nicht ausgeschlossen war, dass ich mich daran gewöhnen könnte.

»Ich bin froh, dass ich dich hier zufällig getroffen habe«, sagte er plötzlich. »Kommt mir ein bisschen vor, als wäre es …«

»Ein Zeichen?«

Felix lächelte sein Lächeln, das ich immer schon gemocht hatte. »Oder Schicksal. Klingt albern, was?«

»Nein!«, beeilte ich mich zu sagen. Ich wusste, wohin das führen würde. Ich ermutigte ihn und war mir dessen zu hundert Prozent bewusst. Ich wollte, dass er weitermachte, auch wenn ich ihm dann folgen musste, dorthin, wo ich nicht sein durfte. »Ich hab auch schon gedacht …« Ich sprach nicht weiter, weil ich eigentlich die ganze Zeit etwas ganz anderes gedacht hatte. Dass ich es gar nicht so weit kommen lassen durfte. Das hatte ich gedacht. Dass ich stark genug war, dieses Treffen gar nicht erst zu einer Gefahr werden zu lassen. Dass das hier alles war, nur KEIN DATE! Aber Denken hatte plötzlich keine Priorität mehr.

Felix sah mir tief in die Augen, so tief, dass es fast schon unangenehm war. »Ich war ein kompletter Vollidiot damals. Keine Ahnung, was mit mir los war, wahrscheinlich war ich noch zu jung und blöd.« Er berührte meine Finger, ganz leicht, wie zufällig, und sah mich mit einem ernsthaften Ausdruck im Gesicht an, der jegliche Zweifel an der Glaubwürdigkeit dessen, was er als Nächstes sagen würde, sofort im Keim erstickte. »Daphne, seit wir uns getrennt haben, frage ich mich ständig, ob es nicht der größte Fehler meines Lebens war, das zuzulassen. Ich habe seitdem keine Frau mehr getroffen, für die ich das empfinden konnte, was ich für dich empfunden habe …«

»Auch nicht für Eva?« Ich versuchte, es wie einen Witz klingen zu lassen, der die Situation auflockern sollte. Redete ich mir ein. Aber sich selbst verarschen ist irgendwie die erbärmlichste Form des Verarschtwerdens.

Felix schüttelte verlegen lächelnd den Kopf. »Nein, auch nicht Eva.«

Ha, Eva, nimm das!

Fast unmerklich krochen seine Finger über meine, den Handrücken hinauf, und er umfasste meine Hand mit seiner. »Und, na ja …«

In meinem Kopf zuckten Blitze, als wäre dort ein kleines, stilles Feuerwerk im Gang. Ich wusste, ich hätte hinterfragen sollen, wie es dann sein konnte, dass er all die Jahre nicht versucht hatte, mit mir in Kontakt zu kommen. Dass es eines seltsamen Zufalls bedurft hatte, damit wir dieses Gespräch führten. Aber ich redete mir lieber ein, dass das eben eine Geschichte war, wie sie das Leben schrieb.

Seine Hand hielt meine fester. »Ich weiß, ich bin spät dran damit, aber ich bin froh, jetzt die Chance zu haben zu sagen: Es tut mir leid.«

»Ich … äh … Danke?« Ich befreite mich von seinem Griff und leerte mein Glas in einem Zug. »Wollen wir spazieren gehen?«, fragte ich.

Er nickte. »Gern.«

Die Nacht war warm und absolut windstill. Wie es sich für eine touristische Kleinstadt im Süden gehörte, waren die Straßen auch jetzt noch voller Leben. Ein wilder Mix aus verschiedenen Musikstilen drang aus den Bars, deren Lichter gelb und gemütlich die Gassen erleuchteten. Betrunkene Menschen redeten durcheinander, lachten, und manche sangen leider auch. Felix und ich gingen ziellos nebeneinander her, und er erzählte von seinem Leben in den letzten drei Jahren, von Reisen, die er unternommen hatte, Menschen, die er kennengelernt hatte, und auch von dieser Eva. Spätestens als er bei diesem Thema angekommen war, schaltete ich ab und folgte meinen eigenen Gedanken.

Ob es nun ein Zeichen war oder Schicksal, ich konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass es kein Zufall war, dass ich Felix hier über den Weg gelaufen war. Das alles kam mir vor wie ein Test. Keiner dieser peinlichen Treuetests, die man manchmal in den Boulevardnachrichten im Privatfernsehen sieht, sondern ein Test nur für mich gemacht, um zu prüfen, wie sehr ich mich Richard überhaupt noch verpflichtet fühlte. Mir schoss auch der Gedanke durch den Kopf, dass diese ganze Reise vielleicht einzig und allein diesem Zweck gedient hatte … Aber das ging dann doch ein bisschen zu weit. Oder nicht?

Ich fühlte tief in mich hinein und nahm auch diese mahnende Stimme wahr, die mich zumindest daran erinnerte, dass es so oder so menschlich absolut inakzeptabel war, mit Felix weiterzugehen als bis hier – und das war nicht geografisch gemeint. Ich wusste, dass diese Nacht das Potenzial hatte, auf direktem Weg in eine riesige Katastrophe zu führen, davor hätte mich Betty gar nicht zu warnen brauchen, ich war ja nicht blöd. Aber vielleicht erwartete mich am Ende dieses Weges ja auch gar keine Katastrophe. Und woher sollte ich das wissen, wenn ich nicht nachsah?

Felix nahm meine Hand. Die Berührung kam so unerwartet, dass ich zusammenschrak und fast entsetzt auf den Knoten hinunterblickte, den unsere Finger bildeten.

»Hab ich dich erschreckt?«, fragte er.

Ein bisschen. »Ich war mit den Gedanken woanders.«

»Bei deinem Freund?«

Nicht direkt bei ihm. Wenn ich bei Richard gewesen wäre, dann hielte ich jetzt nicht Felix’ Hand. Vielleicht war das das Problem. Richard und ich waren schon sehr lange nicht mehr »beieinander« gewesen. Und auch das war wieder nicht geografisch gemeint. Wir hatten uns genau genommen schon an verschiedenen Orten aufgehalten, als wir noch nebeneinander in unserem gemeinsamen Bett in Hamburg geschlafen hatten. Irgendwie war die Nähe nicht mehr da. Und wo keine Nähe war, war viel leerer Raum, in den sich andere Menschen drängeln konnten. Menschen wie Felix. Und auch wenn es falsch war, war es ein schönes Gefühl, wenn die Leere ausgefüllt wurde. Ich schaute auf den Boden und erwiderte nichts.

»Entschuldige«, sagte Felix. »Hätte ich das nicht sagen sollen?«

»Kennst du das, wenn eine Situation so verfahren ist, dass du jegliches Gefühl dafür verlierst, was richtig und was falsch ist?«, fragte ich ihn statt einer Antwort. »Wenn du denkst, dass du unfair zu dir selber sein musst, wenn du fair gegenüber anderen sein willst?«

Ein angestrengtes Stirnrunzeln von Felix ließ mich zuerst vermuten, dass er in diesem Moment abwog, ob es noch Sinn machte, mit mir weiterzugehen, oder ob ich so verkorkst war, dass der Rest der Nacht eher nervige Diskussionen als Spaß zu zweit bereithielt. Vielleicht beschloss er, es einfach drauf ankommen zu lassen, denn seine Züge entspannten sich kurz darauf, und er nickte, ohne mich anzusehen. »Ja. Das kenn ich. So hab ich mich gefühlt, bevor ich mit Eva Schluss gemacht habe. Man steht kurz vorm Wahnsinn und weiß sich nicht mehr zu helfen. Dann macht man diesen Schnitt«, er zog seine Hand waagerecht durch die Luft, »und plötzlich ist alles klar. Wie blauer Himmel nach einem Unwetter.«

»Schnitte tun weh.«

»Aber in manchen Situationen sind sie den Schmerz wert.«

Keine Ahnung, ob er die Wahrheit sagte oder das alles nur eine sehr schlaue Taktik war, sich unter dem Deckmantel des Verständnisses an mich ranzuschmeißen. Aber seine Worte hatten den Effekt, dass ich mich auf einmal nach nichts mehr sehnte, als diesen Schnitt, von dem er sprach, in meinem eigenen Leben vorzunehmen. Damit endlich das Durcheinander in meinem Kopf verschwand, das stetig größer wurde, wie ein Staubball unterm Bett. Damit ich neu anfangen konnte. Wie auch immer. »Und was ist das hier?«, fragte ich und hielt meine und damit auch seine Hand in die Höhe.

»Wir halten uns fest?«

Ich verdrehte die Augen. »Du weißt, dass ich einen Freund habe. Ich darf nicht Händchen haltend mit dir durch die Gegend laufen.«

»Warum denn nicht? Viele Menschen halten Händchen.«

»Aber du bist mein Exfreund! Da ist was zwischen uns …«

»Ja?« Felix grinste mich frech an.

Ertappt. »Jetzt tu nicht so, als wüsstest du nicht, was ich meine!« Ich stampfte leicht mit dem Fuß auf.

Zwei Frauen, Mitte vierzig, wohlgenährt, in bunten, langen Teleshop-Oberteilen kamen uns auf der Straße entgegen und verlangsamten ihren Schritt in neugieriger Erwartung eines Pärchenstreits. Endlich mal was los in Lagos! Aber sie lagen in doppelter Hinsicht falsch. Es gab keinen Streit. Und wir waren kein Pärchen.

»Ich habe einen Freund. Und das, was wir hier machen, ist falsch. Das fühlt sich an wie Betrug.« So war es. Aber während ich das sagte, hielt ich nach wie vor Felix’ Hand, was die ganze Situation irgendwie absurd machte.

»Das hier ist deine Vorstellung von Betrug? Händchen halten? Wirklich?«, fragte Felix mich. Es klang amüsiert. »Und was ist mit deinem Freund? Du sagst, er ist nie für dich da, er enttäuscht dich regelmäßig, ihm sind ständig andere Dinge wichtiger als du …« Verdammt, hatte ich das wirklich erzählt? Das alles? Meinem Exfreund? Wäre meine Hand nicht so eng mit seiner verbunden gewesen, hätte ich in diesem Moment ganz gern mein Gesicht dahinter versteckt. »Ich meine«, fuhr Felix fort, »wenn er zulässt, dass du dich in eurer Beziehung so verlassen fühlst, ist er doch derjenige, der dich zuerst betrogen hat, oder?«

»Ich … äh …« So gesehen …

»Offensichtlich sieht er überhaupt keinen Grund, um dich zu kämpfen. Oder um euch. Und ein deutlicheres Zeichen gibt es ja wohl kaum dafür, dass er gar kein Interesse mehr an dir hat.«

»Das ist jetzt schon irgendwie ein bisschen hart …«

»Und ich sag dir noch was.« Felix glühte förmlich. Seine Hand war ganz heiß, sein Blick hielt meinen fest. »Dein Freund hat sie nicht mehr alle. Wenn du meine Freundin wärst …«

»War ich ja.« Ich wollte cool bleiben, cool klingen, ihn cool ansehen. Aber wann gelang es einem schon mal, cool zu sein, wenn man das unbedingt wollte?

»Ich weiß. Darauf will ich hinaus. Ich hab auch alles falsch gemacht. Und wenn ich jetzt noch eine Chance bekäme …«

»Was?!« Ich sah ihn entgeistert an. Und wünschte gleichzeitig, ich würde mich nicht so unendlich geschmeichelt fühlen, dass ich fast grinsen musste. Meine Mundwinkel zuckten schon.

»Daphne, ich weiß, dass das bescheuert klingt. Wir haben uns seit Jahren nicht gesehen, und jetzt treffen wir uns aus heiterem Himmel im Urlaub. Ich kann mir vorstellen, dass dir das alles seltsam vorkommt und du dir vielleicht nicht sicher bist, ob du mir trauen kannst …«

»Allerdings.« Es konnte nicht so leicht sein. Kaum gab es Probleme mit dem Mann, der der Richtige sein sollte, offenbarte mir das Schicksal (oder der Zufall) die einfachste Lösung einfach so. An der Sache musste ein fetter Haken sein. Ein noch fetterer als der offensichtliche, dass Felix wusste, wie man mir am effektivsten das Herz brach – und es bereits mehrmals getan hatte.

Er sah mich fast ein wenig verzweifelt an. »… aber irgendwie habe ich so ein Gefühl, was dich betrifft. Es fühlt sich einfach richtig an. Ich werde dir beweisen, dass ich es ernst meine. Ich werde mich hier und jetzt auf der Stelle so zum Affen machen, wie es kein Mann tun würde, der nicht zu hundert Prozent ehrliche Absichten hat.«

»Ziehst du dir jetzt einen Hello-Kitty-Schlafanzug an und tanzt den Macarena?«

»Nein.«

»Schade.«

Stattdessen kniete sich Felix in einer vollendeten Heiratsantragspose vor mich hin, was nicht fair war, weil das nicht nur für ihn sondern auch für mich äußerst peinlich war. Er griff nach meiner linken Hand (die rechte hielt er nach wie vor) sah mir tief und innig in die Augen und sagte: »Daphne, ich habe mich seit gestern Abend so sehr auf unser Treffen heute gefreut wie seit Jahren auf nichts anderes mehr. Als mir das bewusst wurde, habe ich mich nur noch gefragt, wie ich damals so blind sein konnte. Ich meine das absolut ernst: Du bist die Richtige für mich. Ich weiß es! Und ich wäre unendlich glücklich, wenn du es noch einmal mit mir versuchen würdest.«

An dieser Stelle fragte ich mich ernsthaft, ob ich halluzinierte. Dieser Eindruck verstärkte sich noch, als ich plötzlich begeisterte Pfiffe und Klatschen vom Straßenrand her wahrnahm. Ich wandte meinen Kopf und sah den höflichen Türken, seinen Bruder und die komplette Familie vor dem Café stehen. Die Frau des höflichen Türken wischte sich eine kleine Träne der Rührung aus dem Augenwinkel.

Mir wurde schlecht. Felix winkte.

»Also es ist doch Liebe!«, rief der höfliche Türke, während ein kleines Mädchen sich kichernd hinter seinem Bein versteckte. »Bravo!«

Erneuter Applaus brandete auf. Ich schüttelte kaum merklich den Kopf.

»Alles in Ordnung bei dir?«, fragte Felix.

»Sag mal, bist du betrunken?«, zischte ich ihm wütend entgegen.

Die Antwort war lediglich ein befreites Lachen. Der Bruder des höflichen Türken verschwand in seinem Café.

Zu sagen, dass diese Situation mich überforderte, wäre mehr als eine Untertreibung gewesen. Ich wartete darauf, dass ich aufwachte, musste aber einsehen, dass es sich bei diesem absurden Moment wohl bereits um die Realität handelte. Auch wenn das schwer zu glauben war. »Was erwartest du denn jetzt von mir?«, fragte ich Felix verzweifelt.

Seine Stimme ging in dem Tumult unter, der entstand, als der Bruder des höflichen Türken wieder aus seinem Café trat, ein Tablett mit Gläsern mit der einen Hand balancierend, in der anderen eine Flasche, und verkündete, dass es jetzt »Vinho do Porto para todos!« gäbe. Die Familie rief »Juhu!«. Passanten blieben stehen. Zuvor dunkle Fenster wurden hell erleuchtet.

»Was hast du gesagt?«

»Nichts«, erwiderte Felix. »Ich warte einfach ab.« Er entzog mir seine Hand, um sich beim Aufstehen auf dem Boden abzustützen. Aber er erhob sich nicht. Stattdessen tasteten seine Finger die dunkle Straße ab.

»Was ist?«, fragte ich ihn. Hinter uns im Café klirrten die Gläser, der höfliche Türke rief nach mir.

»Ich glaub, ich hab Geld gefunden.« Felix sah grinsend zu mir hoch. »Scheint fast so, als wär heute mein Glückstag.«